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Literatur


04.3


Geschichten

Max Dauthendey


 Zur Stunde der Maus I


In einer Stadt der Provinz hatte ein Südfrüchtenhändler einen Laden eingerichtet, der sich über einem tiefen Keller befand, zu welchem eine Falltüre hinunterführte.

Aus diesem Keller kamen jede Nacht die Mäuse in Scharen in die Südfrüchtehandlung herauf. Sie nagten dort die schönen, in Seidenpapier eingewickelten Kalvillenäpfel an, sie fraßen Datteln und Feigen, Rosinen und Bananen und schonten auch nicht die jungen Gemüse und die Maltakartoffeln.

Keine Ware, die sich in der Südfrüchtehandlung befand, war vor den kleinen zudringlichen Nagetieren zwischen Mitternacht und Sonnenaufgang sicher.

Solange nachts Lärm auf den Straßen war und die Wagen fuhren, hielten sich die Mäuse noch still im Keller. Aber sobald es Mitternacht geschlagen hatte und es still in jener Straße wurde, kamen sie in Scharen, vergnügten sich an den süßen Vorräten und feierten wahre Fressorgien, deren Spuren den Südfrüchtenhändler jeden Morgen beim Betreten des Ladens in Verzweiflung setzten.

Den Laden zu räumen und einen anderen zu beziehen, das ging nicht gut an, da hier im Mittelpunkt der Stadt ein gutes Absatzgebiet war und dem Händler durch einen Umzug wahrscheinlich viele Kunden verloren gegangen wären.

Und so versuchte er, sich auf alle Weise gegen die Mäuse zu schützen. Er schaffte sich Katzen an, aber er musste sie wieder abschaffen, da es vorgekommen war, dass die Tiere in der Nacht den Ladenraum verunreinigt hatten und der Geruch davon, der am Morgen nicht auszutreiben war, die Käufer entsetzt hatte.

Er schaffte sich dann Hunde, Rattenfänger, an. Aber diese stürmischen Tiere schlugen in den Nächten ein wildes Gebell auf, wenn sie hinter den Mäusen herjagten, und sie warfen dabei, wenn sie über die mit Obst gefüllten Körbe sprangen, Früchte und Körbe über den Haufen, sodass der Händler auch die Hunde wieder abschaffen musste, weil die Nachbarn sich über das nächtliche Gebell beschwert hatten und der Schaden, den die hetzenden Hunde anstifteten, dem Schaden der Mäuse gleichkam.

Gift gegen die Mäuse zu legen, war nicht ratsam, da die halb vergifteten Tiere das Gift über die Esswaren verschleppen konnten und dann großes Unglück durch die Vergiftung von Früchten hätte entstehen können.

So blieb dem armen, von Mäusen geplagten Südfrüchtenhändler nichts übrig, als sich um Mitternacht, zur Stunde der Maus, in den Ladenraum zu begeben und, versehen mit einem Stock, seine Fruchtkörbe selbst zu bewachen und durch Händeklatschen und Fußstampfen die eindringenden Mäusescharen zu verjagen.

Er allein konnte nicht Nacht um Nacht wachen, und so teilte er sich mit seiner Frau in die Nachtwachen. Aber dieses ermüdete auf die Dauer die beiden sehr.

Da kamen sie auf den Gedanken, eine entfernte Verwandte, die gerade eine Stellung suchte, zu sich ins Haus zu nehmen, damit diese die Mäusewache jede dritte Nacht übernähme.

Der Südfrüchtenhändler hatte es sich aber zur Pflicht gemacht, manchmal nachzusehen,  wenn das junge Mädchen die Wache hatte, ob es nicht eingeschlafen wäre.

Er traf das Mädchen aber niemals schlafend an, denn es vertrieb sich die Zeit mit Lesen von Balladen und Romanzen, für die es eine Vorliebe hatte.

Mit der Zeit waren dem Händler die Augenblicke, die er zur Stunde der Maus mit dem jungen Mädchen verplauderte, wenn sie im Laden zusammen hinter die Körbe schauten, um die kleinen Ladenräuber zu verjagen, oder wenn sie ihm eine ihrer Romanzen vortrug, die sie bald alle auswendig kannte und die sie bei der Nachtwache laut hersagte, damit sie mit ihrer Stimme die Mäuse verjagte, – so zur angenehmen Gewohnheit geworden, dass er die Minuten im Laden unbewusst immer länger ausdehnte und sich eines Nachts klar wurde, dass er sich in das junge Mädchen verliebt habe.

Das kam, als das junge Fräulein ihn eines Nachts, da er wieder lange ihren Balladen zugehört hatte und noch eine Romanze zu hören wünschte, daran erinnerte, es seit Zeit, dass er wieder hinauf ins Schlafzimmer zu seiner Frau ginge. Und sie hatte lachend hinzugesetzt, sie wisse, dass er recht glücklich verheiratet wäre.

Dabei hatte sie den Kalvillenapfel, den er als den schönsten für sie ausgesucht und ihr für ihren Balladenvortrag zum Geschenk gemacht hatte, vorsichtig wieder in das schützende Seidenpapier eingewickelt und hatte ihn auf die Apfelpyramide zurückgelegt, von wo ihn der Händler genommen hatte.

„Für mich sind weniger schöne Äpfel auch gut genug. Auch wird sich vielleicht Ihre Frau ärgern, wenn ich den besten Apfel, der im Laden ist, aufesse.“

Als sie dieses gesagt, hatte sie leise geseufzt, und der Mann war aus dem Laden gegangen. Vorher hatte er ihr noch lachend zugerufen:

„Natürlich bin ich glücklich verheiratet, sogar sehr glücklich.“

Aber seit dieser Stunde, seit dieser Versicherung seines Glückes, war der Mann von einer Unruhe geplagt, die ihn unglücklich machte. Es war ihm, als habe er im Augenblicke der öffentlichen Feststellung seines Eheglückes den Gipfelpunkt dieses Glückes schon überschritten. Denn er war abergläubisch und glaubte bestimmt daran, dass er mit dem Eingeständnis seines Glückes sich ein Unglück ins Haus eingeladen habe. Er war aber zugleich ein ehrlicher und treuer Mann, der seine ihm angetraute Frau niemals betrogen hatte, und dessen Herz heftig erschreckte, als es zur Stunde der Maus seine Augen dabei ertappte, wie sie mit Wohlgefallen an dem Gedichte vortragenden Mädchen im mitternächtigen Laden hängen geblieben waren, sodass er die Zeit und den Schlaf vergessen konnte.

Das junge Geschöpf mit seinen erdbraunen Augen und seinen tabakfarbenen Haaren passte gut zwischen die Pyramiden von Blutorangen und goldgrünen Zitronen und neben die weinduftenden Ananasfrüchte. Und oft am Tage, wenn der Südfrüchtenhändler die Kunden bediente und das Mädchen gar nicht im Laden anwesend war, schien ihm, als ob in den leichten flachen Holzschachteln die platt gepressten gedörrten Malagatrauben oder die in Silberstanniol eingewickelten spanischen Mandarinen den gleichen Duft ausströmten, der ihm vom Nacken jenes Mädchens, von den feinen Haarwurzeln ihrer tabakbraunen Locken entgegengeströmt war und den er deutlich kannte von den Augenblicken, da sie beide zur Stunde der Maus hinter den Säcken mit Maltakartoffeln und hinter den Körben voll von afrikanischem Blumenkohl mit Stöcken nach den Mäusen geschlagen hatten.

Des Händlers Unruhe wuchs allmählich, besonders seiner Frau gegenüber, die er wirklich aufrichtig liebte und die er mit seiner Untreue nicht betrüben wollte.

Er wusste sich keinen Rat mehr, wenn er sich auch vornahm, das junge Mädchen zur Zeit, da es Wache hatte, nicht mehr im Laden aufzusuchen. Doch nützte ihm das nicht viel, denn er traf es am Tage, und er konnte nicht daran denken, es fortzuschicken, weil es für die Nachtwachen unentbehrlich war; und er hätte auch gar keinen Grund gehabt als den seiner Zuneigung, den er aber natürlich kaum sich selbst eingestehen wollte und den er noch weniger jemand anderem offenbaren konnte.

Es geschah auch, dass, wenn er dem Mädchen jetzt am Tage auf der Treppe oder im Ladenraum oder in seiner Wohnung begegnete, er ein kühleres Gesicht aufsetzte, um seine Gefühle mit Gewalt zu verleugnen. Und ihm schien es dann, als ob das junge Mädchen durch sein verändertes Wesen verletzt wurde, und dass es ihn leicht verächtlich behandelte.

Es war ihm in der Erinnerung unangenehm, dass er zu dem Mädchen gesagt hatte, er sei glücklich, sehr glücklich. Er fand es roh und hässlich, dass er glücklich sein sollte, während das junge Geschöpf glücklos war und die Lebenstage nur für die bezahlte Arbeit kommen und gehen sah.

Bei einem größeren Einkauf einer Warensendung, die er immer in der nächsten Hafenstadt, wo die Frachtschiffe aus dem Süden ankamen, machen musste, wurde ihm der Vorschlag unterbreitet, ein Zweiggeschäft in jener großen Seestadt zu gründen, damit er die durch die Verpackung und Reise schon etwas beschädigten, aber noch guten Obstvorräte, denen eine Eisenbahnversendung nicht gut bekommen würde, an Ort und Stelle absetzen könnte.

Der Händler ging mit Freuden auf dieses Geschäftsunternehmen ein. Und da ihn die Fruchtversteigerungen oft nach der Hafenstadt gerufen hatten, so fand auch seine Frau es ganz in der Ordnung, wenn ihr Mann dem neuen Zweiggeschäft in der Hafenstadt vorstünde, wogegen sie den Laden in der Provinzstadt weiterführen wollte.

Für die Festtage des Jahres hatten die Eheleute verabredet, sich zu besuchen. Da aber die Frau zur Weihnachtszeit nicht von dem Laden abkommen konnte, erwartete sie der Mann erst zum Neujahrsabend, zur Silvesterfeier.

In der ersten Zeit der Trennung war der Südfrüchtenhändler von seinem neuen Geschäft so in Anspruch genommen, dass er weder seine Frau noch das junge Mädchen, das nach wie vor in dem Laden in der Provinz die Nachtwache hatte, vermisste.

Aber als das neue Geschäft im Gang war und sich eintönig abwickelte, kehrten seine Erinnerungen doppelt heftig zurück, und die Gerüche der Früchte im Laden, die ihre Süßigkeit durch die Luft verbreiteten, erweckten wieder, besonders, wenn er abends den Laden geschlossen, seine Rechnungsbücher durchgesehen und zugeklappt hatte und sich der Beschaulichkeit und dem Träumen überlassen durfte, das Bild des Mädchens und den Duft ihres Leibes, wie er ihm begegnet war vormals zur Stunde der Maus.

Er merkte, dass er sich sogar einzelner Verse jener Balladen und Romanzen erinnerte, die sie immer in der nächtlichen Stille im Kreis der Fruchtkörbe vorgetragen hatte, und die ihn auf ferne Inseln und zu fernen Ländern, unter fremdartige Bäume, zu feurigen und fremd gearteten Menschen versetzt hatten, deren Sprache voll auffallender Leidenschaftsworte lebhaft leuchtete, wie die Farben der Südfrüchte, die von den nüchternen Eisensäulen des Ladens, von den kahlen Kalkwänden und vom strengen Kassenpult wie bengalische Feuer abstachen, die man im nüchternen Tageslicht abbrennt.

Wenn der Mann dann aus dem Laden in sein Zimmer in einem der höher gelegenen Stockwerke des Hauses kam, wo er jetzt ohne Weib hausen musste, gingen die Düfte der südlichen Länder, die an seinem Rock hafteten, mit in seine Träume. Und er umarmte in seinem Schlaf nicht sein Weib, sondern er zog das junge Mädchen an sein Herz, während ihm ihre Brüste wie zwei frische Kalvillenäpfel entgegendufteten.

Und besonders zur Stunde der Maus lag er oft auf dem Kissen wach, mit den verschränkten Armen unter seinem Kopf, und stellte sich seinen Laden in der Provinz vor, wo eine der Gaslampen brannte und sie, die er ersehnte, mit hochgezogenen Beinen auf dem Drehstuhl beim Ladentisch saß und ihre Balladen sprach und dazwischen aufsprang und nach einer Ecke schlich, wo überall Mausefallen waren, die aber den Mäusen so bekannt waren, dass keine mehr Lust hatte, sich fangen zu lassen.

Dann sah er, wie sie sich bückte und eine Falle, die von selbst zugeklappt war, wieder aufstellte, wobei sie vielleicht den Vers hersagte:

Ein Held, des’ Herz wie Feuer war,
Ritt durch die Wälder sieben Jahr.
Verschwiegen hat er sieben Jahr,
Dass er ein Fraß der Flammen war.

Bald musste sich der Händler auch am Tage mit seinen verliebten Träumen beschäftigen. Und der Gedanke, dass seine Sehnsucht die Ersehnte vielleicht herziehen könnte, wollte nicht mehr von ihm weichen.

Er nahm sich endlich vor, einen Brief zu schreiben und seiner Frau zu sagen, dass er eine Hilfe im Laden brauche und dass er nicht immer die Ladentüre abschließen könne, wenn er stundenlang zu den Fruchtversteigerungen gehen müsse, und er wollte ganz harmlos im Briefe bemerken, dass sie ihm jene Verwandte schicken sollte.

Er hatte den Brief im Geist vielleicht tausendmal abgefasst, nachts und am Tag. Wo er ging und stand, schrieb er diesen Brief in Gedanken.

Aber er konnte sich nicht entschließen, die Feder in die Hand zu nehmen, die Tinte und das Briefpapier. Er wäre sich wie ein Verräter vorgekommen, Verräter an der Treue, die er seiner Frau halten wollte, und Verräter an seinem Herzen, das ehrlich bleiben wollte.

So schrieb er diesen Brief nur mit den Augen in die Luft. Er schrieb ihn abends stundenlang, wenn er seine Rechnungen abgeschlossen hatte, unter die Summen der Zahlen ins Hauptbuch, in das er brütend starrte. Er schrieb den Brief mit den Augen auf die Kistendeckel der Orangensendungen, wenn er das Kistenbrett in der Hand hielt und in Gedanken anstarrte, statt es in eine Ecke zu stellen. Er schrieb den Brief auf die rötlichen blanken Schalen der Blutorangen. Er schrieb den Brief an die leeren Kalkwände seines Verkaufsgewölbes, und er las ihn am Tag hundertmal, während er Früchte in die weißen Tüten hineinzählte, die er den jungen Mädchen und Frauen zureichen musste. Auf allen Frauenhänden, die die Fruchttüten aus seiner Hand empfingen, las er jenen Brief, den seine Augen unaufhörlich schrieben.



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Geschichte: "Zur Stunde der Maus" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden", Seite 209-240.

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