Geschichten
Max Dauthendey
„Ich
habe nichts anderes hier erwartet,“ rief Ulrike
jetzt, gleichfalls schmollend. „Sie glauben, dass wir alle an
Sonnenstichen
leiden, und Sie legen uns eine Eiskompresse aufs Herz.
Dafür bin ich Ihnen eigentlich doch dankbar. Sie leuchten wie ein
Scheinwerfer
in uns hinein und erzählen uns dann Märchen, die Sie in uns gesehen
haben, wie
ein Großpapa seinen Enkeln Gruseln macht. Und recht belehrende Märchen
sind
das, das muss ich sagen.“
Die
Russin ereiferte sich aber und meinte:
„Jedenfalls
ist die Gewitterstimmung hier zerstört. Ich
bin dagegen, dass man die Menschen von ihren Handlungen, die sie tun
müssten,
durch solch haarsträubenden Anschauungsunterricht vom blinden
Leidenschaftsweg
abschreckt. Jetzt wird Ulrike sicherlich nicht heute Abend mit dem
Offizier auf
das Scheinwerferboot gehen wollen. Der Student und der Drogist sind
durch Tod
abgeschafft. Ich finde, der Erzähler solcher Märchen müsste jetzt
wenigstens
neue Menschen und neue Ereignisse herbeischaffen.
Denn damit, dass eine
erzählte Geschichte aus ist, ist doch nicht das Leben der Zuhörer aus.
Wir
leben weiter und wollen erleben.“
„Hier
kommt schon neues Leben,“ rief Ulrike.
Mit dem Wirt traten zum Gartentor zwei fremde Herren in
den Garten herein. Sie trugen kleine
Handtaschen, und der Wirt stellte uns die Herren im Vorübergehen als
zwei
italienische Ärzte vor, die für einige Wochen hier bleiben sollten, und
die
soeben erst mit dem Dampfschiff angekommen wären.
Wir hörten nur noch, wie die Herren zum Wirt sagten, sie
wollten nur rasch ihre Hände waschen, und dann die Wiese aufsuchen und
den
Platz bezeichnen, wo die Krankenzelte aufgeschlagen werden sollten.
„Ja, ist denn eine Epidemie ausgebrochen?“ rief die
Generalin, mit ihrem einen Auge belustigt zwinkernd, und richtete sich
aufgeräumt aus ihren Schals und Mänteln empor.
Die
Herren waren aber schon mit dem Wirt ins Haus
getreten und hatten beim Geräusch der Schritte die Frage überhört.
Wir
sahen einander verwundert an. Ich erinnerte mich, in
der Zeitung gelesen zu haben, dass in Venedig Cholerafälle vorgekommen
seien.
Aber ich verschwieg es, um die Damen nicht zu erschrecken.
Jetzt kam Annunziata, das Dienstmädchen. Sie hatte am
Gartentor dem Briefträger die Post abgenommen und brachte uns Zeitungen
und
Briefe. Dabei sagte sie geheimnisvoll:
„Die
Dame, die heute morgen angekommen ist, ist sehr
krank. Der Wirt hat gesagt, die Krankheit könne Cholera sein.“
„Da
haben wir es, das Unglück,“ rief die Russin
begeistert aus. „Ich packe sofort meine Koffer.“
Ulrike und ich lachten, und Ulrike sagte:
„Jetzt
bekomme ich es, wie ich es gewollt habe. Jetzt
werden alle mit mir abreisen. Wie froh ich bin, dass sich doch etwas
Allgemeines ereignet, und dass meine Abreise nicht allein das
Tagesereignis
sein muss.“
Ich
hatte inzwischen rasch die neue Zeitung aufgeschlagen
und las, dass verschiedene Cholerafälle in Venedig und auch am Gardasee
gemeldet waren. Ich schlug dann den Damen vor, zusammen noch einen
letzten
Abschiedsspaziergang nach den Wiesen zu machen, was die Damen auch
gerne taten.
Draußen vor dem Ort, in der Nähe eines alten Pestfriedhofes, der jetzt
wie ein
harmloser Rosengarten zwischen prächtig düsteren Zypressen lag, trafen
wir die
beiden Ärzte, die den Arbeitern zusahen, welche dort ein großes
vitriolgrünes
Zelt errichteten.
Bei
der Farbe des Zeltes musste ich an das Haus des
vorsündflutlichen Tieres denken, das sich
in meinem Traum aus dem See gereckt hatte und mit seiner Zunge in die
Häuser
eingedrungen war, aus denen es die Menschen einzeln herausgezogen
hatte, um sie
zu verschlingen. Bald würden hier Tragbahren ankommen. Bald würden die
Häuser
des kleinen Ortes einzelne ihrer Bewohner als Opfer der Cholera in
dieses Zelt
dem unerbittlichen Choleragespenst hingeben müssen.
Während
wir noch dastanden, wurde schon auf einer
verhüllten Bahre die erste Kranke aus dem Gasthaus, in dem wir wohnten,
gebracht, die Dame, die mit ihrem Mann heute morgen aus Venedig
angekommen war.
Der Wirt mit seinem demütigen Eselsgesicht stand neben mir und stöhnte
laut und
hörbar, denn er wusste, jetzt würden seine Gäste fortziehen und alle
Bewohner
des Ortes sein Haus meiden. Und wer wusste es denn, ob nicht er und
alle, die
hier standen, bereits vom geheimnisvollen Choleratod gezeichnet waren?
Es
war aber gar nicht mehr so leicht, dem Ort des
Schreckens zu entfliehen. Die Dampfschiffe weigerten sich, in Limone
anzulegen,
und das Schiff, das die Ärzte gebracht hatte, war das letzte gewesen,
das die
Landungsbrücke berühren wollte.
In
der Nacht, als der Mond, von einer dünnen Wolke in
zwei Teile geteilt, über dem See und dem Monte Alto hing, stießen
geheimnisvoll
zwei Boote bei der Gartentüre des Gasthauses ab. In dem einen saß ich
und
ruderte Ulrike und unsere Koffer, da wir uns keinem Bootsmann vertrauen
wollten. Im anderen Boot saßen die russische Generalin und der Mann der
vor
zwei Stunden gestorbenen Frau, der eine heillose Angst hatte und nicht
einmal
die Beerdigung seines toten Weibes hatte abwarten wollen. Dieses Boot
ruderten
die beiden Fischerknaben, da es schwer und mit den großen Koffern der
Generalin
beladen war.
Während der ganzen Nacht ruderten die Boote lautlos Seite
an Seite, und als wir die Bucht von Limone verlassen hatten, war in der
Dunkelheit nichts mehr von diesem Ort bei uns als der säuerliche Duft
der
Zitronenfrüchte, der uns aus den Säulengärten in der milden Nacht über
das
Wasser noch nachkam, lockend und verführerisch, wie ein lebendes Wesen,
das auf
den Wellen wandern kann, ohne zu versinken.
Aber
der Scheinwerfer des Wachtbootes, der sonst die Nacht
so unruhig machte, war in der Mondhelle, in welcher keiner
zu schmuggeln wagte, auf der anderen Seite des
Sees tätig, und er streifte drüben mit seinem weißen Strahl die vom
Mondschatten verdunkelten Bergwände ab.
Als
wir einige Zeit gerudert hatten, riefen die
Fischerknaben vom anderen Boot mir zu:
„Jetzt sind wir über die Grenze gekommen. Jetzt sind wir
auf österreichischem Seegebiet.“
„Jetzt sind wir bald in Freiburg,“ lachte Ulrike. Sie war
im Geist längst nicht mehr auf dem See, sondern weit über den Alpen bei
ihrem
Bräutigam.
Ich
aber war froh, dass wir dem Abenteuerherd entrannen,
den ich vom ersten Augenblick an, als ich im Sturmwind in das kleine
Wasserbassin von Limone hineingefegt worden war, beim Betreten des
Landes mit
allen Sinnen gewittert hatte.
Aber
die Russin meinte, Abenteuerherde müsse es überall
geben, denn sonst wäre das Leben eine Einöde. Und sie suchte begierig
nach
neuem Unglück.
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Textgrundlage: "Das Iguanadon" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden", Seite 281-359.
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Logo 196: "Bodensee", Margaret Hofheinz-Döring, 1964,
Quelle: Peter Mauch. Brigitte Mauch, der Nutzungsinhaber
dieses Werkes, veröffentlicht es hiermit unter der folgenden
Lizenz: CC 3.0
Namensnennung: Margret
Hofheinz-Döring/
Galerie Brigitte Mauch
Göppingen
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