Geschichten
Max Dauthendey
Da erhielt er eines Tages
ein Telegramm, worin seine Frau ihn bat, schleunigst nach Hause zu
kommen, da
jener jungen Verwandten ein schweres Unglück zugestoßen wäre.
Der Mann zitterte einen
Augenblick, als er das Papier mit der Nachricht in den Händen hielt.
Dann aber
machte er sich kühl und hart gegen alte auflodernde Gefühle und reiste
mit dem
nächsten Zug nach Hause.
Die Frau empfing ihn mit
verweinten Augen und schluchzte an seinem Hals und sagte ihm, dass das
junge
Mädchen durch einen plötzlichen Unfall getötet worden war. Dabei aber
stotterte
sie:
„Du wirst glauben, ich bin
schuld an ihrem Tod. Aber ich schwöre dir, ich bin unschuldig.“
Der Mann erstaunte und
fragte, welches Unglück sich ereignet habe, und hörte dann von
der schluchzenden Frau, dass das Mädchen durch einen unvorsichtigen
Schritt in
die geöffnete Falltür, die sich im Fußboden des Ladens befand, abends
im
Dunkeln, als sie eben die Nachtwache antreten wollte, in den tiefen
Keller
gestürzt war, auf dessen mit Steinplatten gepflastertem Boden man die
Unglückliche mit gebrochenem Rückgrat tot aufgefunden hatte.
„Aber wer hat denn die Tür
in den Keller aufstehen lassen?“ fragte der Südfrüchtenhändler entsetzt.
Die Frau verbarg das
Gesicht an seiner Brust und schluchzte von neuem:
„Ich bin es gewesen, ich.
Ich bin wohl an ihrem Tode schuld, aber ich habe ihn nicht absichtlich
verschuldet.“
Da durchlief den Mann ein
Schauder, und er zog sich aus der Umarmung seiner Frau zurück.
Sie aber klammerte sich
fest an ihn und rief verzweifelt: „Als es mir plötzlich einfiel, dass
ich die
Kellertür offen gelassen hatte, bin ich oben aus dem Zimmer in das
Stiegenhaus
gestürzt und habe ihr nachgerufen, sie solle nicht in den Laden gehen,
da die
Falltür zu dem Keller offen wäre. Im selben Augenblick aber
hörte ich schon einen Schreckensruf und den polternden Aufschlag eines
Körpers
im tiefen Gewölbe.“
Die Frau setzte sich auf
einen Stuhl und schluchzte in ihre beiden Hände. Und als sie nach einer
Weile
wieder aufsah, war das Zimmer leer.
Sie glaubte, der Mann wäre
auf den Kirchhof in die Leichenhalle gegangen, um das Mädchen noch
einmal zu
sehen. Aber er war, ohne Abschied zu nehmen, in sein Geschäft in der
Hafenstadt
zurückgereist und ließ seine Frau deutlich fühlen, dass er es nicht
glauben
konnte, sie habe die Falltür ohne Absicht offenstehen lassen.
Gleich nach der Beerdigung
des Mädchens reiste sie zu ihm und erklärte ihm noch einmal, dass sie
unschuldig wäre. Er aber ging wieder aus dem Zimmer und wollte nicht
mit ihr
sprechen.
Sie kehrte in den Laden in
der Provinz zurück, verzweifelt darüber, dass sie ihren Mann nicht zum
Glauben
an ihre Unschuld bringen konnte.
Von dem ausgestandenen
Schrecken und von dem Schweigen ihres fernen Mannes gefoltert, wurde
sie immer
schwächer und erkrankte zuletzt an einem Gehirnfieber.
Eines Tages erhielt der
Südfrüchtenhändler einen Eilbrief von einem Arzt, der ihn aufforderte,
schleunigst zu kommen, wenn er seine Frau noch am Leben finden wollte,
denn ihre
Stunden wären gezählt.
Der Mann kam, aber die
Fiebernde kannte ihn nicht mehr. Der Arzt sagte, er solle sich an ihr
Bett niedersetzen,
es wäre möglich, dass sie kurz vor dem Sterben zum Bewusstsein kommen
und ihn
erkennen würde.
Da saß er nun und hörte die
Fiebergespräche, in denen sie immer wieder die Worte wiederholte, dass
sie
unschuldig wäre. Aber er konnte es doch nicht glauben. Sie hat aus
Eifersucht
getötet, sagte er zu sich selbst.
Plötzlich richtete sich
die Fiebernde im Bett auf und erkannte ihren Mann.
„Bist du gekommen, mir zu
glauben?“ rief sie erleichtert aus.
Da sah er in ihre Augen,
und beim Ton ihrer Stimme musste er glauben, dass sie unschuldig war am
Tod der
andern.
Und er bat in seinem
Herzen das Schicksal um ein Wunder: Die Sterbende soll leben bleiben
und gesund
werden, wenn sie unschuldig ist, sagte er in seinem Schweigen.
Er sah ihr fest ins Auge
und beschwor ihr fliehendes Leben mit seinem innersten Wunsch.
„Ich glaube dir. Du bist
unschuldig. Wir haben beide keine Schuld und wollen glücklich und ruhig
weiterleben,“ sagte er laut zu der Kranken, deren Kopf erschöpft auf
die Seite
sank, während ihre Augen ihn halb verklärt betrachteten.
„Ich will schlafen, und
wenn ich aufwache, will ich mit dir glücklich sein wie früher,“ sagte
die Frau
mit schwacher Stimme.
Seine Hände betteten ihren
Kopf sorgsam in die Kissen. Er wachte dann zwölf Stunden an ihrem
Bette, und in
all der Zeit hielt er ihre Hände in seinen Händen.
Nach zwölf Stunden schlug
die Frau einen Augenblick die Augen auf, und als sie sein Gesicht neben
sich
sah, lächelte sie.
„Schlafe dich gesund!“
sagte ihr Mann. Sie schloss wieder die Augen und schlief noch einmal
zwölf
Stunden. Und nach der vierundzwanzigsten Stunde saß der Mann immer noch
wach an
ihrem Bett und hielt ihre Hände fest wie
in der ersten Stunde.
Sie schlug die Augen auf,
und als sie ihn immer noch neben sich sah, war sie glücklich und
gestärkt und
fühlte, dass sie zum Leben zurückkehrte.
Und sie fuhr streichelnd mit der Hand über die Augen ihres Mannes. Dann
sank
sein Kopf zu ihr auf die Kissen, und er schlief ein, und sie schliefen
beide
noch einmal zwölf Stunden.
Dann
erwachte sie gesund
und gestärkt. Und seit dieser Stunde war bei ihnen alles Vergangene
vergessen,
und ihr Leben wurde von jetzt ab glücklich wie in den ersten Jahren
ihrer Ehe.
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