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Literatur


04.3



Geschichten

Max Dauthendey





Die Kurzsichtige und der Komet III

Ich hatte aber nicht gedacht, dass ich bald ihren Namen erfahren würde, ohne sie danach gefragt zu haben.

Einen Tag später merkte ich zu meinem Erstaunen, dass von dem Schreibwarenladen, in welchem jene Dame neulich eingetreten war, bis zu einem Haus nahe bei jenem, in welchem meine Wohnung lag, Visitenkarten reihenweise hingefallen lagen. Es regnete, und einige Karten waren von den Füßen der Straßengänger in den Rinnstein geschoben worden. Dort schwammen sie im Regenbach entlang der Straße, wie weiße, kleine Gondeln.

Als ich eben an der Haustüre, wo das letzte Visitenkartenhäufchen lag, vorübergehen wollte, öffnete sich diese und eine Frau trat heraus, die die Hausmeisterin jenes Hauses sein musste. Sie schlug die Hände zusammen und sah schmunzelnd und lachend auf die verlorenen Karten. Und als sie mich auch staunen sah, erklärte sie mir, in ihrem Hause wohne eine kurzsichtige und sehr zerstreute Geigenspielerin. Die habe ein Paketchen Visitenkarten so ungeschickt nach Hause getragen, dass sie alle Karten auf dem Wege zwischen dem Laden und der Haustüre verloren habe. Die Schachtel, die seitlich zu öffnen gewesen, habe sie leer nach Hause gebracht, da die Gummischnur unterwegs zerrissen war, die das Päckchen zusammengehalten hatte. Die Dame schäme sich nun fürchterlich oben in ihrem Zimmer, und darum habe sie die Hausmeisterin gebeten, hinauszugehen und die Visitenkarten aufzulesen.

Ich benützte die Gelegenheit und gab der Hausmeisterin, als sie mir eine Visitenkarte gezeigt hatte, das Taschentuch, das die Dame neulich im Café hatte liegen lassen.

„O,“ sagte die Frau, „sie weiß nie, wohin ihre Taschentücher verschwinden. Aber über die ganze Stadt liegen ihre Taschentücher zerstreut.“

Dann fragte mich die Hausmeisterin, ob ich der Herr sei, der im Nebenhause die Atelierwohnung gemietet habe.

Als ich es bejahte, sagte sie, das kurzsichtige Fräulein habe die gleiche Wohnung in diesem Hause, Atelier, Schlafzimmer und Küche. Die Häuser seien Zwillingshäuser und hätten dieselbe Einteilung.

Da schoss es mir durch den Kopf, dass vor einigen Wochen jemand nachts um zwölf Uhr, als ich mich ausgekleidet hatte, um zu Bett zu gehen, am Schloss meiner Flurtür mit einem Schlüssel herumgestochert hatte. Erst hatte ich geglaubt, es wäre ein Einbrecher, dann war mir das Geräusch doch zu selbstverständlich erschienen, und ich dachte, es müsste sich jemand im Stockwerk geirrt haben. Als nun die Hausmeisterin weiter erzählte, dass die kurzsichtige Dame eines Nachts die Haustüren verwechselt hätte, wusste ich, dass es die Kurzsichtige gewesen war, die mich an meiner Tür erschreckt hatte.

Am nächsten Nachmittag war schönes Wetter, und ich stellte mich ans Fenster, um die Dame, wenn sie ausgehen würde, zu beobachten. Sie kam auch, wie ich mir gedacht hatte. Sie hielt in der einen Hand einen Brief, und dann sah ich, wie sie den Brief in ihre Seitentasche schob und langsamen Schrittes am Bürgersteig hinging bis zum nächsten Briefkasten. Dort aber steckte sie nicht den Brief in den Kasten, sondern ein kleines Futteral, das nur ein Brillenfutteral sein konnte.

Ich musste herzlich für mich lachen. Ich sah der Dame weiter nach. Sie überschritt die Straße und ging in eine Konditorei, wo sie in einem stillen Hinterzimmer ungestört ihren Nachmittagskaffee trinken wollte.

Die Arme hat ihre Brille in den Briefkasten geworfen und wird sie sehr bald vermissen! Ich muss ihr die Brille wieder verschaffen und sie ihr in die Konditorei bringen.

Sie war wie eine hübsche kleine Japanerin, ] harmlos und gedankenvoll, scheinbar immer der Welt entrückt.

Ich nahm Hut und Stock und ging hinunter an den Briefkasten und wartete, bis der Radler auf seinem Postrad kam, der den Briefkasten in seine große braune Leinwandtasche leeren sollte. Ich sagte ihm, ich hätte aus Versehen mit einem Brief zusammen mein Brillenfutteral in den Briefkasten gesteckt.

Er begriff mich erst nicht, und ich musste meine Rede wiederholen. Dann lachte er, und mich ein wenig geringschätzig von Kopf bis zu Fuß ansehend, wie man einen bedauerlichen Dummkopf betrachtet, händigte er mir, nachdem er den Kasten aufgeschlossen, ein viel gebrauchtes und abgenütztes Brillenfutteral ein, in welchem eine Brille klapperte.

In der Konditorei drüben fand ich die Dame dann bei einer Zeitung sitzend.

Ich näherte mich ihr. Sie hatte ihr Lorgnon schnell bei der Hand, und es kam mir vor, als habe sie mich erstaunlicherweise erkannt; und doch war sie ein wenig sprachlos, denn wir kannten uns ja gar nicht. Aber die Hausmeisterin musste ihr erzählt haben, dass ich ihr Taschentuch aufgehoben hatte.

„Können Sie denn meinen Brief schon haben?“ fragte sie. Bin ich denn stundenlang hier gesessen und weiß es gar nicht? setzten ihre unruhigen Augen hinzu.

„Nein, Ihren Brief habe ich nicht bekommen. Aber ich habe Ihr Brillenfutteral, das ich Ihnen hier bringe.“

„Um Gottes willen, wo habe ich das wieder liegen lassen?“ stieß sie gequält hervor und sank auf einen Stuhl.

„Im Briefkasten lag es,“ sagte ich und zwang mich, ein möglichst harmloses Gesicht zu machen.

Sie begriff sofort, und mit jenem Ruck, den es ihr immer gab, wenn eine blitzartige Erkenntnis über sie kam, griff sie nach ihrer Manteltasche und tastete darin nach dem Brief, den ich knistern hörte.

Ohne aber den Brief aus der Tasche zu ziehen, bat sie mich, Platz zu nehmen, und berichtete mir, sie habe mir geschrieben und für das Taschentuch gedankt und zugleich um Entschuldigung gebeten, dass sie einen harten Ausdruck gegen mich gebraucht habe. Das Wort „unverschämt“ sei ihr aber entfahren, weil sie mich für jenen Herrn gehalten habe, der ihr unverschämterweise einen Rosenstrauß am Eingang des Cafés angeboten. Sie hätte im Brief dazugesetzt, dass sie sich persönlich entschuldigen wollte, wenn wir uns einmal begegnen würden.

Dann erzählte sie mir seufzend, dass ihre Kurzsichtigkeit und ihre Zerstreutheit ihr schon viel Schabernack gespielt habe.

Das wusste ich schon. Wir sprachen dann von etwas anderem, von Musik, von Tagesangelegenheiten, und waren nach einer Weile wie alte Bekannte geworden.

Die Konditorei hatte noch ein kleines Nebenzimmer, in welchem an einer Säule ein Springbrunnen plätscherte, um den Wassergläser standen, die zum Kaffee gereicht wurden.

Der Springbrunnen störte mich ein wenig mit seinem plätschernden Laut, der so einförmig wie ein Regenfall war. Es fiel mir auf, dass während unseres Gespräches die kurzsichtige Dame öfters leicht bekümmert zur Seite horchte, und dann sprach sie vom schlechten Wetter der letzten Tage.

Ich hielt das für eine Eigenart von ihr und dachte, sie leide vielleicht bei schlechtem Wetter an Gliederreißen oder etwas Ähnlichem.

Nach einer Weile stand ich auf und verabschiedete mich von ihr. Sie sagte, dass sie das Wetter erst abwarten wollte.

Ich glaubte, sie fühle ein heraufziehendes Gewitter kommen und fürchte sich zu Hause allein zu sein.

Ich ging, und als ich nach ein paar Stunden wieder am Laden vorüberkam – es war inzwischen kein Unwetter gewesen, schöner stiller Himmel und Sommerabend voll Sterne und Klarheit –, da stand der Konditor unter der Türe und blinzelte mir mit den Augen zu und sagte:

„Ihre Dame ist eben erst fortgegangen!“

„Welche Dame?“ fragte ich ganz in Gedanken und erstaunt.

„Nun, die Kurzsichtige, die im Hause neben Ihnen wohnt. Sie hat beim Geräusch von meinem Springbrunnen geglaubt, dass es regnet, und hat Kaffee getrunken und Schokolade getrunken und Limonade getrunken und alle Zeitungen gelesen, weil sie bei dem trostlosen Regenabend, wie sie sagte, nicht zu Hause sitzen wollte, und weil sie ein Kleid anhatte, von dem sie behauptete, dass es von den Regentropfen Flecken bekommen könnte. Dann hat sie gegessen und getrunken und gelesen. Endlich hat sie einen meiner Gehilfen zu sich gerufen und hat ihn zu ihrer Hausmeisterin hinübergeschickt und hat sich ihren Schirm holen lassen. Die Frau konnte gar nicht begreifen, warum das gnädige Fräulein bei dem schönen klaren Abend einen Schirm nötig habe. Wir waren ebenfalls sehr erstaunt, bis die Dame beim Fortgehen zur Ladentür kam und verwundert entdeckte, dass kein Tropfen Regen fiel. Dann ist sie aber ganz wütend über sich selbst fortgerannt, und war wahrscheinlich ärgerlich, dass sie den schönen Abend im Laden verbracht und den plätschernden Springbrunnen für einen Regen gehalten hatte.

Sie lebte das Leben auf ihre eigene Weise. Und als ich sie einmal befragte, ob sie sich nicht fürchte, überfahren zu werden, wenn sie so in Gedanken sei, sagte sie: „Nein, ich habe meinen eigenen Gott, dessen Schutz ich mich immer empfehle.“

„Was ist das für ein Gott?“ fragte ich.

„Der Gott der Idioten,“ sagte sie schmunzelnd und kicherte ein feines Lachen, das ihr sehr gut stand.

Unter anderem war ihr auch einmal passiert, dass sie nach einem Mittagessen in einem Restaurant beim Fortgehen einen großen silbernen Löffel senkrecht vor sich hergetragen. Und als der Kellner sie aufmerksam gemacht, dass sie ja einen silbernen Löffel mitnähme, war sie zu Tod erschrocken gewesen, denn sie hatte geglaubt, sie halte den silbernen Griff ihres Sonnenschirms in der Hand.

Als ich sie dann zum letzten mal sah, es war an einem Hochsommerabend, da ich von einem Ausflug heimradelte, begegnete sie mir in unserer Straße. Sie schien sehr in Hast zu sein, als wenn sich wieder etwas ereignet hätte, was sie kopflos machte.

Ich ließ meine Fahrradklingel trillern, vielleicht etwas heftiger als sonst, da ich die Dame zum Aufschauen zwingen wollte, um sie grüßen zu können. Aber mein Schrecken war groß. Kaum, dass meine Glocke schrillte, lag die junge Dame flach auf der Erde wie umgeklappt, als wenn ein unsichtbares Fahrrad über sie fortgeradelt wäre.

Ich sprang ab und half ihr auf und entschuldigte mich, sie erschreckt zu haben.

Sie war tief in Gedanken gewesen, sagte sie, und das laute Klingeln schien ihr so nah, dass sie sich geduckt hatte, ausgeglitten und gefallen war mit dem Gefühl, sie sei überfahren worden.

Nachdem sie sich aufgerichtet und ein wenig erholt hatte, erklärte sie mir, sie wäre so schreckhaft, weil oben bei ihr ein betrunkener Mensch auf der Treppe läge. Sie wolle morgen aufs Land reisen und habe ihren Koffer gepackt, und sie würde erst im Herbst in die Stadt zurückkehren. Sie fürchtete, der Betrunkene sei vielleicht ein Einbrecher gewesen, der sie bestohlen habe. Sie habe die Hausmeisterin rufen wollen, diese sei aber nicht zu Hause gewesen, und nun wäre sie fortgerannt, um an der nächsten Straßenecke einen Polizisten zu holen, denn jener liege quer über den Treppenabsatz, und sie getraue sich nicht, über ihn hinwegzusteigen.

Ich erbot mich mit ihr hinaufzugehen, um den Betrunkenen aufzuwecken und fortzuweisen.

Sie dankte mir, und wir gingen in ihr Haus, und atemlos horchend stiegen wir zusammen hinauf.

In dem Stockwerk, das unter ihrer Wohnung lag, sagte ich, sie solle warten. Mit meinem Stock tüchtig aufstampfend, um den unverschämten Eindringling zu stören, ging ich allein höher.

Nichts regte sich in der Dämmerung des Treppenhauses. Auf dem Treppenabsatz stand in der Ecke ein gepackter Korbkoffer und quer bei der Treppe, in einen Plaidriemen eingeschnallt, lag ein langer zusammengerollter Reiseschal. Diesen muss die Kurzsichtige für einen Menschen gehalten haben.

Ich rief ins Treppenhaus hinunter, und die Dame kam scheu und vorsichtig heraufgestiegen und wollte es mir nicht glauben, dass kein Mensch da wäre und dass nur ihr zusammengerollter Reiseschal sie erschreckt hätte. Sie behauptete, der Mensch wäre fortgelaufen.

Ich sah es ihr an, wie sie sich schämte, es sich selbst einzugestehen, dass sie wieder getäuscht worden sei. Ich fragte, ob sie den Menschen durch ihr Lorgnon gesehen hätte. Nein, sie hatte ihr Lorgnon vergessen, wollte aber trotzdem nicht zugeben, dass sie den Reiseschal für einen Menschen angesehen hatte. Dann bat sie mich, da ich mal oben war, einen Augenblick bei ihr einzutreten.




 


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Textgrundlage "Die Kurzsichtige und der Komet" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden", Seite 241-280
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