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Literatur


04.3


Geschichten

Max Dauthendey



 Die Kurzsichtige und der Komet II


Die Tiere aber gehorchten nicht gleich. Sie zerrten an der Schnur, und ich musste mich mit meiner ganzen Kraft mit dem Stock gegen den Baum stützen und hatte alle Mühe, meinen Spazierstock festzuhalten.

Sie aber sah nichts anderes als ihre Hunde. Sie rief ihnen nochmals zu, und da sie glaubte, dass sie sie an einem Baumast festgebunden, ging sie weiter, wobei sie ihr Opernglas aus dem Lederbehälter nahm.
Ich kannte die Hunde beim Namen, und als die Dame weit genug über den Schnee fortgegangen war, flüsterte ich den Tieren ihre Namen zu. Sie sahen erstaunt nach mir und stellten das gemeinsame Kläffen ein, beschnüffelten mich nochmals, wedelten ein wenig belustigt mit ihren Schweifstummeln und setzten sich still zu meinen Füßen nebeneinander.

Ich nahm mir vor, die Terrier festzuhalten und meinen Stock einen Baumast vorstellen zu lassen, bis die Hunde von der Kurzsichtigen wieder abgeholt wurden.

Ich sah die zierliche Gestalt der Dame sich am Rand der Hügelfläche gegen den Nachthimmel abzeichnen und sah, wie sie abwechselnd das Lorgnon nahm und dann wieder das Opernglas, um unter den Menschen zu suchen und unter den Sternen am Himmel.

Es war eine Unruhe über ihr, die mir von ihrer Kurzsichtigkeit auszugehen schien. Und während alle Leute den Kometen im Westen finden wollten, hatte sie sich allein nach der östlichen Himmelsrichtung gewendet, wo sie den Kometen sicher niemals erblicken konnte. –

Wir hatten uns vor Jahren auf eine sonderbare Weise kennen gelernt.

Ich saß damals eines Tages auf der Terrasse des Café Josti am Potsdamer Platz. Es war an einem Nachmittag zur Pfingstzeit. Frühlingslebhaftigkeit war über allen Menschen. Blumenverkäuferinnen mit Flieder, Schneebällen und Pfingstrosen standen mit ihren breiten Körben draußen vor der Terrassenbrüstung neben den Zeitungsverkäufern. Damen mit neuen Sommerhüten und Herren mit neuen Strohhüten spazierten, eilten und schlenderten vorüber.

Die langen Reihen der Straßenbahnen, die Autos und Lastkarren stockten manchmal, wenn einer der vielen Polizisten an den breiten Straßenmündungen die weiß behandschuhte Hand hob.

Ich sah zufällig über den Platz hin und bemerkte, dass ein Schutzmann eine junge Dame, die mit zwei Foxterriern den Fahrdamm überschreiten wollte, herübergeleitete, und dass die Dame, am Trottoirrand angekommen, ihr Portemonnaie zog, um den Schutzmann ein Trinkgeld zu geben.

Die Umstehenden lachten. Der viel beschäftigte Schutzmann aber grüßte nur kurz und ließ die Dame stehen. Diese erkannte die Verlegenheit, in die sie den Schutzmann und die Umstehenden gebracht hatte, und darüber etwas ratlos, gab sie das Geldstück, das sie nun einmal in der Hand hielt, einer Blumenverkäuferin.

Diese meinte natürlich, die Dame wolle eines ihrer kleinen Moosrosensträußchen kaufen, und beeilte sich, ihr einen Strauß aus ihrem Korb zu geben. Indessen schritt aber die Kurzsichtige schon zum Eingang der Terrasse des Cafés. Die Blumenverkäuferin wusste nun nicht, wem sie das Sträußchen geben sollte, und gab es einem Herrn, der den Verkauf beobachtet hatte, und bat ihn, der Dame nachzueilen.

Der Herr lachte und holte die Dame gerade am Eingang des Cafés ein. Dort zog er höflich den neuen Strohhut, verneigte sich und reichte der Kurzsichtigen den kleinen Rosenstrauß. Sie sah den Herrn erstaunt von der Seite an. Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, ließ sie ihn mit den Blumen stehen, denn sie hielt ihn augenscheinlich für einen Zudringlichen und glaubte wahrscheinlich, die Überreichung des Sträußchens bezwecke eine Annäherung. Dann stieg die Dame die wenigen Stufen zur Caféhausterrasse empor, und die Foxterrier, die in der Hitze mit offenen Mäulern stoßweise atmeten, zogen die Dame seltsamerweise nach meinem Tisch hin.

Vielleicht hatten die Terrier mein Interesse, das ich an ihrer Herrin nahm, in Fernwirkung empfunden. Denn ich hatte die Ankommende zwischen, über und neben den Köpfen der um mich Sitzenden mit meinen Augen aufmerksam verfolgt.

Und nun saß sie nach einer Weile neben mir. Die Hunde lagen unter dem Tisch. Sie entnahm einer Handtasche ein kleines Taschentuch und säuberte eifrig die Gläser ihres Lorgnons.

Sie war unauffällig geschmackvoll gekleidet. Ich erinnere mich, dass ein großer, brauner Strohhut mit sehr breiter Krempe mir ihr Gesicht verdeckte, das ich nur einen Augenblick vorher gesehen hatte. Es war mild und blass, und zwei dunkelbraune Augen schauten aus ihm in die Welt, ohne die Welt genau zu sehen.

Die Dame kam mir damals vor, als ginge sie in einer Dunkelheit und müsse sich im Gehen und Handeln mehr auf ihren Instinkt als auf ihre Augen verlassen.

Sie hatte bei dem vorüberrennenden Kellner eine Limonade bestellt. Der Kellner hatte mir eben auch meine Limonade gebracht. Ich las dann aber in meiner Zeitung weiter und wurde für ein paar Augenblicke von einem Artikel gefesselt. Als ich wieder aufsah, trank die Kurzsichtige neben mir meine Limonade aus meinem Glase.

Ich rührte mich nicht und ließ die Dame im Glauben, dass das ihre Limonade war. Bis der Kellner kam, hatte sie das Glas ausgetrunken. Und als er die bestellte Limonade vor sie hinsetzte, sah sie ihn erstaunt an, nahm ihr Lorgnon vor die Augen und bemerkte nun auch mich. Aus ihren Bewegungen konnte ich ersehen, wie sie sich über sich ärgerte. Ich dachte, sie würde mir jetzt ihre Limonade anbieten und eine Entschuldigung vorbringen. Sie aber ließ ihr Lorgnon fallen, zuckte mit der einen Schulter, legte rasch Geld aus ihrem Portemonnaie auf den Tisch und murmelte dabei: „Das ist doch unverschämt.“ Dann stand sie mit einem Rucke auf, zog ihre Hunde, die sich eben zum Schlafen hingestreckt hatten, hinter sich her und verließ offensichtlich verärgert die Terrasse.

In der Schnelligkeit hatte sie nicht bemerkt, dass ihr Taschentuch von ihrem Schoß unter den Tisch gefallen war. Ich war aber durch den Ausspruch „Das ist unverschämt“ so verwundert, dass ich mich nicht gleich bücken mochte. Dann aber belustigte mich das Ganze. Ich nahm das Taschentuch an mich, und als der Kellner kam, fragte ich ihn, ob er die Dame kenne, die eben da gesessen.

„Ja,“ sagte er, „sie hat ein paar Mal morgens ihren Kaffee hier getrunken. Sie scheint sehr zerstreut zu sein. Neulich hat sie in Gedanken unsere Getränkekarte beim Aufstehen mitgenommen, und als einer von uns sie darauf aufmerksam machte, zeigte es sich, dass sie geglaubt hatte, ihr Notenheft in der Hand zu halten. Sie ist Musikschülerin, und ich sah sie auch schon öfters mit einem Geigenkasten vorübergehen. Sie muss hier in der Nähe wohnen.“

Ich hatte das Taschentuch zu mir gesteckt und mir vorgenommen, es der jungen Dame selbst auszuhändigen, wenn ich sie einmal wieder sehen sollte.

Gleich am nächsten Nachmittag, ungefähr um die selbe Stunde, traf ich die Kurzsichtige wieder. Diesmal war sie ohne ihre Hunde.

Sie stand an dem Schaufenster eines Fotografen und betrachtete durch ihr Lorgnon die Bilder. Der Kasten befand sich dicht an einer Straßenecke.

Ich war auf der anderen Seite der Straße und musste einige Automobile vorüberfahren lassen, ehe ich den Fahrdamm überschreiten konnte. Als ich dann durch das Wagengedränge hinüberkam, sah ich, wie die Dame, immer noch mit dem Lorgnon vor den Augen, um die Ecke der Straße ging. Dort musste sich ein zweiter Fotografenkasten befinden, denn sie sah mit voller Aufmerksamkeit gegen das Haus.

Ich zögerte einen Augenblick, ihr sofort zu folgen, und stellte mich vor die Bilder an den Kasten, vor dem sie vorher gestanden. Mein Herz klopfte ein wenig, als ich überlegte, mit welchen Worten ich ihr das Taschentuch überreichen sollte hier an der Straßenecke. Wahrscheinlich würde sie mich gar nicht anhören, wenn ich mich verbeugen und meinen Hut ziehen würde. Vielleicht würde sie mich kurz angebunden stehen lassen, wie sie den Herrn neulich mit dem von ihr selbst bezahlten Rosenstrauß hatte stehen lassen.

Nur wenige Augenblicke überlegte ich das alles und stellte mir vor: wenn ich jetzt um die Ecke des Hauses treten würde, wollte ich mich zuerst neben sie stellen und die Widerspiegelung ihres Gesichtes in dem Schaukasten ein wenig beobachten, ehe ich sie anspräche. Ich konnte sehen, dass sie noch dort stand, denn ich sah die Spitze ihres grünseidenen Sonnenschirms.

Zugleich bemerkte ich aber jetzt, dass die meisten Leute, die an der Dame vorübergegangen waren und um jene Straßenecke bogen, sich erstaunt, verblüfft oder belustigt lachend nach ihr, die nur mir noch verborgen war, umsahen.

Es war doch nicht möglich, dass sie alle diese Leute kannte! Auch sah ich nicht, dass ein einziger von ihnen grüßte oder gegrüßt hatte. Einige sogar kehrten um, und ich sah an den Schatten, die über den weißen Asphalt der Straße fielen, dass sich Menschen dort ansammelten, wo sie stand.

Was ist da nur so Urkomisches an dem Schaukasten des Fotografen zu sehen, fragte ich mich.
Ich trat nun um die Ecke des Hauses. Da war gar kein Fotografenkasten an der Wand. Da war auch kein Plakat, keine Inschrift. Da war nur eine leere Mauer, eine einfach gekalkte Wand, an deren Mörtel für mich nichts zu sehen war. Aber vor der Wand stand jene Dame, die ich suchte, mit ihrem Lorgnon vor den Augen und sah so hin und her an der Wand, ein wenig hinauf, ein wenig zur Seite, ebenso wie sie es vorher vor dem Schaufenster getan hatte.

In einigem Abstand hinter ihr waren die Leute stehen geblieben, vorübergehende Herren und Damen, Dienstboten und Arbeiter, die sich mit Gesten und Blicken stumme Zeichen machten.

Ich begriff nun: die Kurzsichtige musste tief in Gedanken sein, und weil sie an der einen Seite der Ecke vorher Bilder betrachtet hatte, schien sie auch hier Bilder erwartet zu haben, und schien im Geist auch solche zu sehen.

Das Ganze spielte nur wenige Sekunden. Dann schien die Dame sich bewusst zu werden, dass die Wand leer war.

Auf diesen Augenblick mussten alle Umstehenden gewartet haben. Mit demselben Ruck, mit dem die Kurzsichtige gestern vom Tisch aufgestanden war, trennte sie sich plötzlich von der leeren Wand, erleuchtet von einer schreckhaften Erkenntnis ihrer Zerstreutheit. Dann schob sie das Lorgnon zusammen und schritt energisch an den Leuten vorbei, in Flucht vor dem grausamen Lächeln der anderen. Sie überquerte den Fahrdamm und trat drüben mit demselben Ruck und Eifer in einen Schreibwarenladen ein.

Nun wusste ich, ich würde ihr öfters begegnen, und ich beeilte mich nicht, ihr mit dem Taschentuch nachzulaufen. Ich hatte an ihrem Gang gemerkt, dass sie in dieser Straße zu Hause war. Sie schien immer zu dieser Stunde Besorgungen oder einen Spaziergang zu machen.



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Textgrundlage: "Die Kurzsichtige und der Komet" Max Dauthendrey,
 aus: Geschichten aus den Vier Winden", Seite 241-280.

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