Geschichten
Max Dauthendey
Nächtliche
Schaufenster I
Wenn ich spät nach Mitternacht in der
Potsdamerstraße
nach Hause ging, eilte ich mich meistens nicht sehr, denn die Nachtluft
kam mir
erfrischend entgegen. Sie war wie ein Wanderer, der aus Grenzwäldern
über
Flüsse und Seen herkam und über Berlin hinschritt. Und während ich von
einer
Laterne zur andern ging, war die Nachtluft schon über die Provinz
Brandenburg
fortgezogen an die Elbe, an den Rhein, und im Vorübergehen hatte sie
mich
leicht verhext und hatte mir Meilengedanken gegeben, sodass ich danach
nicht
mehr zwischen Laternen weiter ging, sondern fort über mich selbst.
Auf einer Plakatsäule sah ich in einer Nacht
einen großen
Tigerkopf. Darunter stand „Indien in Berlin“. Der gefleckte Tigerkopf
sah aus
gelbem Bambusröhricht heraus und war ein praller Katzenkopf; über ihm
lag ein
bleichblau gemalter Himmel.
Eine Weile schien mir dann, als ginge
ich durch
indische Dschungeln, indessen ich doch nur auf dem Streifen breiter
Pflasterplatten wandelte, die sich als eine lange Zeile in der Mitte
des
Bürgersteiges hinzogen.
Die vielen offenen und dunkeln
Schaufensterscheiben
glitzerten neben mir wie mondbeschienene Gewässer auf, ähnlich den
heimlichen
Tränkestätten von Raubtieren, die unhörbar durch die Dschungeln
schleichen.
Eine Autohupe brüllte manchmal in einer Nebengasse. Dieser Laut wurde
mir fast
zu Löwengeheul. Und schleifte der Gummireifen eines vorbeisausenden
Autos mit
surrendem Laut über den glatten Asphalt des Fahrdammes, dann waren da
in der
Vorstellung galoppierende Dickhäuter, pfauchende Nashornherden und
aufgescheuchte Scharen von Nachtvögeln, die
vorbeifegten.
Ich blieb an einem Schaufenster stehen. Das
kannte ich
gut. Dort stand ich immer eine Weile in jeder Nacht und nahm mir vor
dem
Schlafengehen Zeit, die lebende gefiederte Ware einer Vogelhandlung zu
bedauern.
Da waren chinesische Nachtigallen in Drahtkäfigen
mit
roten Schnäbeln und grüngelber Brust. Und smaragdgrüne Sittiche aus
Australien und
afrikanische Finken, silbergrau wie deutsche Schwalben und mit
korallenroten
Schnäbeln. In einem Käfig allein saß eine deutsche schwarze Amsel, und
ein
anderer Käfig war voll mit zitronengelben Kanarienvögeln. Da waren auch
Käfige
mit Turteltauben, deren Federleib war silbrig und weiß wie Holzasche.
Alle diese Vögel saßen in ihren Drahtzellen wie
bestrafte
Verbrecher. Die meisten von ihnen waren zwar im Käfig geboren, aber ich
musste
nachgrübeln, was wohl ihre Vorfahren in China, Afrika, Australien
begangen
haben mochten, dass ihre Kindeskinder hier, verbannt und gefangen, im
Schaufenster der Potsdamerstraße ihre Lebenstage verbringen mussten.
Das elektrische Licht der nächsten Straßenlaterne
sah
schrecklich grell durch die glänzenden Drahtstäbe der Gitter auf die
dünnen
geschlossenen Augenhäute der kleinen unruhigen Schläfer. Das scharfe
unnatürliche Licht musste noch den Schlaf der Gefangenen schmerzhaft
machen.
Und die brüllenden Autohuppen, deren Fahrzeuge mit Gedröhn während der
ganzen
Nacht die große Stadt durchrasten, mussten die feinen musikalischen
Ohren der
Singvögel noch im Schlaf quälen.
Vögel,
die gewöhnt sind, in lauschigen Buschverstecken in der Urstille ewiger
Wälder
zu nisten, zu picken, zu flattern und die grünen Dämmerungen der
Blättergehäuse
alter Bäume zu durchfliegen, hatten hier einen kaum fußbreiten Raum
zwischen
den blitzenden Metallgittern. Aber sie schienen sich sanft und gütig zu
bescheiden und schienen mir weiser zu sein als ihre gefangenen Wärter.
Einmal hatte ich am Tage hier an dem Schaufenster
um die
Mittagstunde mit den Händen in den Taschen einen armen, ganz dürftig
gekleideten Arbeiter stehen sehen. Der schien sich in das Leid der
Vögel
hineingedacht zu haben. Er sah andächtig jedes Tierchen an und war
verwundert,
wie mir schien, dass diese schönen geflügelten Geschöpfe kein besseres
Schicksal hatten als das des Gefängnisses. Nicht einmal ihren Gesang
konnten
sie genießen. Denn es singen die verschiedenen Vogelarten zu gleicher
Zeit
lärmend durcheinander. Es sang der Weltteil Afrika, der Weltteil
Australien,
der Weltteil Asien. Die Spitzen der Flugfedern an Schwanz und Flügeln
haben
sich die Vögel an den Gittern abgestoßen. Am Tag fallen ihnen die Augen
vor
Müdigkeit zu, und nachts reißen
sie sie auf vor Schrecken und gequält von dem stechenden, kaltweißen
Bogenlicht
der Straße und von den wütend jagenden Automobilen.
Um zwei Uhr, drei Uhr, vier Uhr nachts rücken die
armen
Vögel immer noch unruhig hin und her, zu müde, um wach sein zu können,
und zu
wach gehalten, um einschlafen zu können.
Ich kam mir unbehaglich wie ein großer wandelnder
Turm
vor, solange ich vor den winzigen Vögelchen stand, und so ging ich
weiter, an
den Glaswänden der Schaufenster entlang. Es ist da auch ein
Blumenladen, den
eine Dame besitzt, die am Tage immer mit schönen frauenhaften
Bewegungen
frische Blumen dort ausstellt, geschmackvoll in Vasen und Körben
geordnet, und
die ein Band oder ein Buch in die Nähe der Blumen legt und an den
grauen
Wandschirm, der im Hintergrund des Schaufensters steht, ein Bild
hinhängt, das
einer beliebten Tänzerin, oder einen alten Kupferstich, darstellend
eine längst
verstorbene Prinzessin.
Hier erhole ich mich etwas von meinem Leid.
Vielleicht
leiden abgeschnittene Blumen eben soviel wie eingesperrte Vögel. Aber
sie sind
nicht Fleisch und Blut, und deshalb leide ich bei ihnen ebenso wenig,
als ich
mit meinen Haaren leide, wenn ich sie schneiden lasse.
Wie gerne möchte ich einer Einbrecherbande
angehören,
dachte ich neulich. Die müsste aber nicht einbrechen des Diebstahls
wegen,
sondern der Ordnung wegen. Dann würde ich nachts die Tür der
Vogelhandlung
aufbrechen und mit meinen Spießgesellen alle Käfige herausholen.
Fliegen würde
ich die Vögel nicht lassen. Sie würden sonst verhungern und erfrieren.
Ich
würde aber die Tür auch des Blumenladens aufbrechen, und dort in der
lauwarmen
Luft wollte ich alle Futternäpfe der Vögel zwischen die Schalen der
Anemonenvasen stellen, zwischen die Körbe voll Hyazinthen, zwischen die
dicken
Efeukränze und um den hohen Krug, darin die Weidenruten voll
Silberkätzchen
stecken. Und über den Töpfen der Mimosen bei den gespenstig geformten
Figuren
der Orchideenblüten und bei den geisterhaft weißen Bechern der
Callablüten,
dort würde ich die fliegenden Bewohner von Afrika, Australien und Asien
es sich
wohl sein lassen.
Einige Häuser weiter von dieser
Blumenhandlung ist,
ehe ich zu meiner Haustüre komme, noch solch ein exotischer
Sklavenmarkt. Dort
sitzen im Schaufenster neben kleinen Affen und Papageien in winzigen
Käfigen
weiße Mäuse und in Gläsern Laubfrösche.
Kein Schaufenster von ganz Berlin ist am Tage so
von
Leuten aller Stände besucht wie dieses, an dem ich immer vorüber muss,
wenn ich
aus dem Hause trete. Dort habe ich Bekanntschaft gemacht mit einem
Mammosettäffchen. Ich habe keine Ahnung, warum das Tier Mammosett
heißt. Aber
der Name steht auf einem Zettel am Käfig. Und ich denke immer, der Name
müsste
von Mimose kommen, da das Tier von mimosenhafter Empfindsamkeit ist.
„Wird sehr
zahm“ steht auch daneben. Das glaube ich gern. Gewöhnlich, wenn die
Tiere sehr
zahm geworden sind, sterben sie weg, wie jenes Pferd, von dem der Bauer
behauptete, dass es von der Luft allein leben könnte, und das starb,
als es
sich eben ans Hungern gewöhnt hatte.
Mammosett erschien um die Weihnachtszeit im
Schaufenster.
Trotzdem es in diesen Tagen Lawinen schneite, blieben alle Leute
stehen, um
Mammosett zu betrachten. Das winzige, nur handgroße Äffchen ist „das
kleinste
Äffchen der
Welt“, – das steht auch auf dem Zettel am Käfig. Aber ich finde,
trotzdem hätte
man Mammosett nicht in einen Kanarienvogelkäfig sperren dürfen. Denn
auch seine
Winzigkeit verlangt Bewegung und Freiheit. In den ersten Tagen sprang
das
Tierchen wie irrsinnig in seinem Käfig herum, ähnlich den weißen
Tanzmäusen in
den Nebenkäfigen, die Tag und Nacht um eine Spule rennen. Die kamen mir
immer
vor wie kleine tanzende Derwische, die heftig rund herum rennen, damit
sie
eines Tages tot umfallen und so aus der Gefangenschaft des Lebens
befreit sind.
Ich erkundigte mich in der Tierhandlung, was
Mammosett
kostet. Aber ich hörte am selben Tag von einer Dame, dass diese
Äffchen, wenn
sie zahm werden, alles zerreißen, was ihnen unter die Finger kommt.
Seit ich
das weiß, möchte ich auch hier beim Mammosettäffchen Einbrecher werden
und
Mammosett befreien. Und ich hab mir schon eine Geschichte ausgedacht,
wie
dieses Mammosettäffchen, frei gelassen, alle seine Mitgefangenen, die
Papageien, die Mäuse und die Laubfrösche, und zuletzt den Tierhändler
selbst in
kleine Stückchen zerreißen würde. Vom Tierhändler müsste das Äffchen
jeden Tag
nur ein Stückchen
abreißen, einmal ein Ohrläppchen, einmal einen Nasenflügel, einmal
einen
Haarschopf, bis der Tierhändler daläge wie ein zerstückelter Brief im
Papierkorb.
Jetzt, nach zwei Monaten, ist das Äffchen in
seinem Käfig
ruhiger geworden, „zahm“ würde der Tierhändler sagen. Ich sage
„todesmatt“. Es
kauert in einem Häufchen Holzwolle und knabbert manchmal an einem
Kuchenstück
und zittert den ganzen Tag.
Auf der Stange des Käfigs, darauf eigentlich ein
Kanarienvogel sitzen sollte, kauert mühsam das Äffchen. Die Stange ist
zu
schmal, und es fällt oft herunter. Wenn es sich in dem winzigen
Gitterraum
bewegen wollte, müsste es sich rund um sich selbst bewegen wie die
weißen Mäuse
und müsste irrsinnig werden. Weil es aber ein sanftes Tierchen ist, so
will es
keines irrsinnigen, sondern eines sanften Todes sterben. Es wird also
scheinbar
zahm, das heißt, es sitzt auf einem Fleck und stirbt langsam ab.
Wenn ich die nächtlichen Straßen hinauf und
hinunter
sehe, so scheinen mir die menschlichen Häuser auch nichts anderes als
steinerne
Käfige zum Zahmwerden und zum Absterben.
An
einer Straßenecke stand während zweier Monate
in jeder Nacht um zwei, drei, vier Uhr eine und dieselbe Frau. Sie war
gekleidet wie eine Hausmeisterin in ein einfaches Hauskleid und hatte
nur ein
wollenes Tuch über dem Kopf und über der wollenen Manteljacke.
Armselig, aber
atemlos lauernd, stand sie immer am selben Fleck.
Sie wartete nicht auf jemanden, aber
sie horchte nach jemandem hin. Sie horchte nach der
Richtung einer Haustüre hin. Sie war eine vertrocknete, abgearbeitete
Frau, die
sich durch Spionage einen Nachtverdienst machte, das erfuhr ich eines
Abends.
Im Haus aber, das sie behorchte, sang oft in der Nacht im Oberstock
eine
Frauenstimme.
Wenn ich mit Freunden dort vorbei ging, oder wenn
ich
allein aus Theatern und Gesellschaften kam, immer stand diese
Aufpasserin an
dem Gitter des Vorgartens, angewurzelt wie ein Baum. Immer horchte sie
nach
jener Haustüre hin, aber nicht immer sang die Frauenstimme in der
einzelnen
Villa.
Eines Abends, als ich eben wieder von meiner
Vogelhandlung und von dort zur Blumenhandlung und von dort zum
Mammosettäffchen
gewandert war, kam eine vornehme Dame aus dem Schatten eines
Haustores. Sie
schien mir wie von der Nachtluft aus irgend einer fremden Stadt
hergeweht auf
die Potsdamer Straße. Vielleicht hatte sie mich schon längst beobachtet
und
hatte mich bei den gefangenen Vögeln, dann bei den gefangenen Blumen
und jetzt
bei dem gefangenen Äffchen stehen sehen.
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Geschichte: "Nächtliche Schaufenster" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus
den Vier Winden",
Seite 173-194.
wikimedia
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