Geschichten
Max Dauthendey
An eine Sechzehnjährige
Wenn ich an Oda denke,
wird mein altes Herz süß wie eine Blume, die man sich gedankenlos
zwischen die
Zähne steckt und am Stiel hin und her dreht, während man eine
selbsterfundene
Melodie ohne Anfang ohne Ende, nur einem selbst hörbar, vor sich
hinsummt.
Oda ist knapp sechzehn
Jahre alt.
Die Luft um Odas Augen ist
ohne Licht, nicht bloß, weil Sechzehnjährige eine Binde tragen, da sie
mit dem
Leben noch Blindekuh spielen, sondern weil die Sonne, die so viele
Millionen
Jahre alt ist, für dieses Alter gar nicht aufgehen mag. Denn sie hat
für dieses
Alter gar kein Licht, das jung genug wäre.
In Odas Nähe reizt mich
vor allem immer eine gewisse natürliche und doch jungfräulich mystische
Dunkelheit, in der Oda sich selbst Licht spendet. Nur ein zerstreutes
Licht ist
um sie, nicht mehr als um ein Küken im Ei, ehe es die Schale zerbrochen
hat.
Und doch – wie glänzen
Odas mohnrote Augen! Ich behaupte, die Jugendliche hat mohnrote Augen.
Ich
fühle Röte und viele Träume in ihren Augen, Träume, wie nur ein
Opiumraucher
sie haben kann.
Wenn Oda dieses lesen
würde, würde sie finden, dass ich alles das, was ich von ihr schreibe,
über
mich selbst schreibe. Denn sie glaubt sich klar zu sehen wie eine
Fotografie.
Das mag sein, ich gebe ihr recht. Ich beschreibe nicht Odas Augenbild,
sondern
ihr Wirkungsbild.
Ich habe noch niemals
Frauen sehen, sondern stets nur fühlen können. Ich fühle sie mit den
Augen,
fühle sie mit den Ohren, fühle sie mit dem Blut.
Liebe Oda, da du dich also
nicht fühlen kannst, wie das Feuer sich nicht als heiß und hell fühlt,
das Wasser
sich nicht selbst als nass und weich fühlt, – so musst auch du, wenn du
dieses
einmal über dich lesen wirst, mir glauben, wie du von mir gefühlt wirst.
Du möchtest Schauspielerin
werden, und ich zittere für dich, dass du Wege gehen musst, die dich
weglos wie
einen Kometen in eine Irrwelt werfen können.
Aber du willst, und alle
wollen mit dir, was du willst. Und wenn ich das bedenke, müsste
ich
eigentlich nicht mehr für dich zittern, denn deine Wege können
höchstens
Umwege, aber keine Abwege werden, wie ich dich kenne. Wenn du nur immer
weißt,
dass du willst.
Du kommst und setzt dich,
wenn alle Damen in deiner Mutter Teestunde schon eifrig plaudernd, das
Zimmer
unruhig wie ein auf- und abwankendes Fahrzeug machen. Du setzt dich mit
deiner
sechzehnjährigen Mädchenruhe in einen leeren Diwanwinkel und hast deine
Glieder, wie nackt ohne Kleid, ohne Bewusstheit, mitgebracht und hast
nicht
deinen Körper vergessen, wie viele der viel zu viel gekleideten Damen
es tun.
Dein Mund redete noch
nicht, auch deine Glieder reden noch nichts. Du fühlst auch noch
nichts. Und du
bist da in deiner Dunkelheit vor mir, von deiner Mutter mit Sorgfalt in
einfache
zarte Kittel aus Seide gekleidet. Neulich war es grüne, herb grüne
Seide, deren
grün nichts gemein hatte mit Pflanzen oder Metallen oder Tierfarben. Es
war ein
fernweltliches grün, weil aus dir ein Erlebnis strahlte. Du kamst aus
einer
Welt her, wo eine grüne Sonne geschienen hatte, und davon warst
du noch feierlich zart glänzend und lieblich leuchtend.
Du sitzt auffällig in
deiner Unauffälligkeit vor mir, und ich höre alles, was du nicht
redest, lauter
als rundum die glänzenden Reden der Sprechenden. Dein Herz aber ist
flüssig,
wenn es so, nichts sprechend, mit uns allen und mit niemandem spricht.
Während
uns die Teetassen in den Fingern zittern und der Witz der Nachbarn uns
benachrichtigen will von Geschehnissen, die uns anfallen, bald kalt,
bald
glitzernd von Neugier, Eitelkeit und geistreicher Gewandtheit, bist du,
Oda,
verschwunden und wieder erschienen. Es rief dich irgend ein göttlich
zweckloser
Zweck.
Neulich, als ich zum
ersten Mal seit Jahren wieder zu euch zu Besuch kam, war es der kleine
zahme
Kanarienvogel, den du in der Hand brachtest und mir auf den Ärmel
setztest; und
du lachtest, als ich verwundert aufschaute.
Warum brachtest du nicht
alle Kanarienvögel der Stadt, damit ich dich hätte tausendmal lachen
hören
können! Ich sah den zahmen kleinen Vogel kaum, ich fühlte nur mein Herz
schmerzen, weil du nur so kurz gelacht hattest, und weil, wenn du laut
wirst
wie die andern, ich dann unendlich viel Wirklichkeit von dir
erleben
möchte, von deinem unwirklichen und noch weltfernen Dasein.
Bei meinem zweiten Besuch
fand ich dich, ein Tabakhäufchen zwischen zwei Fingern zu einer kleinen
Kugel
drehend, am Schreibtisch deines Vaters, und du stopftest eine kleine
japanische
Silberpfeife, die du dann rauchtest. Und du lachtest wieder kurz auf,
als ich
aus dem Nebenzimmer von den andern fortgegangen war, von Tee und Musik,
und
dich fand. Wie ein Eichhorn in einem Waldbusch versteckt, so kauertest
du auf
der Ottomane unter dem blauen Nebel des Tabakrauches und ließest dich
nicht
stören. Du lachtest einmal nur dieses kurze, gestoßene Lachen, und
wieder
schmerzte durch einen kleinen Ruck mein großes altes Herz, weil du
einmal und
nicht tausendmal lachen konntest. Weil die Lust so kurz ist, die du
anschlägst
und auslöschst.
Warum schmerzte aber mein
Herz nicht, als du ein andermal am gleichen Schreibtisch, ans Telefon
gerufen,
mit einem jungen Kameraden lachtest? Er wollte dich mit andern jungen
Damen abholen
und zum Eisplatz zum Schlittschuhlaufen begleiten. Hinter dir aber
stand dein
Vater wie ein lang gen die Zimmerdecke gezeichneter
Schatten und lächelte und war neckisch und sagte dir, da du um eine
Antwort am
Telefon verlegen warst, dass du absagen müsstest. Der Bursche am
Telefon sei
fad und nicht klug genug für dich. Du lachtest kurz auf, aber ich
fühlte nichts
bei diesem Lachen, diesmal nicht den Seufzer, nicht den zitternden
Wunsch, dich
noch mehr lachen zu hören.
Und wieder an einem andern
Sonntag, zu einer andern Nachmittagsteestunde, als ein Freund eures
Hauses, ein
beweglicher, nicht alter, nicht junger Mann, vor dir hockte und vom
Theater
plauderte und du in einem Sessel, an die hohe Lehne zurückgedrückt, vor
dem
Sprecher saßest, da zitterte Schrecken in mir. Denn der Erzähler war
ein
gewandter Frauenverführer, und er war geistreich, weltlustig und zielte
mit
seinen Augen auf dich wie ein geübter Revolverschütze auf eine Scheibe.
Und wie
eine Zielscheibe flach lehntest du, in den Sessel tief zurückgedrückt,
an der
Sessellehne, und diese deine Stellung war jenem Mann Triumph genug. Und
gleich
wandte er sich an deine Mutter und machte den Vorschlag, dich mit ihm
die Probe
eines neuen Stückes besuchen zu lassen, der er beiwohnen wollte.
Und ich sah seinen
vorgebeugten, glatt rasierten Kopf, der wie ein Straußenei unterm
Kronleuchter
glänzte, und sah, wie er mit Eifer deine Mutter davon überzeugte, dass
diese
Theaterprobe dir nützen würde für deine Theaterkenntnis, die du dir
aneignen
möchtest.
Und es wurde verabredet,
dass du an einem der nächsten Morgen um 11 Uhr in seine Loge kommen
solltest,
um die Probe zu sehen. Er hob den Zeigefinger und sagte:
„Aber es darf kein
Geräusch gemacht werden, denn die Regie ist streng, und es darf
eigentlich
niemand wissen, dass wir zur Probe kommen. Aber im dunkeln Theaterraum
und in
der finsteren Loge wird niemand uns finden, wenn wir ganz leise sind.“
Ich sah dich bereits im
Geist lautlos in jener dunkeln Loge und fühlte, wie du neben deinem
Verführer
im Dunkeln kaum zu atmen wagtest aus Lust am Theater, wie jener aber
kaum zu
atmen wagte aus Lust an dir.
Es waren drei Tage bis zu
jenem Tage der Verabredung, die du, Oda, mit dem andern hattest. Und in
jeder
Nacht von diesen beiden Nächten, die zwischen den drei Tagen lagen,
wachte ich
auf und horchte.
Ich hörte zuerst nur ferne Automobile durch die
todstillen] Straßen
surren. Ich fühlte aber dann, wie sich die Häuser auflösten und wie sie
ihre
Mauern und ihre Steine nach mir warfen. Die ganze große Stadt steinigte
meine
Brust. Ich stöhnte, und morgens erwachte ich wie zerschlagen. Und
mitten am
Tage in meiner Arbeit wollte ich ans Telefon gehen. Es war mir, als
müsste ich
deine Mutter rufen und weiter nichts zu ihr sagen als: „Hilfe, Hilfe!“
wie
einer, der ein Unglück sieht und ratlos ist.
Zufällig hörte ich dann
später von deiner Mutter, du würdest doch nicht zu jener Theaterprobe
gehen.
Aber ich glaubte es nicht. Warum glaubte ich es nicht? Warum atmete ich
nicht
auf? Ich glaubte es nicht, weil du ja doch deine Umwege oder Irrwege
gehen musst,
wie wir alle sie gingen, denn keine andern führen ins Leben.
Als ich nach Wochen wieder
einmal zu deinem Vater kam, nötigte er mich, zum Mittagessen zu
bleiben. Ganz
flüchtig sollte der Besuch sein, denn wir hatten nur geschäftlich zu
sprechen.
Du warst mit deiner Mutter
in der Stadt, und ihr machtet an diesem Tage andere Besuche und wart
nicht zum
Essen zu Hause.
Dein kleiner Bruder
Nickel, der flinke und geweckte
Junge, sprang mit seinem graublonden Lockenkopf mitten beim Essen vom
Tisch auf
und holte plötzlich den kleinen Kanarienvogel aus dem Bauer und setzte
ihn auf
das Tischtuch. Dort spazierte das hellgelbe Vögelchen zwischen dem
weißen
Porzellan und den Kristallgläsern und um das Silbergeräte und pickte
und lugte
mich mit einem Auge an.
Der kleine Kanarienvogel
war erbärmlich anzusehen. Ein Beinchen war ihm gebrochen, das schleifte
er nach
sich. Aber der Bruch war schon geheilt und schmerzte ihn nicht mehr.
Doch sein
Köpfchen war ganz kahl. Er hatte alle Federn am Kopf verloren, und man
sah, was
man sonst nie sehen konnte, die großen Ohrlöcher des Vogels zu beiden
Seiten
des Köpfchens. Sie waren im nackten Schädel wie Löcher, durch die eine
Kugel
gegangen war.
Wie viel hat dieser Vogel
gefühlt mit diesen Ohrlöchern? Wie viel Weh- und Wohllaute zogen durch
den
kleinen Schädel in das Herz ein?
Er hat Oda lachen und
weinen gehört. Er hat Oda tanzen gehört und auch gehört, wie sie
aufstampfte im
Zorn. Er hat Oda besungen, wenn er andächtig wurde.
So gerupft gehen wir alle
aus der Lebensandacht hervor, dachte ich bei mir. Früher oder später
zieht das
Herz einen geknickten Fuß nach. Oder man verliert die Locken des Mutes.
Nach dem Essen, als ich
noch einen Augenblick in deines Vaters Schreibzimmer im Ledersessel
saß, las
und rauchte und auf deinen Vater wartete, der sich zum Ausgehen umzog,
da tönte
des gerupften blankschädligen Vögeleins Singstimme aus dem Nebenzimmer.
O, er sang, als wäre er
gerührt über sich selbst. Er sang so schmelzend und zärtlich, als hätte
dein
Bruder Nickel einen Spiegel geholt und der Kanarienvogel hätte sein
verunglücktes Bild im Glase gesehen. Und er sang, um den trauernden
gerupften
Vogel im Spiegel zu trösten, sein lebens süßestes Lied. Denn er
erkannte sich
selbst nicht und glaubte für einen Fremden zu singen.
Da hätte ich gewünscht,
Oda, du hättest mit meinen Ohren hören, mit meinen Augen sehen können.
Ich habe Wiedersehen
gefeiert mit eigenem Leid. In deinen sechzehnjährigen Augen sehe ich
meine
eigenen Gebrechen wie in einem Spiegel, alle Wunden, die mir das Leben
angetan.
An einem der nächsten
Abende, zu dem ich mich mit deinen Eltern verabredet hatte, wurde ich
zu Hause
bei mir ans Telefon gerufen.
Als ich Antwort gab, rief
mir eine Stimme zu: „Ich bin es!“
„Wer?“ fragte ich
ahnungslos.
„Ich, ich, ich,“ riefst du
mir zu, und es belustigte dich, dass ich deine Stimme nicht gleich
erkannte.
Wie seltsam, dass ich
deine Stimme nicht wiedererkannte!
Aber da lachtest du das
kurze Stoßlachen, das immer wieder zu rasch auslöscht.
Da erkannte ich dich
wieder.
Noch
oft im Leben werde
ich dich nicht erkennen, wenn du sprichst, aber ich hoffe, dass ich
dich immer
erkennen werde, wenn du lachst.
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Textgrundlage:"An eine Sechzehnjährige" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus
den Vier Winden", Seite 195 - 207.
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