Geschichten
Max Dauthendey
Nächtliche
Schaufenster II
„O, mein Herr,“
sagte sie, „darf ich Sie um einen Dienst ersuchen?“ Und ihre Stimme war
wehklagend wie die Stimme einer Gefangenen. „Würden Sie mir den
Gefallen tun,
jene Frau dort um die Ecke anzureden und zu fragen, warum sie immer
Nacht für
Nacht dort steht, und wer sie dort hingestellt hat zum Aufpassen?“
„Gern,“ sagte ich. „Ich bin selbst neugierig, es
zu
wissen.“
„Ich werde Sie hier erwarten,“ sagte die erregte
Dame.
Ihre Brust hob und senkte sich, und ihr zitternder Atem kam wie ein
feiner
Nebel aus ihrem Schleier und verflüchtigte sich in der eisigen
Nachtluft.
Dieser feine graue Hauch auf den Lippen der
sichtbar
Geängstigten, trieb mich zur Eile an.
Ich ging und zwang meine Schritte, dass sie
möglichst
gleichgültig schienen. Ich bog um die
Straßenecke und ging dort zuerst an dem horchenden kleinen ältlichen
Weib
vorbei. Ich sah sie gar nicht an. Dann wendete ich wieder einige
Schritte um
und ging langsam denselben Weg zurück. Dabei betrachtete ich die
Aufpasserin
genau, denn sie sah mir unter der Laterne, wo sie stand, ins Gesicht.
Ihr dumpf rotes dickes Kopftuch war ein wenig vom
Schädel
zurückgerutscht, und sie sah mit dem grauen platten Haar elend und
armselig
aus. Aber ihre kleine Stirn hatte etwas hartnäckig Ausdauerndes wie ein
Stein,
den man vergeblich auf Steine stößt und der nicht zerspringt. Mager und
blutleer, ausgekältet von ewigen Nachtfrösten, stand sie dort. Aber
nicht
zusammengekauert vom Elend, sondern verzweifelt, halsstarrig wie ein
Nagel, der
spitz aus einer Kiste heraussteht, und an dem sich alle Vorübergehenden
die
Kleider zerreißen. Der Nagel aber weicht nicht, er sticht und reißt
jeden in
die Haut, der unvorsichtig in seine Nähe kommt. So stand diese Gestalt
seit
Monaten von Mitternacht bis zum Morgengrauen und wich nicht und änderte
ihren
Standplatz nie.
Sie hatte keinen wirklichen Blick in
ihren Augen.
Trotzdem sie mich anstarrte, schien sie mich nicht zu sehen. Sie
horchte nur,
immer weilte ihre Aufmerksamkeit nur in ihren Ohren. Man merkte es ihr
aber an,
dass sie geschäftsmäßig, auf Bestellung und für Bezahlung dastand, denn
sie
zeigte in Haltung und Miene ärmlich weiblichen Pflichteifer.
„Sagen Sie mir,“ fragte ich laut und dabei
lächelnd und
blieb eine Sekunde im Gehen stehen, „warum um Gottes willen warten Sie
Nacht um
Nacht bis zum Morgen hier? Ich habe Sie nun schon oft beobachtet. –
Dürfen Sie
es nicht sagen?“ fuhr ich fort, als sie schwieg. Sie hatte mich einen
Augenblick von der Seite angesehen, beinahe ebenfalls belustigt wie
ich, dann
aber starrte sie mit abgewendetem Gesicht nach einer andern
Himmelsrichtung,
wie ein Hund, den man anredet, und der fortsieht und sich besinnt, ob
er böse
werden soll oder nicht.
„Na,
wenn Sie es nicht sagen
wollen,“ sagte ich gedehnt und wartete, um ihr Zeit zu lassen. Sie aber
sah
immer starr in die Seitenstraße und rührte sich nicht.
Sie hatte mich
einen Augenblick von der Seite angesehen, beinahe ebenfalls belustigt
wie ich,
dann aber starrte sie mit abgewendetem Gesicht nach einer andern
Himmelsrichtung, wie ein Hund, den man anredet, und der fortsieht und
sich
besinnt, ob er böse werden soll oder nicht.
„Na, wenn Sie es nicht sagen wollen,“ sagte ich
gedehnt
und wartete, um ihr Zeit zu lassen. Sie aber sah immer starr in die
Seitenstraße und rührte sich nicht.
„Wenn Sie nichts sagen dürfen –,“ lachte ich und
ging
langsam und nahm mir vor, wenn nicht
heute, dann doch morgen von neuem zu fragen. Aber diese Frau würde
sicher nie
antworten, sagte ich mir zugleich. Sie musste ihr Geld verdienen und
verdiente
es nur, wenn sie schwieg und horchte. Mir schien, man hätte ihr ein
Stemmeisen
zwischen die Lippen stoßen können, sie hätte keinen Laut von sich
gegeben und
den Mund nicht geöffnet. Dieses war mein Eindruck. Welch schrecklicher
Gefangenenwärter
war sie! Und wessen Gefängnis mochte sie bewachen? –
Ich bog in die Seitenstraße und ging bis zur
Potsdamer
Straße zurück. Dort fand ich die Dame im Schatten eines tiefen
Haustores, auch
stand ein Automobil am Straßenrand, dessen Tür offen war.
Ich schüttelte von weitem den Kopf, und die
Fremde nickte
und kam mir entgegen. „Ich wusste, dass diese Kreatur nichts verraten
würde,“
klagte die Dame enttäuscht. „Ich habe sie neulich bereits selbst
gefragt und
habe sie befragen lassen, aber sie antwortet niemandem. Sie bewacht
nämlich die
Haustüre einer unglücklichen Freundin von mir. Und ich möchte wissen,
ob der
ungetreue Mann meiner Freundin oder andere Leute diese reinste aller
Frauen
beobachten lassen,
um sie in Verdacht zu bringen.“ Sie dankte mir dann und entschuldigte
sich und
ging zum Auto, das ein Privatwagen war. Ich hatte das Fahrzeug vorher
in meiner
Überraschung, und da ich in Gedanken am Schaufenster bei dem
Mammosettäffchen
gestanden hatte, gar nicht bemerkt. Der Wagenschlag wurde vom Kutscher
zugeworfen, und die Dame flog wie der Nachtwind aus meiner Sehweite
fort. Ich
stand und wunderte mich eigentlich gar nicht. Denn dass ein Geheimnis,
eine
Grausamkeit, eine Ungerechtigkeit mit der geheimnisvollen nacht
wachenden
Kreatur drüben um die Straßenecke in Verbindung stand, das hatte ich
mir schon
lange gedacht.
An einem der nächsten Abende begleitete ich eine
mir
befreundete Dame vom Künstlertheater nach Hause, und da es eine
sternhelle
Nacht war, wollte meine Begleiterin nicht fahren, sondern sie wollte
schlendern
und die Nachtluft atmen. Wir kamen in der Nettelbeckstraße an dem
Schaufenster
eines Juweliers vorüber, das die ganze Nacht über beleuchtet dasteht.
In diesem
Laden gibt es nur alte Schmucksachen, alte Familienschmuckstücke,
Familiensilber, altmodische Fingerringe. Da sind viele ergraute Perlen,
müde
gewordene Edelsteine, graue matte
Rosensteine in grauen, trüb gewordenen Silberfassungen.
Wir standen und ließen unsere Augen wühlen und
freuten
uns, uns gegenseitig zu überraschen mit unserer Vorliebe für die
verschiedenen
Steine, indem wir in allen Verstecken des Schaufensters nach besonders
edlen
Fassungen und besonders schönen Schmuckstücken suchten.
Bei diesem lässigen Spiel kam mir der Gedanke,
dass die
alten Schmuckwaren hinter der Glasscheibe mehr Sorge als Freude in sich
trügen,
und dass das Schaufenster aussah wie voll Gefangener, die da,
herausgerissen aus
ihren Lebenswegen, warten mussten, bis sie aus dem Fenster befreit
würden, bis
sie wieder an warmen Menschenhänden, an zarten Frauennacken, in
Frauenhaaren
und an Frauenwangen leuchten, aufleben und frei sein durften. Denn das
Leben
der Steine beginnt erst, wenn sie in Schönheit getragen werden, bei
festlichem
Licht und festlichem Blut.
Und ich musste bei den alten gefangenen
Edelsteinen an
die Schaufenster voll gefangener Vögel, Blumen und Affen denken.
Ich sagte dieses zu meiner Begleiterin, und im
Anschluss
an die Erzählung von meinen nächtlichen
Schaufenstern berichtete ich ihr auch mein Erlebnis mit der Dame und
der
Aufpasserin, die jenes Haus allnächtlich bewachte.
Meine Freundin wollte sofort, dass wir die
Aufpasserin
besuchen sollten. Wir kamen dann vor jenes Haus, aber wir vermieden die
Häuserseite und gingen unter den winter kahlen Bäumen der anderen
Straßenseite
am Rande eines schwarzen Kanalwassers entlang.
Wir sahen die Frau wieder horchend am Eisengitter
des
Vorgartens stehen, oben aber in der Villa, deren Tür die Aufpasserin
ins Auge
gefasst hatte, waren zwei erleuchtete Fenster.
Meine Begleiterin, die ein sehr feines Gehör
besitzt,
sagte plötzlich zu mir: „Hören Sie doch, im Hause singt eine
Frauenstimme!“
Wir standen hinter einem breiten Baumstamm still,
und in
den Pausen, die zwischen dem Lärm vorübersausender Autos nur
sekundenweise
eintraten, hörten wir einen wundervollen Gesang. Dazu die feine
Begleitung
eines Instrumentes.
Ich hätte die Autos aufhalten mögen, die sich
immer
wieder an dem Kanal und der Baumreihe entlangstürzten und die mich nur
kleine
Stücke des großen Liedes auffangen ließen.
„Eine Sängerin,“
sagte meine Begleiterin mit begeisterten Augen. „Und zwar muss es eine
große
Sängerin sein, denn ihre Stimme ist herrlich.“ „Sie singt,“ sagte ich,
„sie
singt so erschütternd und ergreifend. Es ist, als schluchzt sie die
Töne, als
wäre sie eine weinende Quelle in einem heiligen Hain, wo die Bäume
dunkel und
feierlich nicht rauschen dürfen, solange die Quellenstimme singt.“
Wir standen lange still. Dann verdunkelte sich
oben das
eine Fenster, und für einen Augenblick erschien der dunkle Umriss einer
schön gebauten
Frauengestalt hinter dem Vorhang, die in Haltung und Wuchs edel war wie
ihr
Lied. Es war eine hoheitsvolle mütterliche Erscheinung. Der Kopf schien
in den
bestirnten Nachthimmel zu schauen, und mir war, als trüge sie noch die
Rhythmen
des Liedes wie große Schwingen an ihrer aufgerichteten Gestalt. Das
Aufpasserweib unten am Vorgarten stierte hoch und ging langsam, wie
beunruhigt,
einige Schritte von der Haustüre fort. Dann wurde nach einer Weile das
Licht
oben ausgelöscht. Das Haus lag wie ein toter Käfig bei den andern
Häuserkäfigen. Und die Aufpasserin stand wieder an ihrem Platz wie eine
Schildwache. Wir gingen dann weiter. Meine
Begleiterin war nachdenklich geworden. Sie schien im Geist in jenes
Haus
eingedrungen zu sein, um die bewachte und singende Frau dort
auszuforschen.
Aber sie schien dabei ebenso wenig eine Antwort zu bekommen wie ich
damals, als
ich die Aufpasserin in jener Nacht gefragt hatte.
„Sie ist unglücklich und kann dabei noch singen,
wunderschön singen, verstehen Sie das?“ fragte sie mich dann.
„Das tun die Nachtigallen auch, die unglücklich
sind,
wenn sie eingesperrt sind, sie singen um so
schöner, je dunkler es um
sie
wird,“ musste ich erwidern. „Aber warum ist sie bewacht, wenn sie
engelrein
ist, wie ihre Freundin sagte? Verstehen Sie das?“ fragte sie mich
hartnäckig
weiter.
„Der Schuldige belauert immer den Unschuldigen.
Ihr Mann
soll ihr untreu sein, hat jene Dame neulich nachts gesagt,“ suchte ich
zu
erklären.
„Aber warum trennen die beiden sich nicht, warum?
Können
Sie mir das erklären?“
„Das kann ich nicht erklären,“ sagte ich darauf.
„Aber Sie müssen es mir erklären,“ bat meine
Begleiterin
ängstlich. „Ich fühle, ich kann
in dieser Nacht nicht schlafen und werde immer an jene singende Frau
denken
müssen, die ihren Gram, ihren Herzkummer und ihre Einsamkeit sich
fortsingen
muss.“
Und welche Stimme, dachte ich bei mir: so singen
nur die
Erzengel vor Gottes Thron, so mächtig, wenn sie aufweinen über die
Schmerzen
der Welt.
„Erklären Sie mir das Geheimnis! Erklären Sie
mir, wie
kann man Ungerechtigkeit erdulden, ohne sich zu wehren?“
„Wie wehren sich die gefangenen Singvögel, wie
wehren
sich wehrlose Frauen? Sie singen aus Notwehr, wenn sie Stimme und
angeborene
Musik in sich tragen; sie singen sich ihr Weh vom Leibe. Sie singen
sich vom
Gift der Qualen frei. Anders wehren sich die, die innerlich singen
können,
nie.“
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Geschichte: "Nächtliche Schaufenster" Max Dauthendrey, aus: Geschichten aus
den Vier Winden",
Seite 173-194.
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