Geschichten
Max Dauthendey
Zur Stunde der Maus I
In einer
Stadt der Provinz hatte ein Südfrüchtenhändler einen Laden
eingerichtet, der
sich über einem tiefen Keller befand, zu welchem eine Falltüre
hinunterführte.
Aus
diesem Keller kamen jede Nacht die Mäuse in Scharen in die
Südfrüchtehandlung
herauf. Sie nagten dort die schönen, in Seidenpapier eingewickelten
Kalvillenäpfel an, sie fraßen Datteln und Feigen, Rosinen und Bananen
und
schonten auch nicht die jungen Gemüse und die Maltakartoffeln.
Keine
Ware, die
sich in der Südfrüchtehandlung befand, war vor den kleinen
zudringlichen
Nagetieren zwischen Mitternacht und Sonnenaufgang sicher.
Solange
nachts Lärm auf den Straßen war und die Wagen fuhren, hielten sich die
Mäuse
noch still im Keller. Aber sobald es Mitternacht geschlagen hatte und
es still
in jener Straße wurde, kamen sie in Scharen, vergnügten sich an
den süßen Vorräten und feierten wahre Fressorgien,
deren Spuren den Südfrüchtenhändler jeden Morgen beim Betreten des
Ladens in
Verzweiflung setzten.
Den Laden
zu räumen und einen anderen zu beziehen, das ging nicht gut an, da hier
im Mittelpunkt der Stadt ein gutes Absatzgebiet war und dem
Händler durch einen Umzug wahrscheinlich viele Kunden verloren gegangen
wären.
Und so
versuchte er, sich auf alle Weise gegen die Mäuse zu schützen. Er
schaffte sich
Katzen an, aber er musste sie wieder abschaffen, da es vorgekommen war,
dass die
Tiere in der Nacht den Ladenraum verunreinigt hatten und der Geruch
davon, der
am Morgen nicht auszutreiben war, die Käufer entsetzt hatte.
Er
schaffte sich dann Hunde, Rattenfänger, an. Aber diese stürmischen
Tiere
schlugen in den Nächten ein wildes Gebell auf, wenn sie hinter den
Mäusen
herjagten, und sie warfen dabei, wenn sie über die mit Obst gefüllten
Körbe
sprangen, Früchte und Körbe über den Haufen, sodass der Händler auch
die Hunde
wieder abschaffen musste, weil die Nachbarn sich über das nächtliche
Gebell
beschwert hatten und der Schaden, den die
hetzenden Hunde anstifteten, dem Schaden der Mäuse gleichkam.
Gift
gegen die Mäuse zu legen, war nicht ratsam, da die halb vergifteten
Tiere das
Gift über die Esswaren verschleppen konnten und dann großes Unglück
durch die
Vergiftung von Früchten hätte entstehen können.
So blieb
dem armen, von Mäusen geplagten Südfrüchtenhändler nichts übrig, als
sich um
Mitternacht, zur Stunde der Maus, in den Ladenraum zu begeben und,
versehen mit
einem Stock, seine Fruchtkörbe selbst zu bewachen und durch
Händeklatschen und
Fußstampfen die eindringenden Mäusescharen zu verjagen.
Er
allein
konnte nicht Nacht um Nacht wachen, und so teilte er sich mit seiner
Frau in
die Nachtwachen. Aber dieses ermüdete auf die Dauer die beiden sehr.
Da kamen sie auf den
Gedanken, eine entfernte Verwandte, die gerade eine Stellung suchte, zu
sich
ins Haus zu nehmen, damit diese die Mäusewache jede dritte Nacht
übernähme.
Der Südfrüchtenhändler
hatte es sich aber zur Pflicht gemacht, manchmal nachzusehen,
wenn das junge Mädchen die Wache hatte, ob es nicht eingeschlafen wäre.
Er traf das Mädchen aber
niemals schlafend an, denn es vertrieb sich die Zeit mit Lesen von
Balladen und
Romanzen, für die es eine Vorliebe hatte.
Mit der Zeit waren dem
Händler die Augenblicke, die er zur Stunde der Maus mit dem jungen
Mädchen
verplauderte, wenn sie im Laden zusammen hinter die Körbe schauten, um
die
kleinen Ladenräuber zu verjagen, oder wenn sie ihm eine ihrer Romanzen
vortrug,
die sie bald alle auswendig kannte und die sie bei der Nachtwache laut
hersagte, damit sie mit ihrer Stimme die Mäuse verjagte, – so zur
angenehmen
Gewohnheit geworden, dass er die Minuten im Laden unbewusst immer
länger
ausdehnte und sich eines Nachts klar wurde, dass er sich in das junge
Mädchen
verliebt habe.
Das kam, als das junge
Fräulein ihn eines Nachts, da er wieder lange ihren Balladen zugehört
hatte und
noch eine Romanze zu hören wünschte, daran erinnerte, es seit Zeit,
dass er
wieder hinauf ins Schlafzimmer zu seiner Frau ginge. Und sie hatte
lachend
hinzugesetzt, sie wisse, dass er recht glücklich verheiratet wäre.
Dabei hatte sie den
Kalvillenapfel, den er als den schönsten für sie ausgesucht und ihr für
ihren
Balladenvortrag zum Geschenk gemacht hatte, vorsichtig wieder in das
schützende
Seidenpapier eingewickelt und hatte ihn auf die Apfelpyramide
zurückgelegt, von
wo ihn der Händler genommen hatte.
„Für mich sind weniger
schöne Äpfel auch gut genug. Auch wird sich vielleicht Ihre Frau
ärgern, wenn
ich den besten Apfel, der im Laden ist, aufesse.“
Als sie dieses gesagt,
hatte sie leise geseufzt, und der Mann war aus dem Laden gegangen.
Vorher hatte
er ihr noch lachend zugerufen:
„Natürlich bin ich
glücklich verheiratet, sogar sehr glücklich.“
Aber seit dieser Stunde,
seit dieser Versicherung seines Glückes, war der Mann von einer Unruhe
geplagt,
die ihn unglücklich machte. Es war ihm, als habe er im Augenblicke der
öffentlichen Feststellung seines Eheglückes den Gipfelpunkt dieses
Glückes
schon überschritten. Denn er war abergläubisch und glaubte bestimmt
daran, dass
er mit dem Eingeständnis seines Glückes sich ein Unglück ins Haus
eingeladen
habe. Er war aber zugleich ein ehrlicher und treuer Mann, der seine
ihm angetraute
Frau niemals betrogen hatte, und dessen Herz heftig erschreckte, als es
zur
Stunde der Maus seine Augen dabei ertappte, wie sie mit Wohlgefallen an
dem
Gedichte vortragenden Mädchen im mitternächtigen Laden hängen geblieben
waren,
sodass er die Zeit und den Schlaf vergessen konnte.
Das junge Geschöpf mit
seinen erdbraunen Augen und seinen tabakfarbenen Haaren passte gut
zwischen die
Pyramiden von Blutorangen und goldgrünen Zitronen und neben die
weinduftenden
Ananasfrüchte. Und oft am Tage, wenn der Südfrüchtenhändler die Kunden
bediente
und das Mädchen gar nicht im Laden anwesend war, schien ihm, als ob in
den
leichten flachen Holzschachteln die platt gepressten gedörrten
Malagatrauben
oder die in Silberstanniol eingewickelten spanischen Mandarinen den
gleichen
Duft ausströmten, der ihm vom Nacken jenes Mädchens, von den feinen
Haarwurzeln
ihrer tabakbraunen Locken entgegengeströmt war und den er deutlich
kannte von
den Augenblicken, da sie beide zur Stunde der Maus hinter den Säcken
mit
Maltakartoffeln und hinter den Körben voll von afrikanischem Blumenkohl
mit
Stöcken nach den Mäusen geschlagen hatten.
Des Händlers Unruhe wuchs
allmählich, besonders seiner Frau gegenüber, die er wirklich aufrichtig
liebte
und die er mit seiner Untreue nicht betrüben wollte.
Er wusste sich keinen Rat
mehr, wenn er sich auch vornahm, das junge Mädchen zur Zeit, da es
Wache hatte,
nicht mehr im Laden aufzusuchen. Doch nützte ihm das nicht viel, denn
er traf
es am Tage, und er konnte nicht daran denken, es fortzuschicken, weil
es für
die Nachtwachen unentbehrlich war; und er hätte auch gar keinen Grund
gehabt
als den seiner Zuneigung, den er aber natürlich kaum sich selbst
eingestehen
wollte und den er noch weniger jemand anderem offenbaren konnte.
Es geschah auch, dass,
wenn er dem Mädchen jetzt am Tage auf der Treppe oder im Ladenraum oder
in seiner
Wohnung begegnete, er ein kühleres Gesicht aufsetzte, um seine Gefühle
mit
Gewalt zu verleugnen. Und ihm schien es dann, als ob das junge Mädchen
durch
sein verändertes Wesen verletzt wurde, und dass es ihn leicht
verächtlich
behandelte.
Es war ihm in der
Erinnerung unangenehm, dass er zu dem Mädchen gesagt hatte, er sei
glücklich,
sehr glücklich. Er fand es roh und hässlich,
dass er glücklich sein sollte, während das junge Geschöpf glücklos war
und die
Lebenstage nur für die bezahlte Arbeit kommen und gehen sah.
Bei einem größeren Einkauf
einer Warensendung, die er immer in der nächsten Hafenstadt, wo die
Frachtschiffe aus dem Süden ankamen, machen musste, wurde ihm der
Vorschlag
unterbreitet, ein Zweiggeschäft in jener großen Seestadt zu gründen,
damit er
die durch die Verpackung und Reise schon etwas beschädigten, aber noch
guten
Obstvorräte, denen eine Eisenbahnversendung nicht gut bekommen würde,
an Ort
und Stelle absetzen könnte.
Der Händler ging mit
Freuden auf dieses Geschäftsunternehmen ein. Und da ihn die
Fruchtversteigerungen oft nach der Hafenstadt gerufen hatten, so fand
auch
seine Frau es ganz in der Ordnung, wenn ihr Mann dem neuen
Zweiggeschäft in der
Hafenstadt vorstünde, wogegen sie den Laden in der Provinzstadt
weiterführen
wollte.
Für
die Festtage des
Jahres hatten die Eheleute verabredet, sich zu besuchen. Da aber die
Frau zur
Weihnachtszeit nicht von dem Laden abkommen konnte, erwartete sie
der Mann
erst zum Neujahrsabend, zur Silvesterfeier.
In der ersten Zeit der
Trennung war der Südfrüchtenhändler von seinem neuen Geschäft so in
Anspruch
genommen, dass er weder seine Frau noch das junge Mädchen, das nach wie
vor in
dem Laden in der Provinz die Nachtwache hatte, vermisste.
Aber als das neue Geschäft
im Gang war und sich eintönig abwickelte, kehrten seine Erinnerungen
doppelt
heftig zurück, und die Gerüche der Früchte im Laden, die ihre Süßigkeit
durch
die Luft verbreiteten, erweckten wieder, besonders, wenn er abends den
Laden
geschlossen, seine Rechnungsbücher durchgesehen
und zugeklappt hatte und sich der Beschaulichkeit und dem Träumen
überlassen
durfte, das Bild des Mädchens und den Duft ihres Leibes, wie er ihm
begegnet
war vormals zur Stunde der Maus.
Er merkte, dass er sich
sogar einzelner Verse jener Balladen und Romanzen erinnerte, die sie
immer in
der nächtlichen Stille im Kreis der Fruchtkörbe vorgetragen hatte, und
die ihn
auf ferne Inseln und zu fernen Ländern, unter fremdartige Bäume, zu
feurigen
und fremd gearteten Menschen versetzt hatten, deren
Sprache voll auffallender Leidenschaftsworte lebhaft leuchtete, wie die
Farben
der Südfrüchte, die von den nüchternen Eisensäulen des Ladens, von den
kahlen
Kalkwänden und vom strengen Kassenpult wie bengalische Feuer abstachen,
die man
im nüchternen Tageslicht abbrennt.
Wenn der Mann dann aus dem
Laden in sein Zimmer in einem der höher gelegenen Stockwerke des Hauses
kam, wo
er jetzt ohne Weib hausen musste, gingen die Düfte der südlichen
Länder, die an
seinem Rock hafteten, mit in seine Träume. Und er umarmte in seinem
Schlaf
nicht sein Weib, sondern er zog das junge Mädchen an sein Herz, während
ihm
ihre Brüste wie zwei frische Kalvillenäpfel entgegendufteten.
Und
besonders zur Stunde
der Maus lag er oft auf dem Kissen wach, mit den verschränkten Armen
unter
seinem Kopf, und stellte sich seinen Laden in der Provinz vor, wo eine
der
Gaslampen brannte und sie, die er ersehnte, mit hochgezogenen Beinen
auf dem
Drehstuhl beim Ladentisch saß und ihre Balladen sprach und dazwischen
aufsprang
und nach einer Ecke schlich, wo überall Mausefallen
waren, die aber den Mäusen so bekannt waren, dass keine mehr Lust
hatte, sich
fangen zu lassen.
Dann sah er, wie sie sich
bückte und eine Falle, die von selbst zugeklappt war, wieder
aufstellte, wobei
sie vielleicht den Vers hersagte:
Ein Held, des’ Herz wie
Feuer war,
Ritt durch die Wälder sieben Jahr.
Verschwiegen hat er sieben Jahr,
Dass er ein Fraß der Flammen war.
Bald musste sich der
Händler auch am Tage mit seinen verliebten Träumen beschäftigen. Und
der
Gedanke, dass seine Sehnsucht die Ersehnte vielleicht herziehen könnte,
wollte
nicht mehr von ihm weichen.
Er nahm sich endlich vor,
einen Brief zu schreiben und seiner Frau zu sagen, dass er eine Hilfe
im Laden
brauche und dass er nicht immer die Ladentüre abschließen könne, wenn
er
stundenlang zu den Fruchtversteigerungen gehen müsse, und er wollte
ganz
harmlos im Briefe bemerken, dass sie ihm jene Verwandte schicken sollte.
Er hatte den Brief im Geist
vielleicht tausendmal abgefasst, nachts und am Tag. Wo er
ging und stand, schrieb er diesen Brief in Gedanken.
Aber er konnte sich nicht
entschließen, die Feder in die Hand zu nehmen, die Tinte und das
Briefpapier.
Er wäre sich wie ein Verräter vorgekommen, Verräter an der Treue, die
er seiner
Frau halten wollte, und Verräter an seinem Herzen, das ehrlich bleiben
wollte.
So
schrieb er diesen Brief
nur mit den Augen in die Luft. Er schrieb ihn abends stundenlang, wenn
er seine
Rechnungen abgeschlossen hatte, unter die Summen der Zahlen ins
Hauptbuch, in
das er brütend starrte. Er schrieb den Brief mit den Augen auf die
Kistendeckel
der Orangensendungen, wenn er das Kistenbrett in der Hand hielt und in
Gedanken
anstarrte, statt es in eine Ecke zu stellen. Er schrieb den Brief auf
die
rötlichen blanken Schalen der Blutorangen. Er schrieb den Brief an die
leeren
Kalkwände seines Verkaufsgewölbes, und er las ihn am Tag hundertmal,
während er
Früchte in die weißen Tüten hineinzählte, die er den jungen Mädchen und
Frauen
zureichen musste. Auf allen Frauenhänden, die die Fruchttüten aus
seiner Hand
empfingen, las er jenen Brief, den seine Augen unaufhörlich schrieben.
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Geschichte: "Zur Stunde der Maus" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus
den Vier Winden", Seite 209-240.
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