Geschichten
Max Dauthendey
Die
Kurzsichtige und der Komet IV
Drinnen
in den Zimmern war alles in größter
Unordnung.
Wie buntes Gemüse lagen die Dinge durcheinander, und sie entschuldigte
sich,
dass sie mit dem Packen noch nicht fertig sei. Ich musste zwischen
verschiedenen Gegenständen in einer Ecke des Sofas Platz nehmen.
Dann
ging sie in die Küche, wo die Terrier
eingeschlossen
waren, die ihr sehr zugetan schienen.
Sie konnte aber den Knoten der Schnur, die an die Türklinke angebunden
war,
nicht aufmachen, und so ging ich hinzu und half ihr.
Mein Blick fiel zufällig, während ich den Knoten
löste,
auf einen Kohlenkasten, der da stand, und ich wurde von ein paar
seltsam blauen
Papieren, die dort lagen, angezogen. Es schienen zerknitterte
Geldscheine zu
sein. Ich hob dann auch wirklich ein paar Hundertmarkscheine auf, die,
wie sich
herausstellte, das ganze Reisegeld der Dame waren. Das Geld hatte sie
vorher
erst von der Bank geholt.
In der Meinung, es seien alte blaue
Briefumschläge,
hatte sie die Geldscheine in der Hast des Packens fortgeworfen, während
sie den
leeren Briefumschlag sorgfältig in ihre Handtasche gesteckt hatte.
Nun begann sie vor Schrecken zu weinen, und wie
zu ihrer
Entschuldigung sagte sie:
„Jemand hat mir nicht nur mein Herz, sondern auch
meinen
Kopf gestohlen.“
Später, als sie mir sehr schön auf ihrer Violine
vorgespielt hatte, sagte ich ihr, sie müsse mir das Bild dessen zeigen,
der sie
dem Gott der Idioten ausgeliefert habe.
Sie zeigte mir das Bild eines jungen
Kapellmeisters, der
außer einem großen Haarbüschel, der ihm in die Stirn hing, nichts
besonderes zu
bieten schien. Und ich war sicher, dass auch hier, in der Liebe zu dem
Musikanten, ihre Kurzsichtigkeit ihr einen Streich spielte. Sicher
liebte sie
mehr die unklare Vorstellung, die sie sich von dem Menschen machte, als
das
klare Bild des Mannes selbst, das sie niemals sehen konnte.
Ich war eifersüchtig auf diesen Haarmenschen, das
fühlte
ich, und ich fühlte auch, wie leicht es sein würde, diesen Nebenbuhler
zu
verdrängen, der, wie mir schien, seine Rolle im Herzen der jungen Dame
bereits
ausgespielt hatte. Ich tat, wozu mich mein Herz drängte, und warb von
dieser
Stunde an um jenes Mädchen. Ich folgte ihr nach aufs Land, wo sie den
Sommer
verbrachte, und im nächsten Winter besuchte ich in Berlin mit ihr
Konzerte und
Vergnügungen.
Nachdem wir glückliche Monate verlebt hatten, in
denen
ich ihre Kurzsichtigkeit und Zerstreutheit zuerst als eine belustigende
Lebenswürze genossen hatte, wurde ich allmählich von dem Doppelleben,
das sie
führte, nervös, denn es war auf die Dauer unheimlich, wie viel Zeit und
Lebenskraft sie musste, um die Abenteuer zu überstehen, die ihr ihre
Zerstreutheit und Kurzsichtigkeit bereiteten. Und Tage reichten oft
nicht aus,
gut zu machen, was sie in Sekunden der Zerstreutheit harmlos sich und
anderen
angetan hatte.
Sie ging später auf Konzertreisen, und wir
schrieben uns
immer seltener. Ohne dass wir uns Vorwürfe machten, fühlten wir beide,
dass die
Zeit unserer Innigkeit vorüber war. Die junge Dame fand viele Verehrer,
denn
sie war liebreizend und von heiterer Gemütsart und wurde nicht einmal
verstimmt, wenn sie an ihre Kurzsichtigkeit und Zerstreutheit erinnert
wurde. –
Nun stand sie dort, nicht weit von mir, im Schnee
und
suchte den Kometen, der im Westen stand, mit ihrem Opernglas im Osten.
Und ich
hielt ihre beiden Terrier, die zitternd zu meinen Füßen saßen, an
meinem
Spazierstock, den sie für einen Baumast gehalten hatte, fest.
Bald aber bemerkte ich, dass meine Freundin ihr
Opernglas
gar nicht mehr zum Himmel richtete, sondern dass sie den Hügelabhang
hinunter sah,
wo immer noch einzelne Menschen bergauf stiegen.
Während
ihre Augen noch suchten, trat die dunkle Gestalt eines jungen Mannes an
ihre
Seite. Er hielt einen Schneeballen in der Hand. Er schien sie zu
begrüßen und
schien der zu sein, den sie mit ihrem Opernglas im Himmel und auf Erden
gesucht
hatte. Er streckte ihr den Schneeballen hin, den sie in ihrer
Kurzsichtigkeit
für seine Hand hielt, worüber er laut auflachte. Worauf sie den
Schneeballen
nahm und ihm denselben vertraulich an die Brust warf.
Da zog ich meinen Stock vom Baum zurück und
streifte den
Riemen, an denen die Hunde gebunden waren, vom Spazierstock ab und
sagte zu den
beiden Tieren: „Lauft!“
Die munteren Tiere verstanden mich sofort und
sprangen
kläffend zu ihrer Herrin. Ich ging indessen langsam zu einer Bank, wo
ich mich
niedersetzte.
Von der Kurzsichtigen hörte ich einen Ausruf des
Erstaunens. Sie glaubte, die Hunde hätten den Baumast abgebrochen.
Der junge Mann lachte und rief laut: „Das glaube
ich
niemals. Du wirst die Hunde an die Luft angebunden haben.“
Ich hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige geben
mögen, da
er so respektlos zu ihr sprach. Aber
ich sagte mir, er wird wahrscheinlich mit ihr schon hundert ähnliche
Fälle
erlebt haben und hatte das Recht zum Lachen.
Nun hörte ich, wie die junge Dame sagte, sie
wolle den
Baumast ansehen. Er könne sich überzeugen. Der Ast müsse abgebrochen
sein.
Ich sah, wie sie zum Baum ging und dort in die
Luft
fühlte, wo mein Stock gewesen. Aber da war in ihrer Handhöhe weder oben
noch
unten irgendein Zweig am Stamm. In doppelter Menschenhöhe erst setzten
die
Zweige der Tanne an.
Sie sah sprachlos am Baum empor und begriff jetzt
erst,
dass sie sich getäuscht haben müsse.
„Aber es war doch ein daumendicker Ast da,“ hörte
ich sie
versichern.
„Was du gesehen und gefühlt hast, braucht noch
lange
nicht ein Ast gewesen zu sein,“ höhnte der junge Mann.
„Es war ein Ast. Ich habe das Holz gefühlt. Wo
ich bin,
ist die Welt immer verhext,“ erklärte sie zuletzt.
„Denke dir, was mir
gestern
wieder passiert ist!“
Sie kamen beide im Sprechen näher zur Bank, auf
der ich
mit Mantelkragen und mit in die Stirn gezogener Pelzmütze saß und in
den Himmel
starrte. Ich brauchte bei ihrer Kurzsichtigkeit nicht zu fürchten, dass
sie
mich erkennen würde. Sie ließ sich in der Mitte der Bank nieder, kaum
eine
Handbreite von mir weg, während ihr Begleiter sich neben sie setzte.
„Gestern Abend, als du nicht kamst, wollte ich
mir die
Zeit vertreiben, und da ich Appetit auf einen Pfannkuchen hatte und ich
seit
Ewigkeit keinen selbst gebackenen Pfannkuchen gegessen habe, ging ich
aus, um
alles zum Backen Nötige einzukaufen. Ich kaufte die Sachen gleich in
allernächster Nachbarschaft, Milch, Mehl und Eier. Unterwegs kam ich an
einem
Postkartenstand vorbei, wo in kleinen offenen Kasten Ansichtspostkarten
geschlichtet lagen. Ich bücke mich mit Milchflasche, Mehltüte und
Eiertüte und
gehe langsam an dem Kasten entlang und betrachte mir die Postkarten.
Plötzlich
höre ich einen glucksenden Laut und sehe, dass die letzten Tropfen
meiner
Milchflasche auslaufen. Ich hatte beim Entlanggehen an dem Kasten
meinen ganzen
Milchvorrat über die verschiedenen Serienfächer des
Ansichtskartenverkaufes
gegossen, denn der Kork hatte sich von der Flasche gelöst. Ich
war außer mir vor Schrecken und rannte davon.
In meiner Aufregung presse ich aber unterwegs die
Mehltüte und das Eierpaket fest an mich, um sie ja nicht zu verlieren.
Bei
meiner Haustür angekommen, scheint mir die Mehltüte unverhältnismäßig
dünn
geworden zu sein. Ich ahne nichts Gutes und bemerke auch zugleich
hinter mir
eine weiße Mehlfährte, die von der Postkartenhandlung bis zu meiner
Haustüre
führte. Die Tüte war geplatzt, und das Mehl war ausgelaufen. Ich warf
die leere
Tüte in den Rinnstein. Als ich oben in meinem Zimmer die Eiertüte
öffnete, war
nur noch eine gelbe Brühe und zerbrochene Eierschalen im Papier.
Verzweifelt
habe ich mich aufs Sofa gesetzt, habe gehungert und geweint und endlich
musiziert.“
Diese letzten Worte sprach die Kurzsichtige zu
mir, denn
sie hatte wahrscheinlich vergessen, auf welcher Seite der Bank ihr
Begleiter
saß. Dann nahm sie ihr Lorgnon, und ich dachte schon, sie wolle sich
klar
machen, dass sie nach der falschen Seite hin sprach. Aber nein. Sie
betrachtete
meinen Stock, griff mit der Hand danach, immer noch meinend, dass ich
ihr
Begleiter sei und rief jubelnd:
„Da hast du ja den Baumast in der Hand! O,
du
Falscher, du hast ihn heimlich abgebrochen, damit ich glauben sollte,
ich hätte
mich geirrt.“
„Entschuldigen Sie, das ist mein Stock,“
erwiderte ich
ruhig und stand auf.
Ich wusste, sie hatte meine Stimme erkannt, denn
es wurde
grabstill neben mir. Da rief der junge Mann,
der während der ganzen
Zeit mit
dem Opernglas den Himmel abgesucht hatte, laut:
„Ich habe den Kometen gefunden!“
Ich hörte noch wie sie tief aufatmete und
doppelsinnig
sagte: „Ich habe auch einen entdeckt, trotz meiner Kurzsichtigkeit,
aber er
ging so schnell, wie er einmal kam.“
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Textgrundlage "Die Kurzsichtige und der Komet" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden", Seite 241-280.
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Logo 195: "Comet C/1858", Donati, aus E. Weiß "Bilderatlas
der Sternenwelt",
gemeinfrei
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