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Literatur


04.3



Geschichten

Max Dauthendey





Das Iguanodon VII


„Ich habe nichts anderes hier erwartet,“ rief Ulrike jetzt, gleichfalls schmollend. „Sie glauben, dass wir alle an Sonnenstichen leiden, und Sie legen uns eine Eiskompresse aufs Herz. Dafür bin ich Ihnen eigentlich doch dankbar. Sie leuchten wie ein Scheinwerfer in uns hinein und erzählen uns dann Märchen, die Sie in uns gesehen haben, wie ein Großpapa seinen Enkeln Gruseln macht. Und recht belehrende Märchen sind das, das muss ich sagen.“

Die Russin ereiferte sich aber und meinte:

„Jedenfalls ist die Gewitterstimmung hier zerstört. Ich bin dagegen, dass man die Menschen von ihren Handlungen, die sie tun müssten, durch solch haarsträubenden Anschauungsunterricht vom blinden Leidenschaftsweg abschreckt. Jetzt wird Ulrike sicherlich nicht heute Abend mit dem Offizier auf das Scheinwerferboot gehen wollen. Der Student und der Drogist sind durch Tod abgeschafft. Ich finde, der Erzähler solcher Märchen müsste jetzt wenigstens neue Menschen und neue Ereignisse herbeischaffen.

Denn damit, dass eine erzählte Geschichte aus ist, ist doch nicht das Leben der Zuhörer aus. Wir leben weiter und wollen erleben.“

„Hier kommt schon neues Leben,“ rief Ulrike.

Mit dem Wirt traten zum Gartentor zwei fremde Herren in den Garten herein. Sie trugen kleine Handtaschen, und der Wirt stellte uns die Herren im Vorübergehen als zwei italienische Ärzte vor, die für einige Wochen hier bleiben sollten, und die soeben erst mit dem Dampfschiff angekommen wären.

Wir hörten nur noch, wie die Herren zum Wirt sagten, sie wollten nur rasch ihre Hände waschen, und dann die Wiese aufsuchen und den Platz bezeichnen, wo die Krankenzelte aufgeschlagen werden sollten.

„Ja, ist denn eine Epidemie ausgebrochen?“ rief die Generalin, mit ihrem einen Auge belustigt zwinkernd, und richtete sich aufgeräumt aus ihren Schals und Mänteln empor.

Die Herren waren aber schon mit dem Wirt ins Haus getreten und hatten beim Geräusch der Schritte die Frage überhört.

Wir sahen einander verwundert an. Ich erinnerte mich, in der Zeitung gelesen zu haben, dass in Venedig Cholerafälle vorgekommen seien. Aber ich verschwieg es, um die Damen nicht zu erschrecken.

Jetzt kam Annunziata, das Dienstmädchen. Sie hatte am Gartentor dem Briefträger die Post abgenommen und brachte uns Zeitungen und Briefe. Dabei sagte sie geheimnisvoll:

„Die Dame, die heute morgen angekommen ist, ist sehr krank. Der Wirt hat gesagt, die Krankheit könne Cholera sein.“

„Da haben wir es, das Unglück,“ rief die Russin begeistert aus. „Ich packe sofort meine Koffer.“

Ulrike und ich lachten, und Ulrike sagte:

„Jetzt bekomme ich es, wie ich es gewollt habe. Jetzt werden alle mit mir abreisen. Wie froh ich bin, dass sich doch etwas Allgemeines ereignet, und dass meine Abreise nicht allein das Tagesereignis sein muss.“

Ich hatte inzwischen rasch die neue Zeitung aufgeschlagen und las, dass verschiedene Cholerafälle in Venedig und auch am Gardasee gemeldet waren. Ich schlug dann den Damen vor, zusammen noch einen letzten Abschiedsspaziergang nach den Wiesen zu machen, was die Damen auch gerne taten.

Draußen vor dem Ort, in der Nähe eines alten Pestfriedhofes, der jetzt wie ein harmloser Rosengarten zwischen prächtig düsteren Zypressen lag, trafen wir die beiden Ärzte, die den Arbeitern zusahen, welche dort ein großes vitriolgrünes Zelt errichteten.

Bei der Farbe des Zeltes musste ich an das Haus des vorsündflutlichen Tieres denken, das sich in meinem Traum aus dem See gereckt hatte und mit seiner Zunge in die Häuser eingedrungen war, aus denen es die Menschen einzeln herausgezogen hatte, um sie zu verschlingen. Bald würden hier Tragbahren ankommen. Bald würden die Häuser des kleinen Ortes einzelne ihrer Bewohner als Opfer der Cholera in dieses Zelt dem unerbittlichen Choleragespenst hingeben müssen.

Während wir noch dastanden, wurde schon auf einer verhüllten Bahre die erste Kranke aus dem Gasthaus, in dem wir wohnten, gebracht, die Dame, die mit ihrem Mann heute morgen aus Venedig angekommen war. Der Wirt mit seinem demütigen Eselsgesicht stand neben mir und stöhnte laut und hörbar, denn er wusste, jetzt würden seine Gäste fortziehen und alle Bewohner des Ortes sein Haus meiden. Und wer wusste es denn, ob nicht er und alle, die hier standen, bereits vom geheimnisvollen Choleratod gezeichnet waren?

Es war aber gar nicht mehr so leicht, dem Ort des Schreckens zu entfliehen. Die Dampfschiffe weigerten sich, in Limone anzulegen, und das Schiff, das die Ärzte gebracht hatte, war das letzte gewesen, das die Landungsbrücke berühren wollte.

In der Nacht, als der Mond, von einer dünnen Wolke in zwei Teile geteilt, über dem See und dem Monte Alto hing, stießen geheimnisvoll zwei Boote bei der Gartentüre des Gasthauses ab. In dem einen saß ich und ruderte Ulrike und unsere Koffer, da wir uns keinem Bootsmann vertrauen wollten. Im anderen Boot saßen die russische Generalin und der Mann der vor zwei Stunden gestorbenen Frau, der eine heillose Angst hatte und nicht einmal die Beerdigung seines toten Weibes hatte abwarten wollen. Dieses Boot ruderten die beiden Fischerknaben, da es schwer und mit den großen Koffern der Generalin beladen war.

Während der ganzen Nacht ruderten die Boote lautlos Seite an Seite, und als wir die Bucht von Limone verlassen hatten, war in der Dunkelheit nichts mehr von diesem Ort bei uns als der säuerliche Duft der Zitronenfrüchte, der uns aus den Säulengärten in der milden Nacht über das Wasser noch nachkam, lockend und verführerisch, wie ein lebendes Wesen, das auf den Wellen wandern kann, ohne zu versinken.

Aber der Scheinwerfer des Wachtbootes, der sonst die Nacht so unruhig machte, war in der Mondhelle, in welcher keiner zu schmuggeln wagte, auf der anderen Seite des Sees tätig, und er streifte drüben mit seinem weißen Strahl die vom Mondschatten verdunkelten Bergwände ab.

Als wir einige Zeit gerudert hatten, riefen die Fischerknaben vom anderen Boot mir zu:

„Jetzt sind wir über die Grenze gekommen. Jetzt sind wir auf österreichischem Seegebiet.“

„Jetzt sind wir bald in Freiburg,“ lachte Ulrike. Sie war im Geist längst nicht mehr auf dem See, sondern weit über den Alpen bei ihrem Bräutigam.

Ich aber war froh, dass wir dem Abenteuerherd entrannen, den ich vom ersten Augenblick an, als ich im Sturmwind in das kleine Wasserbassin von Limone hineingefegt worden war, beim Betreten des Landes mit allen Sinnen gewittert hatte.

Aber die Russin meinte, Abenteuerherde müsse es überall geben, denn sonst wäre das Leben eine Einöde. Und sie suchte begierig nach neuem Unglück.


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Textgrundlage: "Das Iguanadon" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden", Seite 281-359.

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Logo 196: "Bodensee", Margaret Hofheinz-Döring, 1964,
Quelle: Peter Mauch. Brigitte Mauch, der Nutzungsinhaber
dieses Werkes, veröffentlicht es hiermit unter der folgenden

Lizenz: CC 3.0
Namensnennung: Margret Hofheinz-Döring/
Galerie Brigitte Mauch Göppingen

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