Geschichten
Max Dauthendey
Die
Kurzsichtige und der Komet II
Die Tiere aber gehorchten
nicht gleich. Sie zerrten an der Schnur, und ich musste mich mit meiner
ganzen
Kraft mit dem Stock gegen den Baum stützen und hatte alle Mühe, meinen
Spazierstock festzuhalten.
Sie aber sah nichts
anderes als ihre Hunde. Sie rief ihnen nochmals zu, und da sie glaubte,
dass
sie sie an einem Baumast festgebunden, ging sie weiter, wobei sie ihr
Opernglas
aus dem Lederbehälter nahm.
Ich kannte die Hunde beim
Namen, und als die Dame weit genug über den Schnee fortgegangen war,
flüsterte
ich den Tieren ihre Namen zu. Sie sahen erstaunt nach mir und stellten
das
gemeinsame Kläffen ein, beschnüffelten mich nochmals, wedelten ein
wenig
belustigt mit ihren Schweifstummeln und setzten sich still zu meinen
Füßen
nebeneinander.
Ich nahm mir vor, die
Terrier festzuhalten und meinen Stock einen Baumast vorstellen zu
lassen, bis
die Hunde von der Kurzsichtigen wieder abgeholt wurden.
Ich sah die zierliche
Gestalt der Dame sich am Rand der Hügelfläche gegen den Nachthimmel
abzeichnen
und sah, wie sie abwechselnd das Lorgnon nahm und dann wieder
das Opernglas, um unter den Menschen zu suchen und unter den Sternen am
Himmel.
Es war eine Unruhe über
ihr, die mir von ihrer Kurzsichtigkeit auszugehen schien. Und während
alle
Leute den Kometen im Westen finden wollten, hatte sie sich allein nach
der
östlichen Himmelsrichtung gewendet, wo sie den Kometen sicher niemals
erblicken
konnte. –
Wir hatten uns vor Jahren
auf eine sonderbare Weise kennen gelernt.
Ich saß damals eines Tages
auf der Terrasse des Café Josti am Potsdamer Platz. Es war an einem
Nachmittag
zur Pfingstzeit. Frühlingslebhaftigkeit war über allen Menschen.
Blumenverkäuferinnen
mit Flieder, Schneebällen und Pfingstrosen standen mit ihren breiten
Körben
draußen vor der Terrassenbrüstung neben den Zeitungsverkäufern. Damen
mit neuen
Sommerhüten und Herren mit neuen Strohhüten spazierten, eilten und
schlenderten
vorüber.
Die langen Reihen der
Straßenbahnen, die Autos und Lastkarren stockten manchmal, wenn einer
der
vielen Polizisten an den breiten Straßenmündungen die weiß
behandschuhte Hand
hob.
Ich
sah zufällig über den Platz hin und bemerkte, dass ein Schutzmann eine
junge
Dame, die mit zwei Foxterriern den Fahrdamm überschreiten wollte,
herübergeleitete, und dass die Dame, am Trottoirrand angekommen, ihr
Portemonnaie zog, um den Schutzmann ein Trinkgeld zu geben.
Die Umstehenden lachten.
Der viel beschäftigte Schutzmann aber grüßte nur kurz und ließ die Dame
stehen.
Diese erkannte die Verlegenheit, in die sie den Schutzmann und die
Umstehenden
gebracht hatte, und darüber etwas ratlos, gab sie das Geldstück, das
sie nun
einmal in der Hand hielt, einer Blumenverkäuferin.
Diese meinte natürlich,
die Dame wolle eines ihrer kleinen Moosrosensträußchen kaufen, und
beeilte
sich, ihr einen Strauß aus ihrem Korb zu geben. Indessen schritt aber
die
Kurzsichtige schon zum Eingang der Terrasse des Cafés. Die
Blumenverkäuferin
wusste nun nicht, wem sie das Sträußchen geben sollte, und gab es einem
Herrn,
der den Verkauf beobachtet hatte, und bat ihn, der Dame nachzueilen.
Der Herr lachte und holte
die Dame gerade am Eingang des Cafés ein. Dort zog er höflich den neuen
Strohhut, verneigte sich und
reichte der Kurzsichtigen den kleinen Rosenstrauß. Sie sah den Herrn
erstaunt
von der Seite an. Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, ließ sie ihn mit
den
Blumen stehen, denn sie hielt ihn augenscheinlich für einen
Zudringlichen und
glaubte wahrscheinlich, die Überreichung des Sträußchens bezwecke eine
Annäherung. Dann stieg die Dame die wenigen Stufen zur Caféhausterrasse
empor,
und die Foxterrier, die in der Hitze mit offenen Mäulern stoßweise
atmeten,
zogen die Dame seltsamerweise nach meinem Tisch hin.
Vielleicht hatten die
Terrier mein Interesse, das ich an ihrer Herrin nahm, in Fernwirkung
empfunden.
Denn ich hatte die Ankommende zwischen, über und neben den Köpfen der
um mich
Sitzenden mit meinen Augen aufmerksam verfolgt.
Und nun saß sie nach einer
Weile neben mir. Die Hunde lagen unter dem Tisch. Sie entnahm einer
Handtasche
ein kleines Taschentuch und säuberte eifrig die Gläser ihres Lorgnons.
Sie war unauffällig
geschmackvoll gekleidet. Ich erinnere mich, dass ein großer, brauner
Strohhut
mit sehr breiter Krempe mir ihr Gesicht
verdeckte, das ich nur einen Augenblick vorher gesehen hatte. Es war
mild und
blass, und zwei dunkelbraune Augen schauten aus ihm in die Welt, ohne
die Welt
genau zu sehen.
Die Dame kam mir damals
vor, als ginge sie in einer Dunkelheit und müsse sich im Gehen und
Handeln mehr
auf ihren Instinkt als auf ihre Augen verlassen.
Sie hatte bei dem vorüberrennenden
Kellner eine Limonade bestellt. Der Kellner hatte mir eben auch meine
Limonade
gebracht. Ich las dann aber in meiner Zeitung weiter und wurde für ein
paar
Augenblicke von einem Artikel gefesselt. Als ich wieder aufsah, trank
die
Kurzsichtige neben mir meine Limonade aus meinem Glase.
Ich rührte mich nicht und
ließ die Dame im Glauben, dass das ihre Limonade war. Bis der Kellner
kam,
hatte sie das Glas ausgetrunken. Und als er die bestellte Limonade vor
sie
hinsetzte, sah sie ihn erstaunt an, nahm ihr Lorgnon vor die Augen und
bemerkte
nun auch mich. Aus ihren Bewegungen konnte ich ersehen, wie sie sich
über sich
ärgerte. Ich dachte, sie würde mir jetzt ihre Limonade anbieten und
eine
Entschuldigung vorbringen. Sie aber ließ ihr Lorgnon
fallen, zuckte mit der einen Schulter, legte rasch Geld aus ihrem
Portemonnaie
auf den Tisch und murmelte dabei: „Das ist doch unverschämt.“ Dann
stand sie
mit einem Rucke auf, zog ihre Hunde, die sich eben zum Schlafen
hingestreckt
hatten, hinter sich her und verließ offensichtlich verärgert die
Terrasse.
In der Schnelligkeit hatte
sie nicht bemerkt, dass ihr Taschentuch von ihrem Schoß unter den Tisch
gefallen war. Ich war aber durch den Ausspruch „Das ist unverschämt“ so
verwundert, dass ich mich nicht gleich bücken mochte. Dann aber
belustigte mich
das Ganze. Ich nahm das Taschentuch an mich, und als der Kellner kam,
fragte
ich ihn, ob er die Dame kenne, die eben da gesessen.
„Ja,“ sagte er, „sie hat
ein paar Mal morgens ihren Kaffee hier getrunken. Sie scheint sehr
zerstreut zu
sein. Neulich hat sie in Gedanken unsere Getränkekarte beim Aufstehen
mitgenommen, und als einer von uns sie darauf aufmerksam machte, zeigte
es
sich, dass sie geglaubt hatte, ihr Notenheft in der Hand zu halten. Sie
ist
Musikschülerin, und ich sah sie auch schon öfters mit einem
Geigenkasten
vorübergehen. Sie muss hier in der Nähe wohnen.“
Ich
hatte das Taschentuch zu mir gesteckt und mir vorgenommen, es der
jungen Dame
selbst auszuhändigen, wenn ich sie einmal wieder sehen sollte.
Gleich am nächsten
Nachmittag, ungefähr um die selbe Stunde, traf ich die Kurzsichtige
wieder.
Diesmal war sie ohne ihre Hunde.
Sie stand an dem
Schaufenster eines Fotografen und betrachtete durch ihr Lorgnon die
Bilder. Der
Kasten befand sich dicht an einer Straßenecke.
Ich war auf der anderen
Seite der Straße und musste einige Automobile vorüberfahren lassen, ehe
ich den
Fahrdamm überschreiten konnte. Als ich dann durch das Wagengedränge
hinüberkam,
sah ich, wie die Dame, immer noch mit dem Lorgnon vor den Augen, um die
Ecke
der Straße ging. Dort musste sich ein zweiter Fotografenkasten
befinden, denn
sie sah mit voller Aufmerksamkeit gegen das Haus.
Ich zögerte einen
Augenblick, ihr sofort zu folgen, und stellte mich vor die Bilder an
den
Kasten, vor dem sie vorher gestanden. Mein Herz klopfte ein wenig, als
ich
überlegte, mit welchen Worten ich ihr das Taschentuch überreichen
sollte hier
an der Straßenecke. Wahrscheinlich würde sie mich gar nicht anhören,
wenn ich
mich verbeugen und meinen Hut ziehen würde. Vielleicht würde sie mich
kurz
angebunden stehen lassen, wie sie den Herrn neulich mit dem von ihr
selbst
bezahlten Rosenstrauß hatte stehen lassen.
Nur wenige Augenblicke
überlegte ich das alles und stellte mir vor: wenn ich jetzt um die Ecke
des
Hauses treten würde, wollte ich mich zuerst neben sie stellen und die
Widerspiegelung ihres Gesichtes in dem Schaukasten ein wenig
beobachten, ehe
ich sie anspräche. Ich konnte sehen, dass sie noch dort stand, denn ich
sah die
Spitze ihres grünseidenen Sonnenschirms.
Zugleich bemerkte ich aber
jetzt, dass die meisten Leute, die an der Dame vorübergegangen waren
und um
jene Straßenecke bogen, sich erstaunt, verblüfft oder belustigt lachend
nach
ihr, die nur mir noch verborgen war, umsahen.
Es war doch nicht möglich,
dass sie alle diese Leute kannte! Auch sah ich nicht, dass ein einziger
von
ihnen grüßte oder gegrüßt hatte. Einige sogar kehrten um, und ich sah
an den
Schatten, die über den weißen Asphalt der Straße fielen, dass sich
Menschen
dort ansammelten, wo sie stand.
Was
ist da nur so Urkomisches an dem Schaukasten des Fotografen zu sehen,
fragte
ich mich.
Ich trat nun um die Ecke
des Hauses. Da war gar kein Fotografenkasten an der Wand. Da war auch
kein
Plakat, keine Inschrift. Da war nur eine leere Mauer, eine einfach
gekalkte
Wand, an deren Mörtel für mich nichts zu sehen war. Aber vor der Wand
stand
jene Dame, die ich suchte, mit ihrem Lorgnon vor den Augen und sah so
hin und
her an der Wand, ein wenig hinauf, ein wenig zur Seite, ebenso wie sie
es
vorher vor dem Schaufenster getan hatte.
In einigem Abstand hinter
ihr waren die Leute stehen geblieben, vorübergehende Herren und Damen,
Dienstboten und Arbeiter, die sich mit Gesten und Blicken stumme
Zeichen
machten.
Ich begriff nun: die
Kurzsichtige musste tief in Gedanken sein, und weil sie an der einen
Seite der
Ecke vorher Bilder betrachtet hatte, schien sie auch hier Bilder
erwartet zu
haben, und schien im Geist auch solche zu sehen.
Das
Ganze spielte nur
wenige Sekunden. Dann schien die Dame sich bewusst zu werden, dass die
Wand
leer war.
Auf diesen Augenblick mussten alle Umstehenden
gewartet
haben. Mit demselben Ruck, mit dem die Kurzsichtige gestern vom Tisch
aufgestanden war, trennte sie sich plötzlich von der leeren Wand,
erleuchtet
von einer schreckhaften Erkenntnis ihrer Zerstreutheit. Dann schob sie
das
Lorgnon zusammen und schritt energisch an den Leuten vorbei, in Flucht
vor dem
grausamen Lächeln der anderen. Sie überquerte den Fahrdamm und trat
drüben mit
demselben Ruck und Eifer in einen Schreibwarenladen ein.
Nun wusste ich, ich würde ihr öfters begegnen,
und ich
beeilte mich nicht, ihr mit dem Taschentuch nachzulaufen. Ich hatte an
ihrem
Gang gemerkt, dass sie in dieser Straße zu Hause war. Sie schien immer
zu
dieser Stunde Besorgungen oder einen Spaziergang zu machen.
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Textgrundlage: "Die Kurzsichtige und der Komet" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden", Seite 241-280.
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Logo 195: "Comet C/1858", Donati, aus E. Weiß "Bilderatlas
der Sternenwelt",
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