Geschichten
Max Dauthendey
Aber wie man sich scheut,
mit bloßen Füßen durch brennendes Feuer zu gehen oder die bloßen Hände
in
helles Feuer zu legen, so scheute er sich, seine Hände und seinen
Willen dazu
herzugeben, den Brief zu schreiben und abzusenden, den Brief, der die
heimlich
Ersehnte zu ihm bestellen sollte.
Der Gefolterte suchte sich
mit der Zeit die brennende Sehnsucht nur dadurch ein wenig zu
erleichtern,
indem er tat, als ginge er auf die Forderungen seines Blutes scheinbar
ein. Er
ging, wenn es ihm seine Zeit erlaubte, in die Warenhäuser und kaufte
Dinge für
sein Zimmer ein, die er sonst nie für sich gekauft hätte, und die er
aufstellte
wie zum Empfang für diejenige, die er noch nie empfangen hatte. Er
kaufte
Kissen für das Sofa, unnütze Vasen, in die er Blumensträuße stellte,
die er
aber verwelken ließ wie die Stunden seiner Träume. Er kaufte
romantische
Bilder, mit denen er die Wände schmückte, kaufte Balladen- und
Romanzenbücher,
die er auf ein Bücherbrett aufreihte. Er kaufte Weingläser, eine
Porzellanschale für Kuchen, eine Kristallschale für Früchte und eine
große
seidene Bettdecke.
Er kaufte sich neben
seinen gewöhnlichen Zigarren, die er täglich rauchte, eine
Schachtel bester
und teuerster Havannastengel, die er nur dann rauchen wollte, wenn der
ersehnte
Besuch gekommen sein würde.
Mit diesen und noch
mancherlei Einkäufen beschwichtigte er das still schwellende
Sehnsuchtsfieber,
das in ihm umging wie ein unheimlicher Feueratem, der ihn entfachen
wollte.
Aber den Brief, den er
hätte schreiben müssen, schrieb er nicht.
Oft, wenn ihm ein Besuch
angezeigt wurde, fuhr er erschreckt zusammen und dachte, jenes Mädchen
könne
plötzlich auf seiner Türschwelle stehen, gerufen von den lautlosen
Hilfeschreien seines geknebelten Herzens.
Zum Silvester kam dann,
wie es verabredet war, seine ahnungslose Frau zu ihm zu Besuch.
Sie war, seit er den Laden
in der Hafenstadt aufgemacht hatte, noch nicht bei ihm gewesen. Und als
er sie
jetzt vom Bahnhof abholte und in sein Zimmer führte, wo von der Decke
eine rosa
Glasampel hing, die er angezündet hatte, da schlug die gute Frau
erstaunt die
Hände zusammen und vergaß, den Hut und den Mantel abzulegen. Sie drehte
sich
auf einem Fleck, mitten im Zimmer stehend, um sich selbst und ließ die
zerbrechlichen feinen Vasen mit Blumen auf sich wirken, die
schönen
gebundenen aufgereihten Bücher auf dem Bord, den Porzellanteller mit
Kuchen,
die Kristallschale mit Früchten, die vielen romantischen Bilder an den
Wänden.
Und als sie zuletzt gar die gleißende Seidendecke auf dem breiten Bett
bemerkte, da gingen ihr gerührt die Augen über, und sie umarmte ihren
Gatten
und bedankte sich, dass er so zärtlich alles für ihren Empfang
hergerichtet
hatte.
Der sagte nichts und
umarmte seine Frau wieder. Denn während er diese Dinge zum Schmuck des
Zimmers
alle eingekauft und aufgestellt hatte, hatte er auch da nie mit
Bewusstheit und
Offenheit sich eingestanden, dass er dies nicht für seine Frau, sondern
für das
junge Mädchen tat.
Er hatte wie ein
Schlafwandelnder gehandelt, getrieben von einer inneren Lust, sein
Zimmer zu
schmücken, handelnd zwischen Wachen und Träumen. Und wie er nun seine
Frau, die
er immer noch treu liebte und vor der er sich keine untreue Handlung
vorzuwerfen hatte, umarmte, schien es ihm wirklich einen Augenblick als
wahrscheinlich, dass er für sie und sich zur Silvesterfeier und
zum Wiedersehen
das Zimmer so sorgsam und festlich geschmückt hatte.
Am Abend gingen Mann und
Frau mit Bekannten in eine Weinstube, und dort tranken sie, bis es
zwölf Uhr
schlug und das neue Jahr anbrach. Und von Glühwein und Bowle erhitzt,
wurde der
Südfrüchtenhändler lustig und ausgelassen, wie ihn seine Frau selten
gesehen
hatte.
Als nun das neue Jahr mit
vielen „Prosit“ empfangen worden war, sehnte sich die Frau aus dem
lärmenden
Kreis der Menschen fort und dachte an das schön geschmückte Zimmer, das
sie
beide erwartete, das ihr Mann mit soviel Zärtlichkeit hergerichtet
hatte, und
wo sie ihm jetzt mit gleicher Zärtlichkeit zu danken wünschte.
Sie zupfte ihren Mann am
Ärmel, aber der schien an gar kein Nachhausegehen denken zu wollen und
trank
immer wieder seinen Freunden zu und ließ sich zutrinken und bestellte
neuen
Wein.
Aber es waren auch noch
andere Frauen im Kreise, die auch heimzugehen wünschten, und die Frauen
verabredeten sich untereinander und standen auf und setzten ihre Hüte
auf und
zogen ihre Mäntel an und traten dann
angekleidet vor die im Tabakrauch und Weindunst laut schwatzenden
Männer und baten
sie, heimgeführt zu werden.
Die Männer wollten auch
folgsam alle gehen. Nur der Südfrüchtenhändler wollte ans Aufbrechen
nicht
denken. Der saß auf seinem Stuhl fest und behauptete, er ginge nicht
zur Stunde
der Maus nach Hause, denn da gingen Gespenster bei ihm um.
„Was für Gespenster?“
fragten ihn alle.
„Mäuse und junge Mädchen,“
entfuhr es dem etwas Angetrunkenen.
Die Männer lachten und
warfen sich zwinkernde Blicke zu. Die Frauen aber trieben beharrlich
zum
Aufbruch an.
Die Frau des
Südfrüchtenhändlers war bei der Rede ihres Mannes plötzlich blass und
zitternd
geworden, und auf der Straße zog sie ihren Gatten auf die Seite:
„Was hast du da geschwatzt
von Gespenstern, von Mäusen und jungen Mädchen, die bei dir umgehen?
Nun weiß
ich es, für wen du das Zimmer so festlich geschmückt hast! Jedenfalls
nicht für
mich.“
„Was?“ sagte der
unschuldige Mann. „Was habe ich von jungen Mädchen gesagt?“ und er
hielt seinen
Hut in der Hand und ließ die eisige
Nachtluft seinen erhitzten Kopf abkühlen. „Du glaubst wohl gar, dass
ich junge
Mädchen nachts bei mir empfange?“
„Ja, was soll ich denn
anderes glauben?“ wimmerte die weinende Frau und drückte ihren Muff
vors
Gesicht. „Du hast es ja selbst vorhin vor allen Freunden gesagt, dass
zur
Stunde der Maus junge Mädchen bei dir umgehen.“
„Da habe ich im Weinnebel
Dummheiten gesprochen,“ verteidigte sich der Mann. „Mein Zimmer hat
niemals ein
anderer Frauenfuß betreten als der deinige, mit Ausnahme des alten
Weibes, das
dort Ordnung macht und täglich die Stube reinigt.“
„Ist das wahr?“ sagte die
Frau des Südfrüchtenhändlers und sah ihren Mann an und zog ihn am Arm,
damit er
ihr ins Gesicht sehen sollte.
„Ich schwöre es dir,“
beteuerte er. Aber er sah sie nicht an, sondern starrte hinauf in den
Himmel,
wo die Sterne wie Pyramiden aufgehäufter goldener Früchte glänzten.
Die Frau atmete auf und
lachte sich selbst aus, dass sie so schnell Übles gedacht hatte von
dem, den
sie immer als rechtschaffen und treu gekannt hatte. Und sie nahm sich
jetzt erst
recht vor, zärtlich zu ihm zu sein, da er nun doch das Zimmer nur für
sie so
schön geschmückt hatte.
Zu Hause, als sie den
Mantel abgelegt, sah sie, wie ihr Mann, nachdem er nach der Uhr
gesehen, nach
einem der Balladenbücher griff und es vom Bücherbord herunterlangte.
Und statt
sich auszukleiden, streckte er seine Beine auf dem Sofa aus und schlug
das Buch
auf und las für sich.
Die Frau entkleidete sich
inzwischen und kämmte ihr Haar am Spiegel aus, schlüpfte dann ins Bett
unter
die seidene Bettdecke und verhielt sich eine Weile mäuschenstill, um
abzuwarten, bis ihr Mann ausgelesen hatte.
Nach einer Weile klappte
er das Buch zu, und sie sah, wie er sich aus einer bisher ungeöffneten
Zigarrenschachtel eine große Zigarre holte und diese anzündete. Und als
sie den
fein duftenden Rauch roch, dachte sie bei sich: so gute Zigarren raucht
er doch
sonst nicht. Die hat er auch zu meinem Empfang gekauft.
Und sie nahm jede Rauchwolke,
die er von sich blies, als eine Huldigung dar.
Dabei kam ihr der Gedanke,
dass sie eigentlich noch gern einen Schluck schwarzen Kaffee
getrunken hätte. Und da fragte sie ihn:
„Hättest du nicht auch
gern ein Tässchen Kaffee zu deiner guten Zigarre?“
Da stand er auf und ging
zu einem kleinen Kredenzschrank, holte eine neue vernickelte
Kaffeemaschine und
zwei winzige Mokkatassen, stellte sie auf den runden Tisch unter die
Ampel und goss
Spiritus in den Brenner, nahm aus einer Büchse gemahlenen Kaffee und
schickte
sich an, den Kaffee zu bereiten, von dem sie gesprochen.
Sie sah vom Bett aus mit
Erstaunen seinen Händen nach, und plötzlich schienen ihr die Hände des
lautlosen Mannes, die da am Tisch handelten, die gespensterhaften Hände
eines
Traumwandlers zu sein. Und sie fühlte mit den Augen einer liebenden
Frau, wie
das Herz dessen, der da umherging, nicht im Zimmer anwesend war. Sie
wurde
wieder bestürzt und ratlos und fühlte, dass Gespenster umgingen hier im
Zimmer
zur Stunde der Maus, so wie es ihr Mann vorher beim Wein gesagt hatte.
Zugleich
wusste sie auch, dass ihr Mann sie niemals belügen konnte. Und sie
schaute in
die fremde Welt des fremd geschmückten Zimmers,
wo sie den, den sie liebte, nicht mehr erkannte. Nur wie ein Gespenst
saß er
dort auf dem Sofa. Auch sein Rauchen war unnatürlich und gezwungen.
Seine Augen
sahen in die Spiritusflamme, die da unter dem Kessel leise sauste, und
dabei
schienen sie die Flamme doch nicht zu sehen. Seine Ohren schienen auf
die
summende Kaffeemaschine zu lauschen und schienen doch noch anderes zu
hören.
Seine eine Hand aber streichelte unausgesetzt und wie abwesend den
Deckel des
Buches, das vor ihm lag. Und mit eifersüchtigem Liebessinn wurde die
Frau von
jenem Buche angezogen. Und als das Kaffeewasser kochte und ihr Mann an
die
Maschine trat, um den Kaffee in die Tassen einzuschenken, da stieg sie
leise
aus dem Bett und zog, scheinbar harmlos, das Buch vom Tisch an sich.
Sie
blätterte darin und erkannte sofort, dass es Balladen waren, die jene
junge
Verwandte, die sie daheim hatte, immer las und vortrug.
Sie wusste jetzt mit
raschem Gedankengang plötzlich, wer das Gespenst war, wer das junge
Mädchen
war, das um die Stunde der Maus im Zimmer ihres Mannes umging.
Sie fühlte, dass seine
Gedanken nur bei jener
Verwandten weilten, und sie wurde zornig, da sie glaubte, er habe sie
in jenen
Augenblicken, da er das Mädchen zur Nachtwache im Provinzladen
aufgesucht,
daheim schon betrogen.
Als der Mann mit der
gefüllten Kaffeetasse zu ihr ans Bett trat, wies sie den Kaffee zurück,
wandte
das Gesicht gegen die Wand und brach in Schluchzen aus. Und auf seine
Fragen
stürzten ihr Vorwürfe über die Lippen. Aber er konnte ruhig entgegnen,
dass
kein Wort und nichts zwischen ihm und jenem Mädchen ausgetauscht worden
war,
was seine Treue hätte in Frage stellen können.
„Es muss aber doch etwas
zwischen euch gewesen sein,“ fuhr die Frau hartnäckig fort, „denn ich
erinnere
mich jetzt, dass du ganz plötzlich deine Aufsicht über die Nachtwachen
im Laden
abgebrochen hast. Sage mir, was war das letzte Wort, das ihr dort
zusammen
spracht?“
„Ich sagte ihr, dass ich
glücklich, sehr glücklich verheiratet bin,“ erwiderte der Mann nach
einigem
Nachdenken.
Die Frau sah erstaunt mit
tränendem Gesicht zu ihm auf und sagte: „Ich glaube dir‘s. Aber ich
weiß doch,
dass sie allein das Gespenst ist, das
nach Mitternacht hier umgeht. Kannst du mir wirklich versichern, dass
du alles
das, die Tassen, die Kaffeemaschine und alle Dinge im Zimmer nur für
mich und
dich gekauft hast und die andere im Geist niemals neben dir hast sitzen
sehen?“
Da sagte er einfach und
langsam: „Wenn ich jetzt um diese Stunde an das Mädchen erinnert werde,
wird es
mir klar, dass ich alles, was du hier siehst, eingekauft habe, um sie
und nicht
dich zu empfangen. In allen andern Stunden wusste ich nichts davon.“
Da weinte die Frau. Und
als ihr Mann sich neben sie aufs Bett setzte und die seidene Decke über
sie
legte, stieß sie die Decke heftig zurück. Und ihm war es, als habe sie
mit
dieser Bewegung nach dem Mädchen gestoßen, das er neben ihr heimlich
liebte.
Da löste sich sein
geknebeltes Herz auf. Und er ging und setzte sich in eine entfernte
Zimmerecke
und bedeckte sein Gesicht mit den beiden Händen.
Gegen Morgen, als das
Geräusch der vorüberfahrenden Milchwagen und der ersten Straßenbahn die
Fensterscheiben leise klirren machte, rief die Frau vom Bett aus
ihres Mannes
Namen. Aber als er dann zu ihr trat, brach sie wieder in Weinen aus.
„Es ist dir nichts
geschehen und wird dir nichts geschehen, denn ich werde mich nie diesem
Mädchen
verraten. Meine Gedanken an sie werden mit der Zeit erkalten müssen.
Wenn du
mich nicht an sie verrätst, werde ich sie vergessen können.“
Und die Frau versprach
ihm, wenn sie heimkommen würde, dem Mädchen, das so unschuldig war wie
ihr
Mann, nicht gram sein zu wollen und über alles zu schweigen, was sie
von ihm in
dieser Nacht erfahren. Er wusste, was sie versprochen habe, würde sie
auch
halten.
Nachdem
die Frau wieder
abgereist war, nahm der Mann bald ein Bild nach dem andern von den
Wänden herab
und rückte die Vasen in eine Ecke eines hohen Schrankes, wo er sie
nicht sehen
konnte, rollte die seidene Decke zusammen und packte sie fort. Auch die
Balladenbücher nahm er vom Brett und legte sie in eine Schublade, die
er
verschloss. Denn seit jener Aussprache in der Silvesternacht war der
Geist des
Mädchens, der sonst um die Stunde der Maus in seinem Herzen schwül
umgegangen
war, von ihm ferngeblieben und die stille Leidenschaft starb in dem
Mann
allmählich ab. Der Händler ging eifrig seinen Geschäften nach, vermied
es, die
Abende allein zu verbringen, suchte Freunde und Bekannte auf
und schien allmählich vollständig zu genesen von dem Liebesalb, der ihn
so
lange heimlich bedrückt hatte.
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