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Literatur


04.3


Geschichten

Max Dauthendey




 Nächtliche Schaufenster II


„O, mein Herr,“ sagte sie, „darf ich Sie um einen Dienst ersuchen?“ Und ihre Stimme war wehklagend wie die Stimme einer Gefangenen. „Würden Sie mir den Gefallen tun, jene Frau dort um die Ecke anzureden und zu fragen, warum sie immer Nacht für Nacht dort steht, und wer sie dort hingestellt hat zum Aufpassen?“

„Gern,“ sagte ich. „Ich bin selbst neugierig, es zu wissen.“

„Ich werde Sie hier erwarten,“ sagte die erregte Dame. Ihre Brust hob und senkte sich, und ihr zitternder Atem kam wie ein feiner Nebel aus ihrem Schleier und verflüchtigte sich in der eisigen Nachtluft.

Dieser feine graue Hauch auf den Lippen der sichtbar Geängstigten, trieb mich zur Eile an.

Ich ging und zwang meine Schritte, dass sie möglichst gleichgültig schienen. Ich bog um die Straßenecke und ging dort zuerst an dem horchenden kleinen ältlichen Weib vorbei. Ich sah sie gar nicht an. Dann wendete ich wieder einige Schritte um und ging langsam denselben Weg zurück. Dabei betrachtete ich die Aufpasserin genau, denn sie sah mir unter der Laterne, wo sie stand, ins Gesicht.

Ihr dumpf rotes dickes Kopftuch war ein wenig vom Schädel zurückgerutscht, und sie sah mit dem grauen platten Haar elend und armselig aus. Aber ihre kleine Stirn hatte etwas hartnäckig Ausdauerndes wie ein Stein, den man vergeblich auf Steine stößt und der nicht zerspringt. Mager und blutleer, ausgekältet von ewigen Nachtfrösten, stand sie dort. Aber nicht zusammengekauert vom Elend, sondern verzweifelt, halsstarrig wie ein Nagel, der spitz aus einer Kiste heraussteht, und an dem sich alle Vorübergehenden die Kleider zerreißen. Der Nagel aber weicht nicht, er sticht und reißt jeden in die Haut, der unvorsichtig in seine Nähe kommt. So stand diese Gestalt seit Monaten von Mitternacht bis zum Morgengrauen und wich nicht und änderte ihren Standplatz nie.

Sie hatte keinen wirklichen Blick in ihren Augen. Trotzdem sie mich anstarrte, schien sie mich nicht zu sehen. Sie horchte nur, immer weilte ihre Aufmerksamkeit nur in ihren Ohren. Man merkte es ihr aber an, dass sie geschäftsmäßig, auf Bestellung und für Bezahlung dastand, denn sie zeigte in Haltung und Miene ärmlich weiblichen Pflichteifer.

„Sagen Sie mir,“ fragte ich laut und dabei lächelnd und blieb eine Sekunde im Gehen stehen, „warum um Gottes willen warten Sie Nacht um Nacht bis zum Morgen hier? Ich habe Sie nun schon oft beobachtet. – Dürfen Sie es nicht sagen?“ fuhr ich fort, als sie schwieg. Sie hatte mich einen Augenblick von der Seite angesehen, beinahe ebenfalls belustigt wie ich, dann aber starrte sie mit abgewendetem Gesicht nach einer andern Himmelsrichtung, wie ein Hund, den man anredet, und der fortsieht und sich besinnt, ob er böse werden soll oder nicht.

„Na, wenn Sie es nicht sagen wollen,“ sagte ich gedehnt und wartete, um ihr Zeit zu lassen. Sie aber sah immer starr in die Seitenstraße und rührte sich nicht.

Sie hatte mich einen Augenblick von der Seite angesehen, beinahe ebenfalls belustigt wie ich, dann aber starrte sie mit abgewendetem Gesicht nach einer andern Himmelsrichtung, wie ein Hund, den man anredet, und der fortsieht und sich besinnt, ob er böse werden soll oder nicht.

„Na, wenn Sie es nicht sagen wollen,“ sagte ich gedehnt und wartete, um ihr Zeit zu lassen. Sie aber sah immer starr in die Seitenstraße und rührte sich nicht.

„Wenn Sie nichts sagen dürfen –,“ lachte ich und ging langsam und nahm mir vor, wenn nicht heute, dann doch morgen von neuem zu fragen. Aber diese Frau würde sicher nie antworten, sagte ich mir zugleich. Sie musste ihr Geld verdienen und verdiente es nur, wenn sie schwieg und horchte. Mir schien, man hätte ihr ein Stemmeisen zwischen die Lippen stoßen können, sie hätte keinen Laut von sich gegeben und den Mund nicht geöffnet. Dieses war mein Eindruck. Welch schrecklicher Gefangenenwärter war sie! Und wessen Gefängnis mochte sie bewachen? –

Ich bog in die Seitenstraße und ging bis zur Potsdamer Straße zurück. Dort fand ich die Dame im Schatten eines tiefen Haustores, auch stand ein Automobil am Straßenrand, dessen Tür offen war.
Ich schüttelte von weitem den Kopf, und die Fremde nickte und kam mir entgegen. „Ich wusste, dass diese Kreatur nichts verraten würde,“ klagte die Dame enttäuscht. „Ich habe sie neulich bereits selbst gefragt und habe sie befragen lassen, aber sie antwortet niemandem. Sie bewacht nämlich die Haustüre einer unglücklichen Freundin von mir. Und ich möchte wissen, ob der ungetreue Mann meiner Freundin oder andere Leute diese reinste aller Frauen beobachten lassen, um sie in Verdacht zu bringen.“ Sie dankte mir dann und entschuldigte sich und ging zum Auto, das ein Privatwagen war. Ich hatte das Fahrzeug vorher in meiner Überraschung, und da ich in Gedanken am Schaufenster bei dem Mammosettäffchen gestanden hatte, gar nicht bemerkt. Der Wagenschlag wurde vom Kutscher zugeworfen, und die Dame flog wie der Nachtwind aus meiner Sehweite fort. Ich stand und wunderte mich eigentlich gar nicht. Denn dass ein Geheimnis, eine Grausamkeit, eine Ungerechtigkeit mit der geheimnisvollen nacht wachenden Kreatur drüben um die Straßenecke in Verbindung stand, das hatte ich mir schon lange gedacht.

An einem der nächsten Abende begleitete ich eine mir befreundete Dame vom Künstlertheater nach Hause, und da es eine sternhelle Nacht war, wollte meine Begleiterin nicht fahren, sondern sie wollte schlendern und die Nachtluft atmen. Wir kamen in der Nettelbeckstraße an dem Schaufenster eines Juweliers vorüber, das die ganze Nacht über beleuchtet dasteht. In diesem Laden gibt es nur alte Schmucksachen, alte Familienschmuckstücke, Familiensilber, altmodische Fingerringe. Da sind viele ergraute Perlen, müde gewordene Edelsteine, graue matte Rosensteine in grauen, trüb gewordenen Silberfassungen.

Wir standen und ließen unsere Augen wühlen und freuten uns, uns gegenseitig zu überraschen mit unserer Vorliebe für die verschiedenen Steine, indem wir in allen Verstecken des Schaufensters nach besonders edlen Fassungen und besonders schönen Schmuckstücken suchten.

Bei diesem lässigen Spiel kam mir der Gedanke, dass die alten Schmuckwaren hinter der Glasscheibe mehr Sorge als Freude in sich trügen, und dass das Schaufenster aussah wie voll Gefangener, die da, herausgerissen aus ihren Lebenswegen, warten mussten, bis sie aus dem Fenster befreit würden, bis sie wieder an warmen Menschenhänden, an zarten Frauennacken, in Frauenhaaren und an Frauenwangen leuchten, aufleben und frei sein durften. Denn das Leben der Steine beginnt erst, wenn sie in Schönheit getragen werden, bei festlichem Licht und festlichem Blut.

Und ich musste bei den alten gefangenen Edelsteinen an die Schaufenster voll gefangener Vögel, Blumen und Affen denken.

Ich sagte dieses zu meiner Begleiterin, und im Anschluss an die Erzählung von meinen nächtlichen Schaufenstern berichtete ich ihr auch mein Erlebnis mit der Dame und der Aufpasserin, die jenes Haus allnächtlich bewachte.

Meine Freundin wollte sofort, dass wir die Aufpasserin besuchen sollten. Wir kamen dann vor jenes Haus, aber wir vermieden die Häuserseite und gingen unter den winter kahlen Bäumen der anderen Straßenseite am Rande eines schwarzen Kanalwassers entlang.

Wir sahen die Frau wieder horchend am Eisengitter des Vorgartens stehen, oben aber in der Villa, deren Tür die Aufpasserin ins Auge gefasst hatte, waren zwei erleuchtete Fenster.

Meine Begleiterin, die ein sehr feines Gehör besitzt, sagte plötzlich zu mir: „Hören Sie doch, im Hause singt eine Frauenstimme!“

Wir standen hinter einem breiten Baumstamm still, und in den Pausen, die zwischen dem Lärm vorübersausender Autos nur sekundenweise eintraten, hörten wir einen wundervollen Gesang. Dazu die feine Begleitung eines Instrumentes.

Ich hätte die Autos aufhalten mögen, die sich immer wieder an dem Kanal und der Baumreihe entlangstürzten und die mich nur kleine Stücke des großen Liedes auffangen ließen.

„Eine Sängerin,“ sagte meine Begleiterin mit begeisterten Augen. „Und zwar muss es eine große Sängerin sein, denn ihre Stimme ist herrlich.“ „Sie singt,“ sagte ich, „sie singt so erschütternd und ergreifend. Es ist, als schluchzt sie die Töne, als wäre sie eine weinende Quelle in einem heiligen Hain, wo die Bäume dunkel und feierlich nicht rauschen dürfen, solange die Quellenstimme singt.“

Wir standen lange still. Dann verdunkelte sich oben das eine Fenster, und für einen Augenblick erschien der dunkle Umriss einer schön gebauten Frauengestalt hinter dem Vorhang, die in Haltung und Wuchs edel war wie ihr Lied. Es war eine hoheitsvolle mütterliche Erscheinung. Der Kopf schien in den bestirnten Nachthimmel zu schauen, und mir war, als trüge sie noch die Rhythmen des Liedes wie große Schwingen an ihrer aufgerichteten Gestalt. Das Aufpasserweib unten am Vorgarten stierte hoch und ging langsam, wie beunruhigt, einige Schritte von der Haustüre fort. Dann wurde nach einer Weile das Licht oben ausgelöscht. Das Haus lag wie ein toter Käfig bei den andern Häuserkäfigen. Und die Aufpasserin stand wieder an ihrem Platz wie eine Schildwache. Wir gingen dann weiter.  Meine Begleiterin war nachdenklich geworden. Sie schien im Geist in jenes Haus eingedrungen zu sein, um die bewachte und singende Frau dort auszuforschen. Aber sie schien dabei ebenso wenig eine Antwort zu bekommen wie ich damals, als ich die Aufpasserin in jener Nacht gefragt hatte.

„Sie ist unglücklich und kann dabei noch singen, wunderschön singen, verstehen Sie das?“ fragte sie mich dann.

„Das tun die Nachtigallen auch, die unglücklich sind, wenn sie eingesperrt sind, sie singen um so
schöner, je dunkler es um sie wird,“ musste ich erwidern. „Aber warum ist sie bewacht, wenn sie engelrein ist, wie ihre Freundin sagte? Verstehen Sie das?“ fragte sie mich hartnäckig weiter.

„Der Schuldige belauert immer den Unschuldigen. Ihr Mann soll ihr untreu sein, hat jene Dame neulich nachts gesagt,“ suchte ich zu erklären.

„Aber warum trennen die beiden sich nicht, warum? Können Sie mir das erklären?“

„Das kann ich nicht erklären,“ sagte ich darauf.

„Aber Sie müssen es mir erklären,“ bat meine Begleiterin ängstlich. „Ich fühle, ich kann in dieser Nacht nicht schlafen und werde immer an jene singende Frau denken müssen, die ihren Gram, ihren Herzkummer und ihre Einsamkeit sich fortsingen muss.“

Und welche Stimme, dachte ich bei mir: so singen nur die Erzengel vor Gottes Thron, so mächtig, wenn sie aufweinen über die Schmerzen der Welt.

„Erklären Sie mir das Geheimnis! Erklären Sie mir, wie kann man Ungerechtigkeit erdulden, ohne sich zu wehren?“

„Wie wehren sich die gefangenen Singvögel, wie wehren sich wehrlose Frauen? Sie singen aus Notwehr, wenn sie Stimme und angeborene Musik in sich tragen; sie singen sich ihr Weh vom Leibe. Sie singen sich vom Gift der Qualen frei. Anders wehren sich die, die innerlich singen können, nie.“



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Geschichte: "Nächtliche Schaufenster" Max Dauthendrey, aus: Geschichten aus den Vier Winden",
Seite 173-194.

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