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Literatur


04.3


Geschichten

Max Dauthendey



 Nächtliche Schaufenster I


Wenn ich spät nach Mitternacht in der Potsdamerstraße nach Hause ging, eilte ich mich meistens nicht sehr, denn die Nachtluft kam mir erfrischend entgegen. Sie war wie ein Wanderer, der aus Grenzwäldern über Flüsse und Seen herkam und über Berlin hinschritt. Und während ich von einer Laterne zur andern ging, war die Nachtluft schon über die Provinz Brandenburg fortgezogen an die Elbe, an den Rhein, und im Vorübergehen hatte sie mich leicht verhext und hatte mir Meilengedanken gegeben, sodass ich danach nicht mehr zwischen Laternen weiter ging, sondern fort über mich selbst.
Auf einer Plakatsäule sah ich in einer Nacht einen großen Tigerkopf. Darunter stand „Indien in Berlin“. Der gefleckte Tigerkopf sah aus gelbem Bambusröhricht heraus und war ein praller Katzenkopf; über ihm lag ein bleichblau gemalter Himmel.

Eine Weile schien mir dann, als ginge ich durch indische Dschungeln, indessen ich doch nur auf dem Streifen breiter Pflasterplatten wandelte, die sich als eine lange Zeile in der Mitte des Bürgersteiges hinzogen.

Die vielen offenen und dunkeln Schaufensterscheiben glitzerten neben mir wie mondbeschienene Gewässer auf, ähnlich den heimlichen Tränkestätten von Raubtieren, die unhörbar durch die Dschungeln schleichen. Eine Autohupe brüllte manchmal in einer Nebengasse. Dieser Laut wurde mir fast zu Löwengeheul. Und schleifte der Gummireifen eines vorbeisausenden Autos mit surrendem Laut über den glatten Asphalt des Fahrdammes, dann waren da in der Vorstellung galoppierende Dickhäuter, pfauchende Nashornherden und aufgescheuchte Scharen von Nachtvögeln, die
vorbeifegten.

Ich blieb an einem Schaufenster stehen. Das kannte ich gut. Dort stand ich immer eine Weile in jeder Nacht und nahm mir vor dem Schlafengehen Zeit, die lebende gefiederte Ware einer Vogelhandlung zu bedauern.

Da waren chinesische Nachtigallen in Drahtkäfigen mit roten Schnäbeln und grüngelber Brust. Und smaragdgrüne Sittiche aus Australien und afrikanische Finken, silbergrau wie deutsche Schwalben und mit korallenroten Schnäbeln. In einem Käfig allein saß eine deutsche schwarze Amsel, und ein anderer Käfig war voll mit zitronengelben Kanarienvögeln. Da waren auch Käfige mit Turteltauben, deren Federleib war silbrig und weiß wie Holzasche.

Alle diese Vögel saßen in ihren Drahtzellen wie bestrafte Verbrecher. Die meisten von ihnen waren zwar im Käfig geboren, aber ich musste nachgrübeln, was wohl ihre Vorfahren in China, Afrika, Australien begangen haben mochten, dass ihre Kindeskinder hier, verbannt und gefangen, im Schaufenster der Potsdamerstraße ihre Lebenstage verbringen mussten.

Das elektrische Licht der nächsten Straßenlaterne sah schrecklich grell durch die glänzenden Drahtstäbe der Gitter auf die dünnen geschlossenen Augenhäute der kleinen unruhigen Schläfer. Das scharfe unnatürliche Licht musste noch den Schlaf der Gefangenen schmerzhaft machen. Und die brüllenden Autohuppen, deren Fahrzeuge mit Gedröhn während der ganzen Nacht die große Stadt durchrasten, mussten die feinen musikalischen Ohren der Singvögel noch im Schlaf quälen.
Vögel, die gewöhnt sind, in lauschigen Buschverstecken in der Urstille ewiger Wälder zu nisten, zu picken, zu flattern und die grünen Dämmerungen der Blättergehäuse alter Bäume zu durchfliegen, hatten hier einen kaum fußbreiten Raum zwischen den blitzenden Metallgittern. Aber sie schienen sich sanft und gütig zu bescheiden und schienen mir weiser zu sein als ihre gefangenen Wärter.

Einmal hatte ich am Tage hier an dem Schaufenster um die Mittagstunde mit den Händen in den Taschen einen armen, ganz dürftig gekleideten Arbeiter stehen sehen. Der schien sich in das Leid der Vögel hineingedacht zu haben. Er sah andächtig jedes Tierchen an und war verwundert, wie mir schien, dass diese schönen geflügelten Geschöpfe kein besseres Schicksal hatten als das des Gefängnisses. Nicht einmal ihren Gesang konnten sie genießen. Denn es singen die verschiedenen Vogelarten zu gleicher Zeit lärmend durcheinander. Es sang der Weltteil Afrika, der Weltteil Australien, der Weltteil Asien. Die Spitzen der Flugfedern an Schwanz und Flügeln haben sich die Vögel an den Gittern abgestoßen. Am Tag fallen ihnen die Augen vor Müdigkeit zu, und nachts reißen sie sie auf vor Schrecken und gequält von dem stechenden, kaltweißen Bogenlicht der Straße und von den wütend jagenden Automobilen.
Um zwei Uhr, drei Uhr, vier Uhr nachts rücken die armen Vögel immer noch unruhig hin und her, zu müde, um wach sein zu können, und zu wach gehalten, um einschlafen zu können.

Ich kam mir unbehaglich wie ein großer wandelnder Turm vor, solange ich vor den winzigen Vögelchen stand, und so ging ich weiter, an den Glaswänden der Schaufenster entlang. Es ist da auch ein Blumenladen, den eine Dame besitzt, die am Tage immer mit schönen frauenhaften Bewegungen frische Blumen dort ausstellt, geschmackvoll in Vasen und Körben geordnet, und die ein Band oder ein Buch in die Nähe der Blumen legt und an den grauen Wandschirm, der im Hintergrund des Schaufensters steht, ein Bild hinhängt, das einer beliebten Tänzerin, oder einen alten Kupferstich, darstellend eine längst verstorbene Prinzessin.

Hier erhole ich mich etwas von meinem Leid. Vielleicht leiden abgeschnittene Blumen eben soviel wie eingesperrte Vögel. Aber sie sind nicht Fleisch und Blut, und deshalb leide ich bei ihnen ebenso wenig, als ich mit meinen Haaren leide, wenn ich sie schneiden lasse.

Wie gerne möchte ich einer Einbrecherbande angehören, dachte ich neulich. Die müsste aber nicht einbrechen des Diebstahls wegen, sondern der Ordnung wegen. Dann würde ich nachts die Tür der Vogelhandlung aufbrechen und mit meinen Spießgesellen alle Käfige herausholen. Fliegen würde ich die Vögel nicht lassen. Sie würden sonst verhungern und erfrieren. Ich würde aber die Tür auch des Blumenladens aufbrechen, und dort in der lauwarmen Luft wollte ich alle Futternäpfe der Vögel zwischen die Schalen der Anemonenvasen stellen, zwischen die Körbe voll Hyazinthen, zwischen die dicken Efeukränze und um den hohen Krug, darin die Weidenruten voll Silberkätzchen stecken. Und über den Töpfen der Mimosen bei den gespenstig geformten Figuren der Orchideenblüten und bei den geisterhaft weißen Bechern der Callablüten, dort würde ich die fliegenden Bewohner von Afrika, Australien und Asien es sich wohl sein lassen.

Einige Häuser weiter von dieser Blumenhandlung ist, ehe ich zu meiner Haustüre komme, noch solch ein exotischer Sklavenmarkt. Dort sitzen im Schaufenster neben kleinen Affen und Papageien in winzigen Käfigen weiße Mäuse und in Gläsern Laubfrösche.

Kein Schaufenster von ganz Berlin ist am Tage so von Leuten aller Stände besucht wie dieses, an dem ich immer vorüber muss, wenn ich aus dem Hause trete. Dort habe ich Bekanntschaft gemacht mit einem Mammosettäffchen. Ich habe keine Ahnung, warum das Tier Mammosett heißt. Aber der Name steht auf einem Zettel am Käfig. Und ich denke immer, der Name müsste von Mimose kommen, da das Tier von mimosenhafter Empfindsamkeit ist. „Wird sehr zahm“ steht auch daneben. Das glaube ich gern. Gewöhnlich, wenn die Tiere sehr zahm geworden sind, sterben sie weg, wie jenes Pferd, von dem der Bauer behauptete, dass es von der Luft allein leben könnte, und das starb, als es sich eben ans Hungern gewöhnt hatte.

Mammosett erschien um die Weihnachtszeit im Schaufenster. Trotzdem es in diesen Tagen Lawinen schneite, blieben alle Leute stehen, um Mammosett zu betrachten. Das winzige, nur handgroße Äffchen ist „das kleinste Äffchen der Welt“, – das steht auch auf dem Zettel am Käfig. Aber ich finde, trotzdem hätte man Mammosett nicht in einen Kanarienvogelkäfig sperren dürfen. Denn auch seine Winzigkeit verlangt Bewegung und Freiheit. In den ersten Tagen sprang das Tierchen wie irrsinnig in seinem Käfig herum, ähnlich den weißen Tanzmäusen in den Nebenkäfigen, die Tag und Nacht um eine Spule rennen. Die kamen mir immer vor wie kleine tanzende Derwische, die heftig rund herum rennen, damit sie eines Tages tot umfallen und so aus der Gefangenschaft des Lebens befreit sind.

Ich erkundigte mich in der Tierhandlung, was Mammosett kostet. Aber ich hörte am selben Tag von einer Dame, dass diese Äffchen, wenn sie zahm werden, alles zerreißen, was ihnen unter die Finger kommt. Seit ich das weiß, möchte ich auch hier beim Mammosettäffchen Einbrecher werden und Mammosett befreien. Und ich hab mir schon eine Geschichte ausgedacht, wie dieses Mammosettäffchen, frei gelassen, alle seine Mitgefangenen, die Papageien, die Mäuse und die Laubfrösche, und zuletzt den Tierhändler selbst in kleine Stückchen zerreißen würde. Vom Tierhändler müsste das Äffchen jeden Tag nur ein Stückchen abreißen, einmal ein Ohrläppchen, einmal einen Nasenflügel, einmal einen Haarschopf, bis der Tierhändler daläge wie ein zerstückelter Brief im Papierkorb.


Jetzt, nach zwei Monaten, ist das Äffchen in seinem Käfig ruhiger geworden, „zahm“ würde der Tierhändler sagen. Ich sage „todesmatt“. Es kauert in einem Häufchen Holzwolle und knabbert manchmal an einem Kuchenstück und zittert den ganzen Tag.

Auf der Stange des Käfigs, darauf eigentlich ein Kanarienvogel sitzen sollte, kauert mühsam das Äffchen. Die Stange ist zu schmal, und es fällt oft herunter. Wenn es sich in dem winzigen Gitterraum bewegen wollte, müsste es sich rund um sich selbst bewegen wie die weißen Mäuse und müsste irrsinnig werden. Weil es aber ein sanftes Tierchen ist, so will es keines irrsinnigen, sondern eines sanften Todes sterben. Es wird also scheinbar zahm, das heißt, es sitzt auf einem Fleck und stirbt langsam ab.

Wenn ich die nächtlichen Straßen hinauf und hinunter sehe, so scheinen mir die menschlichen Häuser auch nichts anderes als steinerne Käfige zum Zahmwerden und zum Absterben.

An einer Straßenecke stand während zweier Monate in jeder Nacht um zwei, drei, vier Uhr eine und dieselbe Frau. Sie war gekleidet wie eine Hausmeisterin in ein einfaches Hauskleid und hatte nur ein wollenes Tuch über dem Kopf und über der wollenen Manteljacke. Armselig, aber atemlos lauernd, stand sie immer am selben Fleck. Sie wartete nicht auf jemanden, aber sie horchte nach jemandem hin. Sie horchte nach der Richtung einer Haustüre hin. Sie war eine vertrocknete, abgearbeitete Frau, die sich durch Spionage einen Nachtverdienst machte, das erfuhr ich eines Abends. Im Haus aber, das sie behorchte, sang oft in der Nacht im Oberstock eine Frauenstimme.

Wenn ich mit Freunden dort vorbei ging, oder wenn ich allein aus Theatern und Gesellschaften kam, immer stand diese Aufpasserin an dem Gitter des Vorgartens, angewurzelt wie ein Baum. Immer horchte sie nach jener Haustüre hin, aber nicht immer sang die Frauenstimme in der einzelnen Villa.
Eines Abends, als ich eben wieder von meiner Vogelhandlung und von dort zur Blumenhandlung und von dort zum Mammosettäffchen gewandert war, kam eine vornehme Dame aus dem Schatten eines Haustores.  Sie schien mir wie von der Nachtluft aus irgend einer fremden Stadt hergeweht auf die Potsdamer Straße. Vielleicht hatte sie mich schon längst beobachtet und hatte mich bei den gefangenen Vögeln, dann bei den gefangenen Blumen und jetzt bei dem gefangenen Äffchen stehen sehen.



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Geschichte: "Nächtliche Schaufenster" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden",
Seite 173-194.

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