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Literatur


04.3


Geschichten

Max Dauthendey



 Zur Stunde der Maus II

Aber wie man sich scheut, mit bloßen Füßen durch brennendes Feuer zu gehen oder die bloßen Hände in helles Feuer zu legen, so scheute er sich, seine Hände und seinen Willen dazu herzugeben, den Brief zu schreiben und abzusenden, den Brief, der die heimlich Ersehnte zu ihm bestellen sollte.

Der Gefolterte suchte sich mit der Zeit die brennende Sehnsucht nur dadurch ein wenig zu erleichtern, indem er tat, als ginge er auf die Forderungen seines Blutes scheinbar ein. Er ging, wenn es ihm seine Zeit erlaubte, in die Warenhäuser und kaufte Dinge für sein Zimmer ein, die er sonst nie für sich gekauft hätte, und die er aufstellte wie zum Empfang für diejenige, die er noch nie empfangen hatte. Er kaufte Kissen für das Sofa, unnütze Vasen, in die er Blumensträuße stellte, die er aber verwelken ließ wie die Stunden seiner Träume. Er kaufte romantische Bilder, mit denen er die Wände schmückte, kaufte Balladen- und Romanzenbücher, die er auf ein Bücherbrett aufreihte. Er kaufte Weingläser, eine Porzellanschale für Kuchen, eine Kristallschale für Früchte und eine große seidene Bettdecke.

Er kaufte sich neben seinen gewöhnlichen Zigarren, die er täglich rauchte, eine Schachtel bester und teuerster Havannastengel, die er nur dann rauchen wollte, wenn der ersehnte Besuch gekommen sein würde.

Mit diesen und noch mancherlei Einkäufen beschwichtigte er das still schwellende Sehnsuchtsfieber, das in ihm umging wie ein unheimlicher Feueratem, der ihn entfachen wollte.

Aber den Brief, den er hätte schreiben müssen, schrieb er nicht.

Oft, wenn ihm ein Besuch angezeigt wurde, fuhr er erschreckt zusammen und dachte, jenes Mädchen könne plötzlich auf seiner Türschwelle stehen, gerufen von den lautlosen Hilfeschreien seines geknebelten Herzens.

Zum Silvester kam dann, wie es verabredet war, seine ahnungslose Frau zu ihm zu Besuch.
Sie war, seit er den Laden in der Hafenstadt aufgemacht hatte, noch nicht bei ihm gewesen. Und als er sie jetzt vom Bahnhof abholte und in sein Zimmer führte, wo von der Decke eine rosa Glasampel hing, die er angezündet hatte, da schlug die gute Frau erstaunt die Hände zusammen und vergaß, den Hut und den Mantel abzulegen. Sie drehte sich auf einem Fleck, mitten im Zimmer stehend, um sich selbst und ließ die zerbrechlichen feinen Vasen mit Blumen auf sich wirken, die schönen gebundenen aufgereihten Bücher auf dem Bord, den Porzellanteller mit Kuchen, die Kristallschale mit Früchten, die vielen romantischen Bilder an den Wänden. Und als sie zuletzt gar die gleißende Seidendecke auf dem breiten Bett bemerkte, da gingen ihr gerührt die Augen über, und sie umarmte ihren Gatten und bedankte sich, dass er so zärtlich alles für ihren Empfang hergerichtet hatte.

Der sagte nichts und umarmte seine Frau wieder. Denn während er diese Dinge zum Schmuck des Zimmers alle eingekauft und aufgestellt hatte, hatte er auch da nie mit Bewusstheit und Offenheit sich eingestanden, dass er dies nicht für seine Frau, sondern für das junge Mädchen tat.

Er hatte wie ein Schlafwandelnder gehandelt, getrieben von einer inneren Lust, sein Zimmer zu schmücken, handelnd zwischen Wachen und Träumen. Und wie er nun seine Frau, die er immer noch treu liebte und vor der er sich keine untreue Handlung vorzuwerfen hatte, umarmte, schien es ihm wirklich einen Augenblick als wahrscheinlich, dass er für sie und sich zur Silvesterfeier und zum Wiedersehen das Zimmer so sorgsam und festlich geschmückt hatte.

Am Abend gingen Mann und Frau mit Bekannten in eine Weinstube, und dort tranken sie, bis es zwölf Uhr schlug und das neue Jahr anbrach. Und von Glühwein und Bowle erhitzt, wurde der Südfrüchtenhändler lustig und ausgelassen, wie ihn seine Frau selten gesehen hatte.

Als nun das neue Jahr mit vielen „Prosit“ empfangen worden war, sehnte sich die Frau aus dem lärmenden Kreis der Menschen fort und dachte an das schön geschmückte Zimmer, das sie beide erwartete, das ihr Mann mit soviel Zärtlichkeit hergerichtet hatte, und wo sie ihm jetzt mit gleicher Zärtlichkeit zu danken wünschte.

Sie zupfte ihren Mann am Ärmel, aber der schien an gar kein Nachhausegehen denken zu wollen und trank immer wieder seinen Freunden zu und ließ sich zutrinken und bestellte neuen Wein.

Aber es waren auch noch andere Frauen im Kreise, die auch heimzugehen wünschten, und die Frauen verabredeten sich untereinander und standen auf und setzten ihre Hüte auf und zogen ihre Mäntel an und traten dann angekleidet vor die im Tabakrauch und Weindunst laut schwatzenden Männer und baten sie, heimgeführt zu werden.

Die Männer wollten auch folgsam alle gehen. Nur der Südfrüchtenhändler wollte ans Aufbrechen nicht denken. Der saß auf seinem Stuhl fest und behauptete, er ginge nicht zur Stunde der Maus nach Hause, denn da gingen Gespenster bei ihm um.

„Was für Gespenster?“ fragten ihn alle.

„Mäuse und junge Mädchen,“ entfuhr es dem etwas Angetrunkenen.
Die Männer lachten und warfen sich zwinkernde Blicke zu. Die Frauen aber trieben beharrlich zum Aufbruch an.

Die Frau des Südfrüchtenhändlers war bei der Rede ihres Mannes plötzlich blass und zitternd geworden, und auf der Straße zog sie ihren Gatten auf die Seite:

„Was hast du da geschwatzt von Gespenstern, von Mäusen und jungen Mädchen, die bei dir umgehen?

Nun weiß ich es, für wen du das Zimmer so festlich geschmückt hast! Jedenfalls nicht für mich.“

„Was?“ sagte der unschuldige Mann. „Was habe ich von jungen Mädchen gesagt?“ und er hielt seinen Hut in der Hand und ließ die eisige Nachtluft seinen erhitzten Kopf abkühlen. „Du glaubst wohl gar, dass ich junge Mädchen nachts bei mir empfange?“

„Ja, was soll ich denn anderes glauben?“ wimmerte die weinende Frau und drückte ihren Muff vors Gesicht. „Du hast es ja selbst vorhin vor allen Freunden gesagt, dass zur Stunde der Maus junge Mädchen bei dir umgehen.“

„Da habe ich im Weinnebel Dummheiten gesprochen,“ verteidigte sich der Mann. „Mein Zimmer hat niemals ein anderer Frauenfuß betreten als der deinige, mit Ausnahme des alten Weibes, das dort Ordnung macht und täglich die Stube reinigt.“

„Ist das wahr?“ sagte die Frau des Südfrüchtenhändlers und sah ihren Mann an und zog ihn am Arm, damit er ihr ins Gesicht sehen sollte.

„Ich schwöre es dir,“ beteuerte er. Aber er sah sie nicht an, sondern starrte hinauf in den Himmel, wo die Sterne wie Pyramiden aufgehäufter goldener Früchte glänzten.

Die Frau atmete auf und lachte sich selbst aus, dass sie so schnell Übles gedacht hatte von dem, den sie immer als rechtschaffen und treu gekannt hatte. Und sie nahm sich jetzt erst recht vor, zärtlich zu ihm zu sein, da er nun doch das Zimmer nur für sie so schön geschmückt hatte.

Zu Hause, als sie den Mantel abgelegt, sah sie, wie ihr Mann, nachdem er nach der Uhr gesehen, nach einem der Balladenbücher griff und es vom Bücherbord herunterlangte. Und statt sich auszukleiden, streckte er seine Beine auf dem Sofa aus und schlug das Buch auf und las für sich.

Die Frau entkleidete sich inzwischen und kämmte ihr Haar am Spiegel aus, schlüpfte dann ins Bett unter die seidene Bettdecke und verhielt sich eine Weile mäuschenstill, um abzuwarten, bis ihr Mann ausgelesen hatte.

Nach einer Weile klappte er das Buch zu, und sie sah, wie er sich aus einer bisher ungeöffneten Zigarrenschachtel eine große Zigarre holte und diese anzündete. Und als sie den fein duftenden Rauch roch, dachte sie bei sich: so gute Zigarren raucht er doch sonst nicht. Die hat er auch zu meinem Empfang gekauft.

Und sie nahm jede Rauchwolke, die er von sich blies, als eine Huldigung dar.

Dabei kam ihr der Gedanke, dass sie eigentlich noch gern einen Schluck schwarzen Kaffee getrunken hätte. Und da fragte sie ihn:

„Hättest du nicht auch gern ein Tässchen Kaffee zu deiner guten Zigarre?“

Da stand er auf und ging zu einem kleinen Kredenzschrank, holte eine neue vernickelte Kaffeemaschine und zwei winzige Mokkatassen, stellte sie auf den runden Tisch unter die Ampel und goss Spiritus in den Brenner, nahm aus einer Büchse gemahlenen Kaffee und schickte sich an, den Kaffee zu bereiten, von dem sie gesprochen.

Sie sah vom Bett aus mit Erstaunen seinen Händen nach, und plötzlich schienen ihr die Hände des lautlosen Mannes, die da am Tisch handelten, die gespensterhaften Hände eines Traumwandlers zu sein. Und sie fühlte mit den Augen einer liebenden Frau, wie das Herz dessen, der da umherging, nicht im Zimmer anwesend war. Sie wurde wieder bestürzt und ratlos und fühlte, dass Gespenster umgingen hier im Zimmer zur Stunde der Maus, so wie es ihr Mann vorher beim Wein gesagt hatte. Zugleich wusste sie auch, dass ihr Mann sie niemals belügen konnte. Und sie schaute in die fremde Welt des fremd geschmückten Zimmers, wo sie den, den sie liebte, nicht mehr erkannte. Nur wie ein Gespenst saß er dort auf dem Sofa. Auch sein Rauchen war unnatürlich und gezwungen. Seine Augen sahen in die Spiritusflamme, die da unter dem Kessel leise sauste, und dabei schienen sie die Flamme doch nicht zu sehen. Seine Ohren schienen auf die summende Kaffeemaschine zu lauschen und schienen doch noch anderes zu hören. Seine eine Hand aber streichelte unausgesetzt und wie abwesend den Deckel des Buches, das vor ihm lag. Und mit eifersüchtigem Liebessinn wurde die Frau von jenem Buche angezogen. Und als das Kaffeewasser kochte und ihr Mann an die Maschine trat, um den Kaffee in die Tassen einzuschenken, da stieg sie leise aus dem Bett und zog, scheinbar harmlos, das Buch vom Tisch an sich. Sie blätterte darin und erkannte sofort, dass es Balladen waren, die jene junge Verwandte, die sie daheim hatte, immer las und vortrug.

Sie wusste jetzt mit raschem Gedankengang plötzlich, wer das Gespenst war, wer das junge Mädchen war, das um die Stunde der Maus im Zimmer ihres Mannes umging.

Sie fühlte, dass seine Gedanken nur bei  jener Verwandten weilten, und sie wurde zornig, da sie glaubte, er habe sie in jenen Augenblicken, da er das Mädchen zur Nachtwache im Provinzladen aufgesucht, daheim schon betrogen.

Als der Mann mit der gefüllten Kaffeetasse zu ihr ans Bett trat, wies sie den Kaffee zurück, wandte das Gesicht gegen die Wand und brach in Schluchzen aus. Und auf seine Fragen stürzten ihr Vorwürfe über die Lippen. Aber er konnte ruhig entgegnen, dass kein Wort und nichts zwischen ihm und jenem Mädchen ausgetauscht worden war, was seine Treue hätte in Frage stellen können.

„Es muss aber doch etwas zwischen euch gewesen sein,“ fuhr die Frau hartnäckig fort, „denn ich erinnere mich jetzt, dass du ganz plötzlich deine Aufsicht über die Nachtwachen im Laden abgebrochen hast. Sage mir, was war das letzte Wort, das ihr dort zusammen spracht?“

„Ich sagte ihr, dass ich glücklich, sehr glücklich verheiratet bin,“ erwiderte der Mann nach einigem Nachdenken.

Die Frau sah erstaunt mit tränendem Gesicht zu ihm auf und sagte: „Ich glaube dir‘s. Aber ich weiß doch, dass sie allein das Gespenst ist, das nach Mitternacht hier umgeht. Kannst du mir wirklich versichern, dass du alles das, die Tassen, die Kaffeemaschine und alle Dinge im Zimmer nur für mich und dich gekauft hast und die andere im Geist niemals neben dir hast sitzen sehen?“

Da sagte er einfach und langsam: „Wenn ich jetzt um diese Stunde an das Mädchen erinnert werde, wird es mir klar, dass ich alles, was du hier siehst, eingekauft habe, um sie und nicht dich zu empfangen. In allen andern Stunden wusste ich nichts davon.“

Da weinte die Frau. Und als ihr Mann sich neben sie aufs Bett setzte und die seidene Decke über sie legte, stieß sie die Decke heftig zurück. Und ihm war es, als habe sie mit dieser Bewegung nach dem Mädchen gestoßen, das er neben ihr heimlich liebte.

Da löste sich sein geknebeltes Herz auf. Und er ging und setzte sich in eine entfernte Zimmerecke und bedeckte sein Gesicht mit den beiden Händen.

Gegen Morgen, als das Geräusch der vorüberfahrenden Milchwagen und der ersten Straßenbahn die Fensterscheiben leise klirren machte, rief die Frau vom Bett aus ihres Mannes Namen. Aber als er dann zu ihr trat, brach sie wieder in Weinen aus.

„Es ist dir nichts geschehen und wird dir nichts geschehen, denn ich werde mich nie diesem Mädchen verraten. Meine Gedanken an sie werden mit der Zeit erkalten müssen. Wenn du mich nicht an sie verrätst, werde ich sie vergessen können.“

Und die Frau versprach ihm, wenn sie heimkommen würde, dem Mädchen, das so unschuldig war wie ihr Mann, nicht gram sein zu wollen und über alles zu schweigen, was sie von ihm in dieser Nacht erfahren. Er wusste, was sie versprochen habe, würde sie auch halten.

Nachdem die Frau wieder abgereist war, nahm der Mann bald ein Bild nach dem andern von den Wänden herab und rückte die Vasen in eine Ecke eines hohen Schrankes, wo er sie nicht sehen konnte, rollte die seidene Decke zusammen und packte sie fort. Auch die Balladenbücher nahm er vom Brett und legte sie in eine Schublade, die er verschloss. Denn seit jener Aussprache in der Silvesternacht war der Geist des Mädchens, der sonst um die Stunde der Maus in seinem Herzen schwül umgegangen war, von ihm ferngeblieben und die stille Leidenschaft starb in dem Mann allmählich ab. Der Händler ging eifrig seinen Geschäften nach, vermied es, die Abende allein zu verbringen, suchte Freunde und Bekannte auf und schien allmählich vollständig zu genesen von dem Liebesalb, der ihn so lange heimlich bedrückt hatte.


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Geschichte: "Zur Stunde der Maus" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden", Seite 209-240.

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