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Literatur


04.3


Geschichten

Max Dauthendey



 Zur Stunde der Maus III

Da erhielt er eines Tages ein Telegramm, worin seine Frau ihn bat, schleunigst nach Hause zu kommen, da jener jungen Verwandten ein schweres Unglück zugestoßen wäre.

Der Mann zitterte einen Augenblick, als er das Papier mit der Nachricht in den Händen hielt. Dann aber machte er sich kühl und hart gegen alte auflodernde Gefühle und reiste mit dem nächsten Zug nach Hause.

Die Frau empfing ihn mit verweinten Augen und schluchzte an seinem Hals und sagte ihm, dass das junge Mädchen durch einen plötzlichen Unfall getötet worden war. Dabei aber stotterte sie:

„Du wirst glauben, ich bin schuld an ihrem Tod. Aber ich schwöre dir, ich bin unschuldig.“

Der Mann erstaunte und fragte, welches Unglück sich ereignet habe, und hörte dann von der schluchzenden Frau, dass das Mädchen durch einen unvorsichtigen Schritt in die geöffnete Falltür, die sich im Fußboden des Ladens befand, abends im Dunkeln, als sie eben die Nachtwache antreten wollte, in den tiefen Keller gestürzt war, auf dessen mit Steinplatten gepflastertem Boden man die Unglückliche mit gebrochenem Rückgrat tot aufgefunden hatte.

„Aber wer hat denn die Tür in den Keller aufstehen lassen?“ fragte der Südfrüchtenhändler entsetzt.
Die Frau verbarg das Gesicht an seiner Brust und schluchzte von neuem:

„Ich bin es gewesen, ich. Ich bin wohl an ihrem Tode schuld, aber ich habe ihn nicht absichtlich verschuldet.“

Da durchlief den Mann ein Schauder, und er zog sich aus der Umarmung seiner Frau zurück.

Sie aber klammerte sich fest an ihn und rief verzweifelt: „Als es mir plötzlich einfiel, dass ich die Kellertür offen gelassen hatte, bin ich oben aus dem Zimmer in das Stiegenhaus gestürzt und habe ihr nachgerufen, sie solle nicht in den Laden gehen, da die Falltür zu dem Keller offen wäre. Im selben Augenblick aber hörte ich schon einen Schreckensruf und den polternden Aufschlag eines Körpers im tiefen Gewölbe.“

Die Frau setzte sich auf einen Stuhl und schluchzte in ihre beiden Hände. Und als sie nach einer Weile wieder aufsah, war das Zimmer leer.

Sie glaubte, der Mann wäre auf den Kirchhof in die Leichenhalle gegangen, um das Mädchen noch einmal zu sehen. Aber er war, ohne Abschied zu nehmen, in sein Geschäft in der Hafenstadt zurückgereist und ließ seine Frau deutlich fühlen, dass er es nicht glauben konnte, sie habe die Falltür ohne Absicht offenstehen lassen.

Gleich nach der Beerdigung des Mädchens reiste sie zu ihm und erklärte ihm noch einmal, dass sie unschuldig wäre. Er aber ging wieder aus dem Zimmer und wollte nicht mit ihr sprechen.

Sie kehrte in den Laden in der Provinz zurück, verzweifelt darüber, dass sie ihren Mann nicht zum Glauben an ihre Unschuld bringen konnte.

Von dem ausgestandenen Schrecken und von dem Schweigen ihres fernen Mannes gefoltert, wurde sie immer schwächer und erkrankte zuletzt an einem Gehirnfieber.

Eines Tages erhielt der Südfrüchtenhändler einen Eilbrief von einem Arzt, der ihn aufforderte, schleunigst zu kommen, wenn er seine Frau noch am Leben finden wollte, denn ihre Stunden wären gezählt.

Der Mann kam, aber die Fiebernde kannte ihn nicht mehr. Der Arzt sagte, er solle sich an ihr Bett niedersetzen, es wäre möglich, dass sie kurz vor dem Sterben zum Bewusstsein kommen und ihn erkennen würde.

Da saß er nun und hörte die Fiebergespräche, in denen sie immer wieder die Worte wiederholte, dass sie unschuldig wäre. Aber er konnte es doch nicht glauben. Sie hat aus Eifersucht getötet, sagte er zu sich selbst.

Plötzlich richtete sich die Fiebernde im Bett auf und erkannte ihren Mann.

„Bist du gekommen, mir zu glauben?“ rief sie erleichtert aus.

Da sah er in ihre Augen, und beim Ton ihrer Stimme musste er glauben, dass sie unschuldig war am Tod der andern.

Und er bat in seinem Herzen das Schicksal um ein Wunder: Die Sterbende soll leben bleiben und gesund werden, wenn sie unschuldig ist, sagte er in seinem Schweigen.

Er sah ihr fest ins Auge und beschwor ihr fliehendes Leben mit seinem innersten Wunsch.

„Ich glaube dir. Du bist unschuldig. Wir haben beide keine Schuld und wollen glücklich und ruhig weiterleben,“ sagte er laut zu der Kranken, deren Kopf erschöpft auf die Seite sank, während ihre Augen ihn halb verklärt betrachteten.

„Ich will schlafen, und wenn ich aufwache, will ich mit dir glücklich sein wie früher,“ sagte die Frau mit schwacher Stimme.

Seine Hände betteten ihren Kopf sorgsam in die Kissen. Er wachte dann zwölf Stunden an ihrem Bette, und in all der Zeit hielt er ihre Hände in seinen Händen.

Nach zwölf Stunden schlug die Frau einen Augenblick die Augen auf, und als sie sein Gesicht neben sich sah, lächelte sie.

„Schlafe dich gesund!“ sagte ihr Mann. Sie schloss wieder die Augen und schlief noch einmal zwölf Stunden. Und nach der vierundzwanzigsten Stunde saß der Mann immer noch wach an ihrem Bett und hielt ihre Hände fest wie in der ersten Stunde.

Sie schlug die Augen auf, und als sie ihn immer noch neben sich sah, war sie glücklich und gestärkt und fühlte, dass sie zum Leben zurückkehrte. Und sie fuhr streichelnd mit der Hand über die Augen ihres Mannes. Dann sank sein Kopf zu ihr auf die Kissen, und er schlief ein, und sie schliefen beide noch einmal zwölf Stunden.

Dann erwachte sie gesund und gestärkt. Und seit dieser Stunde war bei ihnen alles Vergangene vergessen, und ihr Leben wurde von jetzt ab glücklich wie in den ersten Jahren ihrer Ehe.



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Textgrundlage: "Zur Stunde der Maus" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden", Seite 209-240.

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