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04.3
Geschichten-
Max Dauthendey
Die acht Gesichter am Biwasee
Die
Segelboote von
Yabase im Abend heimkehren
sehen Seite 3
Jede kleine japanische
Stadt eröffnete abends einen Liebesmarkt, der sich Yoshiwara nennt. Der
Yoshiwara in Tokio ist einer der größten Liebesmärkte in Japan, wo die
schönsten Mädchen vom Inland und aus allen Provinzen zusammenkommen, wo sich
verwaiste Mädchen vom Ertrag der Liebe zu ernähren suchen, wo verarmte Mädchen
mit dem Erlös der Liebe ihre alten Eltern zu erhalten suchen. Auf diesen
Liebesmärkten verkauft sich die Liebe natürlich und schandlos.
Unschuldig und feurig, wie
die Sterne der Milchstraße nachts am Himmel, beleuchten sich nach
Sonnenuntergang die schön-gepflegten, sauberen und breiten Straßen des
Liebesmarktes. Das große eiserne Gitter, das den Stadtteil des Liebesmarktes
von der Stadt trennt, steht, von Polizisten bewacht, weit offen. Hinter dem
offenen Tor, in der Mitte der Eingangsstraße, zieht sich Frühlingsabends eine
rosige Wolke hin durch die Luft: die rosigen Blüten blühender Kirschbäume,
welche in der Mitte der Straßenlinie eingehegt stehen.
Links und rechts von der
Straße beleuchten die kleinen, einstöckigen Häuser mit milden, weißen, langen
Lampionketten ihre Balkone.
Lautlos und feierlich und
ruhig beleuchtet, liegt hier der Weg offen zu den fünftausend
Mädchenschönheiten. In den weiten Seitenstraßen, welche die Eingangsstraße
kreuzen, beginnt der Liebesmarkt. Hier stehen saubere, ebenfalls mit weißen
Lampenketten erleuchtete Häuser. Die Erdgeschosse aller dieser Häuser zu beiden
Seiten der Straße zeigen große, offene, vergoldete Gemächer. Die sind durch
hölzerne Gitterstäbe wie goldene Käfige von der Straße getrennt und innen
beleuchtet von elektrischen Glühbirnen.
In jedem langen Gemach
sitzen in einer Reihe der Straße entlang dreißig bis fünfzig junge,
schmalschultrige Mädchen, in blumige kostbare Seidengewänder gehüllt. Jede
sitzt auf einem kleinen Seidenkissen, wie ein Schaustück in einem Schaufenster.
Die langen Reihen der
weißgepuderten und rosageschminkten Gesichter, unter schwarzen, hohen Frisuren,
die mit goldenen Nadeln besteckt sind, enden nicht. Und Viertelstunde um
Viertelstunde kannst du durch die Straßen gehen, vorüber an den Heeren der
Tausende von jungen Mädchen.
Die Wände jedes
Gittergemaches sind schwer geschnitzt. Aus Goldlack und rotem Lack stehen
lebensgroße Bäume darin, springen lebensgroße Tiger und Drachen an den
Lackwänden entlang, fliegen lebensgroße Kraniche und Paradiesvögel, größer als
die kleinen Mädchen, an den Wänden der Gemächer hin.
Wie dreißig weiße Perlen,
in einer Reihe aufbewahrt in einer goldenen oder roten Truhe, leuchten
perlenweiß die eirunden gepuderten
Mädchengesichter in jedem Gemach. Mal sitzen da dreißig in eisvogelblauen
Gewändern, mit scharlachnen Blumen bestickt, mal dreißig in smaragdgrünen
Gewändern, mit karmoisinroten Blumen bestickt, mal fünfzig in weißen Gewändern,
mit regenbogenfarbigen Schmetterlingen bestickt, mal fünfzig in schwarzen
Gewändern, darunter die Schleppen von rosa-grün- und blauseidenen Gewändern
abgestuft vorschauen.
Jedes Mädchen hat neben
sich einen großen Porzellantopf, darin Holzasche um Kohlenglut liegt. Sie
rauchen kleine silberne Pfeifen, in die nur eine Prise Tabak geht, nicht mehr,
als Daumen und Zeigefinger zu einer kleinen Tabakkugel drehen können, und
zünden diese mit einem Stückchen Kohle in feiner silberner Zange an. Die eine
frisiert sich vor ihrem kleinen Spiegel; die andere schreibt mit einem Tuschepinsel
auf ihrem Schoß auf einem langen Reispapierstreifen einen Brief; die nächste
trinkt Tee aus einer fingerhutgroßen Tasse; und wieder eine fächelt sich, und
wieder eine andere liest in einem kleinen Büchlein einen Roman. Eine zupft eine
Mandoline, und eine andere wispert ein Lied dazu. Eine kommt an das Gitter
getrippelt, hebt vorsichtig ihre drei Schleppen, winkt vorsichtig ein paar
Fremden; eine andere kommt an das Gitter und plaudert mit Mutter und
Geschwistern, die zum Besuch auf der Straße stehen, freundlich und bescheiden.
Eine vielhundertköpfige
Menschenmenge, Männer, Soldaten, Frauen und Kinder, ziehen gesittet, flüsternd
und lächelnd, mit hell beschienenen Gesichtern durch die erleuchteten Straßen,
vorüber an den vergitterten Gemächern der Erdgeschosse. Und stundenlang bis
nach Mitternacht wandern die Volksmengen jeden Abend vor den fünftausend
Mädchen auf und ab, stehen als Besucher an den Gittern, treten als Besucher in
die Häuser, kaufen sich Gesang, Musik, Tanz und Liebe, nachdem jeder Mann auf
der Straße unter den Dreißig eines Gemaches seine Wahl getroffen hat.
Hier in eines der Häuser
des Tokioyoshiwara trat Hanake mit ihrer Magd ein und blieb hundert Nächte, um
hundermal ihren Leib zu verkaufen, wie sie es den Göttern versprochen hatte, um
sich dadurch frei zu kaufen von dem Gehorsam gegen den Sohn des Himmels.
Sie verkaufte sich jungen
Männern, welche die Liebe kennen lernen wollten, und alten, von der Lebenssorge
abgetöteten einsamen Männern, welche die Liebe noch einmal erleben wollten, ehe
sie starben; sie verkaufte sich den in den Krieg gehenden Soldaten und den aus
den Schlachten heimgeschickten Invaliden; sie verkaufte sich Studenten,
Handwerkern, Adeligen und Kulis. Nur den Ausländern, den Europäern und
Amerikanern, verweigerte Hanake ihren Leib.
Aber eines Abends kam ein
junger Amerikaner, ein hübscher Marineoffizier, in das Haus und forderte für
sein gutes Geld vom Hausbesitzer Hanake. Es war in den Tagen, da die
amerikanische Flotte im Hafen von Yokohama lag und die Amerikaner der
japanischen Nation einen Ehrenbesuch machten. Vom Stadtgouverneur war der
Befehl ergangen und an den Straßenecken angeschlagen: „Japaner! Ihr dürft nicht
vor den Europäern ausspucken! Ihr dürft ihnen auch keine Stöcke in den Weg
werfen, daß sie stolpern. Auf den Straßen sollt ihr nicht zu dicht neben den
Europäern gehen, immer drei Schritte von ihnen weg. Ihr sollt alle europäischen
Barbaren überhaupt höflich behandeln, als wenn sie gesittete Asiaten wären. In
den Besuchstagen der amerikanischen Flotte soll kein Mädchen in den Yoshiwaras
sich einem Ausländer verweigern dürfen.“
Hanake verweigerte sich
trotzdem. Und da es gerade die hundertste Nacht war, in der sie den Göttern
abgedient hatte, floh sie mitten in der Nacht samt ihrer Magd durch eine
Hintertür aus dem Yoshiwarahause, ließ ihre Kleidung und ihren Schmuck zurück
und eilte in ihren Alltagskleidern aus dem Yoshiwara. Verhüllt und unbemerkt,
entkam sie im Gedränge der vielhundertköpfigen Menge. Sie trug nichts bei sich
als einen kleinen Vogel in einem winzigen Käfig.
Eines der Mädchen in dem
Yoshiwarahaus hatte ihr eine Stunde vor der Flucht den Vogel verkauft, eben als
der amerikanische Offizier in das Haus trat. Im Schreck der Flucht hatte Hanake
den Vogelkäfig krampfhaft in der Hand behalten, ohne ihn loszulassen.
Der Vogel war ein
Nachtigallenmännchen und saß verblüfft in dem kleinen Käfig, denn er war eben
erst von seinem Weibchen, mit dem er einen andern Käfig geteilt hatte, getrennt
worden.
Die beiden Frauen wollten
den Vogel unterwegs füttern, aber er fraß nicht. Sie reisten beide mit dem
wunderlichen Vogel in der Nacht mit dem nächsten Zug nach dem Biwasee und kamen
am nächsten Mittag wieder in Hanakes Haus am See an.
Die Magd öffnete die
Fenster und ließ frische Luft durch die Kammern streichen. Es war Herbst geworden,
und mit jedem Luftzug flogen welke Blätter von den Uferbäumen herein.
Das Seewasser zeigte nicht
mehr die blaue Sommerfarbe, es war tief grün. Die Sonne stand schräg und warf
gespenstische Schatten. Das lebhafte Schilf war abgemäht, und die Stoppeln
standen lautlos und tot.
Aber Hanake wurde von der
Herbstwelt nicht traurig gestimmt. Das Leben im Yoshiwara ging noch in lauten
Bildern durch ihr Blut. Sie war täglich hundertmal gefallen, hatte
hunderttausendmal lachen müssen, ohne lachen zu wollen, war hundertmal umarmt
worden, ohne eine Umarmung zu ersehnen. Die Bewunderung war ihrem Körper zur
Gewohnheit geworden. Hanake wußte jetzt fast nicht mehr, warum sie einst aus
diesem Hause hier am See fortgegangen war. Sie hatte den Tag mit dem Prinzen beinah
ganz vergessen, sie hatte kaum noch den Abend mit dem Geliebten in Erinnerung.
Sie hörte nur noch den Schuß im Ohr und sah sich noch im Boot auf dem Schoße
ihres Geliebten liegen, wenn sie wollte. Aber sie konnte sich nicht mehr das
Gesichts ihres toten Geliebten zurückrufen, nicht mehr seine Stimme erinnend
zurückrufen. Die Hunderte von Gesichtern und Stimmen, die im Yoshiwara Hanake
bewunderten, hatten das Gesicht und die Stimme des Geliebten aus ihrer
Erinnerung verdrängt. Hanake war auch darüber nicht traurig, nur verwundert.
Es wurde Abend. Die Magd
hatte das Haus bestellt. Da bemerkte Hanake das kleine halbtote
Nachtigallenmännchen im Käfig und dachte: „Ich will dich fliegen lassen,
kleiner Vogelmann. Vielleicht fliegst du zurück ins Yoshiwara nach Tokio zu
deinem Weibchen.“
Sie öffnete den Käfig. Da
schoß der kleine Vogel heraus. Aber anstatt aus dem offenen Fenster zu fliegen,
warf er sich wie ein Wütender in Hanakes Frisur und riß wie wahnsinnig geworden
mit den beiden kleinen Krallenfüßen in den Haaren des erschrockenen Mädchens
und viel dann wie tot an Hanake herunter auf die Diele.
Hanake zitterte vor Schreck
und sank in die Kniee. Sie verstand, daß das Vogelmännchen, das sie von dem
Weibchen getrennt hatte, sich an ihr rächen wollte und vor wütender Aufregung
gestorben war.
Hanake hielt die Finger an
ihr schmerzendes Haar. Aber es war, als sei der Liebesschmerz des Vogels in ihr
Herz gedrungen und habe auch in ihrer Seele wieder alle Liebeserinnerungen
geweckt.
In der Ferne auf dem See
tauchten drei Segel auf. Sie zogen der Seelinie entlang, langsam, und
verschwanden. Hanake erkannte, als sie vom See weg auf die weiße Wand ihres
Zimmers sah, plötzlich wieder in der Erinnerung das Gesicht ihres Geliebten.
Sie schauderte vor Entzücken.
Sie wollte das Gesicht des
Geliebten mit ihren Augen auf der weißen Wand festhalten. Aber die Gesichtszüge
verschwanden, und die Erinnerung erlahmte wieder, und Hanake wurde verstört und
tief traurig.
„Kleiner Vogel,“ seufzte
Hanake, „zeige mir den Weg zu meinem Geliebten!“
Der kleine Vogelkörper
zuckte plötzlich auf der Diele zusammen und flatterte taumelnd an die
Papierwand. Dort stand in einer Nische neben einer Blumenvase ein winziger
Lackkasten. Der um sich schlagende Vogel warf das Lackkästchen aus der Nische.
Die winzige perlmutterbeschlagene Schublade des Kästchens fiel heraus, und der
Vogel stürzte dann tot zur Diele. Aus der offenen Schublade aber flatterten im
Windzug ein paar Seidenpapiere zu Hanake hin.
Zwischen den Seidenpapieren
lagen kleine Stückchen des platten Schaumgoldes, womit die Japaner ihr Briefpapier
schmücken. Aber Hanake verstand auch den tödlichen Wert, den das Schaumgold für
den Lebensmüden hat. Rasch entschlossen, legte sie sich ein paar Blättchen des
dünngefalzten Rauschgoldes auf die Lippen, tat ein paar Atemzüge und hüllte ihr
Gesicht in die Armel ihres Kleides. Dann sank sie erstickt auf die Diele am
offenen Fenster hin.
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Textgrundlage: "Die
Segelboote von Yabse im Abend heimkehren sehen",
aus: Die acht Gesichter am
Biwasee, Japanische Liebesgeschichten,
Max Dauthendey Albert Langen, München
1932, 37. bis 40. Tausend,
Copyright 1911 by Albert Langen, Munich, Printed in
Germany
Digitale
Sammlung der
Universität
zu Köln
Logo 519:
“Sketch”,
Kawanabe Kyosai (1831-1889),
19.
JH, Standort: Brooklyn Museum, Asien Art
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