Geschichten
Max Dauthendey
Die
Kurzsichtige und der Komet I
Es war in einem Winter,
als die Astronomen von Europa einen bisher unbekannt gewesenen kleinen
Kometen
entdeckt hatten, der kurz nach Sonnenuntergang am Abendhimmel mit
bloßen Augen
zu sehen sein sollte, später in der Nacht aber hinterm Horizont
verschwand.
In jenem Winter sah man
täglich um die fünfte Abendstunde die Leute mit Operngläsern in den
Händen auf
verschiedenen freien Plätzen von Berlin sich zusammenrotten. Und einer
versuchte vom andern die Stellung des neuen Kometen zu erfahren.
Indessen der
Wagenstrom laut und lärmend wie immer auf dem Straßendamm rollte,
stockte auf den
Bürgersteigen der Verkehr. Die Leute schoben und drängten und standen
den
Eilenden im Wege, und niemals haben zu gleicher Zeit nachts so viele
Augen in
den Sternen gesucht als in jenen Winterabenden in der Stunde nach
Sonnenuntergang in Berlin und in ganz Europa.
Ich
hatte mehrmals am Potsdamer Platz versucht, den Kometen für mich zu
entdecken,
aber die Lichtreklamen, die dort über den Kaffeehäusern und über den
Dächern
der Potsdamer Straße und der Königsgrätzer Straße gegen den Himmel auf-
und
abflammten, erschwerten das ruhige Betrachten des Nachthimmels.
Deshalb war ich eines
Abends mit der elektrischen Straßenbahn nach dem südlichen Teil der
Stadt zum
Kreuzberg gefahren, um dort von den Parkanlagen des Hügels aus
beschaulicher
nach dem Kometen suchen zu können.
Als ich in der Nähe des
Kreuzbergs aus der Straßenbahn stieg, bemerkte ich, dass viele Leute
denselben
Weg nahmen wie ich. Ganze Familien gingen in Reihen vor mir her. Auch
laute
Schulknaben, die sich zusammengerottet hatten, und stille Liebespaare
stiegen
dort in den Parkwegen hügelaufwärts und Hunderte kamen vom Kreuzberg
herunter.
Es war ein allgemeines Wandern, als wäre da oben ein Jahrmarkt.
Die Wege waren ziemlich
dunkel; selten brannte eine Laterne. Schnee lag in dünner Schicht vor
den
finstern Tannengruppen, und der
klare, eisige Winterhimmel war trotz der späten Stunde noch leicht hell
und
schimmerte zwischen den finstern Bäumen.
Dort, wo es in den Anlagen
ganz dunkel war und Treppenstufen zwischen künstlichen aufgetürmten
Stufen
emporstiegen, halfen sich die Menschen mit lautem Gelächter weiter. Die
Heruntersteigenden lachten, und die Hinaufkletternden lachten. Und man
tastete
sich aneinander vorüber, und die jungen Mädchen, in Pelzmäntel
vermummt,
kicherten, und die jungen Männer erschreckten sie mit plötzlichen
Zurufen; und
mancher zündete ein Streichholz an, um ein Geländer oder eine
Treppenstufe zu
beleuchten.
Ich hatte mich an meinem
Spazierstock bergauf getastet und traf, bald oben, auf der Höhe des
Hügels
unter den Bäumen eines verschneiten Grasplanes wohl hundert Menschen,
die über
die Häuserwelt von Berlin wegsahen und, gen Westen gewendet, den Himmel
absuchten, wo die Sonne untergegangen war und ein Stückchen vom
zunehmenden
Mond blinkte.
Mir kam es aber vor, als
ob keiner den Kometen wirklich fände, alle aber ihn im Geiste sahen.
Und da sie
ihn heftig gern zu sehen wünschten,
deuteten sie auch alle nach einer Richtung, wo hier und da ein Stern
blitzte,
und jeder vermeinte, in diesem oder jenem Stern den Kometen zu sehen.
Ich
glaube, jeder fand sich seinen eigenen Kometen. Die, die keinen am
Himmel
entdeckten, fanden ihn sicher auf der Erde. Denn es streifte im Dunkeln
manch
blitzendes Auge umher. Alle Menschen hier hatten den einen Zweck,
herumzustehen, und manche durften sich anreden und ihrer Redelust Luft
machen
und ihrer Wissenslust und ihrem Gefühlsdrang Raum geben beim Schauen in
den
aufrichtigen Nachthimmel, auf diesem Hügel, der da im weiten steinernen
Häuserkranz Berlins wie eine Insel zwischen Wellenkämmen lag.
Man lieh sich gegenseitig
Gläser und Brillen und Fernrohre. Man half sich, im nächtlichen Garten
des
Himmels spazieren zu gehen, wobei die Augen als Füße dienten, und man
unterstützte sich gegenseitig hilfreich im Lustwandeln am
Nachtfirmament.
Manche Pärchen sonderten
sich ab und setzten sich trotz Kälte und Schnee auf einsame Bänke, die
da auf
der Hügelhöhe standen.
Einige Knaben bildeten
Gruppen, einzelne rauchten verbotene Zigaretten, und die anderen
leisteten
ihnen neidisch Gesellschaft.
Ältere
Herren im Kreise von Bekannten erzählten von früheren Kometenjahren,
und auch
Fremde stellten sich um sie herum und gaben ihre Weisheit dazu.
Von der Stadt sah man nur
einige mattgelb erleuchtete Straßenzüge mit unzähligen glitzernden
Fenstern.
Aber eigentlich fühlte man von der großen Stadt hier oben nichts mehr.
Berlin
war nur noch ein gespenstiger Körper rund um den Hügel, ein Körper, der
sich
ins Unendliche verlor und hier und da aus seinen Poren Feuerstaub zu
atmen
schien.
Ich hatte so eine Weile in
Betrachtung der Stadt, der Menschen und des Himmels mich an meinem
Stock
gelehnt, den ich waagrecht gegen den Stamm eines Kiefernbaumes gestemmt
hatte.
Vor mir lichtete und
verdichtete sich das Gedränge der Menschen. Nur der Himmel über mir
blieb immer
gleich klar und unbeweglich.
Ich stellte mir eben vor:
so aller Berufe entkleidet, so gleichgemacht und von dem einen einzigen
Gedanken der Ewigkeit und Unendlichkeit entrückt, müssten auf
irgendeinem
Eiland, wenn es das gäbe, die Schatten der Gestorbenen umhergehen,
aufgestiegen
in Höhen,
wo sich keine Weltunrast mehr findet, und hingegeben einzig dem
Betrachten der
Ewigkeit in uns und um uns …
Schatten gingen und neue
Schatten kamen über den weißen, leicht beschneiten Grasflächen.
Menschen lösten
sich aus Bäumen, und andere schienen in Bäume zu verschwinden.
Der Schnee, der fein
bläulich schimmerte wie eine Phosphormasse, schien mir aus weißen,
eisigen
Blüten zu bestehen, den Blumen der Vergessenheit, die diesem Eiland im
Weltraum
unklares Licht gaben, und über denen die Schatten der Menschen sich
lautlos
begegneten.
Sobald wir vergessen
können, sind wir selbst nicht mehr und werden unendliches Gefühl ohne
Wissen …
Wie ich noch diesem
Gedanken nachhing, sah ich eine Dame, ein wenig vorgebeugt, mit
unsicheren
kleinen Schritten über den Schnee kommen, und ich erkannte sie sofort,
trotzdem
ich nichts sah als den schwarzen Schattenriss ihrer Gestalt. Sie war
aus einer
dunklen Baummasse hervorgetreten, und wie ein Teil des Dunkels
erinnerte sie
mich an Geschehnisse, an Herzenserlebnisse, die in meiner
Vergangenheit lagen, in jener gespenstigen Vergangenheit, die wir im
Rückblick
Jugend nennen.
Wer kann aber sagen, dass
er jemals altert!
Die zierliche kleine Dame
kam näher, und ich sah, wie sie sich bückte. Zu beiden Seiten ihrer
Füße stand
je ein kleiner Hund, und sie band diese beiden Tierchen an einen
Riemen. Die
Tiere liefen dann aneinandergekoppelt vor ihr her, indessen sie die
Riemenschnur in der Hand hielt.
Sie kam gerade auf den
Baum zu, an dessen Stamm gestützt ich meinen Stock hielt. Mir schien
es, als
wollte sie die Hunde an den Baumstamm anbinden.
An ihrem Gang und ihrer
Art merkte ich, dass sie noch immer sehr kurzsichtig war, und ich
erinnerte
mich jetzt, dass sie schon viele Abenteuer infolge dieser starken
Kurzsichtigkeit hatte erleiden müssen.
Ich
wollte abwarten, bis
die Dame ihre Hunde an den Baum gebunden habe, und wollte dann zu ihr
treten
und sie begrüßen.
Wir hatten uns viele Jahre nicht gesehen, seit
langen
Jahren uns aus den Augen verloren, und vielleicht wäre es gar nicht
gut, wenn
ich die beinah Vergessene begrüßen würde. Vielleicht würden
die Erinnerungen, die wir aufwühlen mussten, Martern werden.
Man lernt sein eigenes Wesen niemals ganz kennen
und weiß
niemals, wie tief die Wunden zuheilen. Wir wissen auch nicht, ob wir
Unheilbares in uns tragen, oder ob wir unverwundbar sind. Solange wir
atmen in
diesem warmen Leibe, den wir uns aufgebaut haben, studieren wir diesen
Leib,
von dem wir wissen, dass er nur künstlich und vergänglich ist. Aber wir
schaudern oft im geheimen vor seinem Dasein, weil unser Leib uns ebenso
fremd
bleibt wie unser ewiges Teil. Weil der Leib plötzlich im Blut
Sehnsüchte wie
Abgründe öffnen kann.
Gottlob, dass Leib und Seele nicht mit Zahlen,
nicht mit
Gesetzen, nicht mit Maßstäben, nicht mit Erfahrungen zu begreifen und
zu
ergründen sind. In seiner Unbegreiflichkeit ergänzt der sterbliche Teil
den ewigen
Teil.
Ich wusste nicht, sollte ich jene Dame grüßen
oder sollte
ich ihr ausweichen. Ich wollte eben meinen Spazierstock, den ich in der
Höhe
meiner Hüfte waagrecht gegen den Baumstamm gestellt hatte, zurückziehen
und
wollte einige Schritte weitergehen.
Da sehe und fühle ich erstaunend, dass
die Dame
ihre Foxterrier an meinen Spazierstock, den sie wohl für einen Baumast
hielt,
festband.
Ich hielt den Stock jetzt belustigt still,
während mich
der eine Hund beschnüffelte und der andere an seiner Herrin hochsprang.
Diese war ganz in ihre mühsame Arbeit vertieft
und band
die Riemenschnur um meinen Stock zu einem festen Knoten. Vorher hatte
sie ganz
flüchtig mit ihrer behandschuhten Hand meinen nicht glatten, sondern
etwas
knorrigen Stock abgetastet und sich überzeugt, dass er fest genug war,
um die
beiden Hunde zu halten.
Viele Leute kamen und gingen. Ich fiel der Dame
nicht
weiter auf, sie hielt mich eben für einen der vielen Herumstehenden,
die nach
dem Kometen suchten.
Wie seltsam war dieses Wiedersehen!
Tragisch-komisch, wie
alle kurzsichtigen Abenteuer jener Dame.
Ich sah, dass sie ein Opernglas umhängen hatte,
und
zugleich baumelte an einer langen Kette über ihrem Mantel ein Lorgnon,
das ich
so gut aus früheren Jahren kannte.
Die
Dame entfernte sich jetzt einige Schritte, nachdem
sie ihren Hunden geboten hatte, sich niederzulegen
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Textgrundlage "Die Kurzsichtige und der Komet" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus
den Vier Winden", Seite 241-280.
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Logo 195:"Comet C/1858", Donati, aus E. Weiß "Bilderatlas
der Sternenwelt",
gemeinfrei
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