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Literatur


04.3



Geschichten

Max Dauthendey





Die Kurzsichtige und der Komet IV


Drinnen in den Zimmern war alles in größter Unordnung. Wie buntes Gemüse lagen die Dinge durcheinander, und sie entschuldigte sich, dass sie mit dem Packen noch nicht fertig sei. Ich musste zwischen verschiedenen Gegenständen in einer Ecke des Sofas Platz nehmen.

Dann ging sie in die Küche, wo die Terrier eingeschlossen waren, die ihr sehr zugetan schienen. Sie konnte aber den Knoten der Schnur, die an die Türklinke angebunden war, nicht aufmachen, und so ging ich hinzu und half ihr.

Mein Blick fiel zufällig, während ich den Knoten löste, auf einen Kohlenkasten, der da stand, und ich wurde von ein paar seltsam blauen Papieren, die dort lagen, angezogen. Es schienen zerknitterte Geldscheine zu sein. Ich hob dann auch wirklich ein paar Hundertmarkscheine auf, die, wie sich herausstellte, das ganze Reisegeld der Dame waren. Das Geld hatte sie vorher erst von der Bank geholt.

In der Meinung, es seien alte blaue Briefumschläge, hatte sie die Geldscheine in der Hast des Packens fortgeworfen, während sie den leeren Briefumschlag sorgfältig in ihre Handtasche gesteckt hatte.

Nun begann sie vor Schrecken zu weinen, und wie zu ihrer Entschuldigung sagte sie:

„Jemand hat mir nicht nur mein Herz, sondern auch meinen Kopf gestohlen.“

Später, als sie mir sehr schön auf ihrer Violine vorgespielt hatte, sagte ich ihr, sie müsse mir das Bild dessen zeigen, der sie dem Gott der Idioten ausgeliefert habe.

Sie zeigte mir das Bild eines jungen Kapellmeisters,  der außer einem großen Haarbüschel, der ihm in die Stirn hing, nichts besonderes zu bieten schien. Und ich war sicher, dass auch hier, in der Liebe zu dem Musikanten, ihre Kurzsichtigkeit ihr einen Streich spielte. Sicher liebte sie mehr die unklare Vorstellung, die sie sich von dem Menschen machte, als das klare Bild des Mannes selbst, das sie niemals sehen konnte.

Ich war eifersüchtig auf diesen Haarmenschen, das fühlte ich, und ich fühlte auch, wie leicht es sein würde, diesen Nebenbuhler zu verdrängen, der, wie mir schien, seine Rolle im Herzen der jungen Dame bereits ausgespielt hatte. Ich tat, wozu mich mein Herz drängte, und warb von dieser Stunde an um jenes Mädchen. Ich folgte ihr nach aufs Land, wo sie den Sommer verbrachte, und im nächsten Winter besuchte ich in Berlin mit ihr Konzerte und Vergnügungen.

Nachdem wir glückliche Monate verlebt hatten, in denen ich ihre Kurzsichtigkeit und Zerstreutheit zuerst als eine belustigende Lebenswürze genossen hatte, wurde ich allmählich von dem Doppelleben, das sie führte, nervös, denn es war auf die Dauer unheimlich, wie viel Zeit und Lebenskraft sie musste, um die Abenteuer zu überstehen, die ihr ihre Zerstreutheit und Kurzsichtigkeit bereiteten. Und Tage reichten oft nicht aus, gut zu machen, was sie in Sekunden der Zerstreutheit harmlos sich und anderen angetan hatte.

Sie ging später auf Konzertreisen, und wir schrieben uns immer seltener. Ohne dass wir uns Vorwürfe machten, fühlten wir beide, dass die Zeit unserer Innigkeit vorüber war. Die junge Dame fand viele Verehrer, denn sie war liebreizend und von heiterer Gemütsart und wurde nicht einmal verstimmt, wenn sie an ihre Kurzsichtigkeit und Zerstreutheit erinnert wurde. –

Nun stand sie dort, nicht weit von mir, im Schnee und suchte den Kometen, der im Westen stand, mit ihrem Opernglas im Osten. Und ich hielt ihre beiden Terrier, die zitternd zu meinen Füßen saßen, an meinem Spazierstock, den sie für einen Baumast gehalten hatte, fest.

Bald aber bemerkte ich, dass meine Freundin ihr Opernglas gar nicht mehr zum Himmel richtete, sondern dass sie den Hügelabhang hinunter sah, wo immer noch einzelne Menschen bergauf stiegen.

Während ihre Augen noch suchten, trat die dunkle Gestalt eines jungen Mannes an ihre Seite. Er hielt einen Schneeballen in der Hand. Er schien sie zu begrüßen und schien der zu sein, den sie mit ihrem Opernglas im Himmel und auf Erden gesucht hatte. Er streckte ihr den Schneeballen hin, den sie in ihrer Kurzsichtigkeit für seine Hand hielt, worüber er laut auflachte. Worauf sie den Schneeballen nahm und ihm denselben vertraulich an die Brust warf.

Da zog ich meinen Stock vom Baum zurück und streifte den Riemen, an denen die Hunde gebunden waren, vom Spazierstock ab und sagte zu den beiden Tieren: „Lauft!“

Die munteren Tiere verstanden mich sofort und sprangen kläffend zu ihrer Herrin. Ich ging indessen langsam zu einer Bank, wo ich mich niedersetzte.

Von der Kurzsichtigen hörte ich einen Ausruf des Erstaunens. Sie glaubte, die Hunde hätten den Baumast abgebrochen.

Der junge Mann lachte und rief laut: „Das glaube ich niemals. Du wirst die Hunde an die Luft angebunden haben.“

Ich hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige geben mögen, da er so respektlos zu ihr sprach.  Aber ich sagte mir, er wird wahrscheinlich mit ihr schon hundert ähnliche Fälle erlebt haben und hatte das Recht zum Lachen.

Nun hörte ich, wie die junge Dame sagte, sie wolle den Baumast ansehen. Er könne sich überzeugen. Der Ast müsse abgebrochen sein.

Ich sah, wie sie zum Baum ging und dort in die Luft fühlte, wo mein Stock gewesen. Aber da war in ihrer Handhöhe weder oben noch unten irgendein Zweig am Stamm. In doppelter Menschenhöhe erst setzten die Zweige der Tanne an.

Sie sah sprachlos am Baum empor und begriff jetzt erst, dass sie sich getäuscht haben müsse.

„Aber es war doch ein daumendicker Ast da,“ hörte ich sie versichern.

„Was du gesehen und gefühlt hast, braucht noch lange nicht ein Ast gewesen zu sein,“ höhnte der junge Mann.

„Es war ein Ast. Ich habe das Holz gefühlt. Wo ich bin, ist die Welt immer verhext,“ erklärte sie zuletzt.

„Denke dir, was mir gestern wieder passiert ist!“

Sie kamen beide im Sprechen näher zur Bank, auf der ich mit Mantelkragen und mit in die Stirn gezogener Pelzmütze saß und in den Himmel starrte. Ich brauchte bei ihrer Kurzsichtigkeit nicht zu fürchten, dass sie mich erkennen würde. Sie ließ sich in der Mitte der Bank nieder, kaum eine Handbreite von mir weg, während ihr Begleiter sich neben sie setzte.

„Gestern Abend, als du nicht kamst, wollte ich mir die Zeit vertreiben, und da ich Appetit auf einen Pfannkuchen hatte und ich seit Ewigkeit keinen selbst gebackenen Pfannkuchen gegessen habe, ging ich aus, um alles zum Backen Nötige einzukaufen. Ich kaufte die Sachen gleich in allernächster Nachbarschaft, Milch, Mehl und Eier. Unterwegs kam ich an einem Postkartenstand vorbei, wo in kleinen offenen Kasten Ansichtspostkarten geschlichtet lagen. Ich bücke mich mit Milchflasche, Mehltüte und Eiertüte und gehe langsam an dem Kasten entlang und betrachte mir die Postkarten. Plötzlich höre ich einen glucksenden Laut und sehe, dass die letzten Tropfen meiner Milchflasche auslaufen. Ich hatte beim Entlanggehen an dem Kasten meinen ganzen Milchvorrat über die verschiedenen Serienfächer des Ansichtskartenverkaufes gegossen, denn der Kork hatte sich von der Flasche gelöst.  Ich war außer mir vor Schrecken und rannte davon.

In meiner Aufregung presse ich aber unterwegs die Mehltüte und das Eierpaket fest an mich, um sie ja nicht zu verlieren. Bei meiner Haustür angekommen, scheint mir die Mehltüte unverhältnismäßig dünn geworden zu sein. Ich ahne nichts Gutes und bemerke auch zugleich hinter mir eine weiße Mehlfährte, die von der Postkartenhandlung bis zu meiner Haustüre führte. Die Tüte war geplatzt, und das Mehl war ausgelaufen. Ich warf die leere Tüte in den Rinnstein. Als ich oben in meinem Zimmer die Eiertüte öffnete, war nur noch eine gelbe Brühe und zerbrochene Eierschalen im Papier. Verzweifelt habe ich mich aufs Sofa gesetzt, habe gehungert und geweint und endlich musiziert.“

Diese letzten Worte sprach die Kurzsichtige zu mir, denn sie hatte wahrscheinlich vergessen, auf welcher Seite der Bank ihr Begleiter saß. Dann nahm sie ihr Lorgnon, und ich dachte schon, sie wolle sich klar machen, dass sie nach der falschen Seite hin sprach. Aber nein. Sie betrachtete meinen Stock, griff mit der Hand danach, immer noch meinend, dass ich ihr Begleiter sei und rief jubelnd:

 „Da hast du ja den Baumast in der Hand! O, du Falscher, du hast ihn heimlich abgebrochen, damit ich glauben sollte, ich hätte mich geirrt.“

„Entschuldigen Sie, das ist mein Stock,“ erwiderte ich ruhig und stand auf.

Ich wusste, sie hatte meine Stimme erkannt, denn es wurde grabstill neben mir. Da rief der junge Mann,
der während der ganzen Zeit mit dem Opernglas den Himmel abgesucht hatte, laut:

„Ich habe den Kometen gefunden!“

Ich hörte noch wie sie tief aufatmete und doppelsinnig sagte: „Ich habe auch einen entdeckt, trotz meiner Kurzsichtigkeit, aber er ging so schnell, wie er einmal kam.“




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Textgrundlage "Die Kurzsichtige und der Komet" Max Dauthendrey,
aus: Geschichten aus den Vier Winden", Seite 241-280
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: "Comet C/1858", Donati, aus E. Weiß "Bilderatlas der Sternenwelt",
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