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04.3
Geschichten-
Max Dauthendey
Die acht Gesichter am Biwasee
Die
Abendglocke vom
Miideratempel hören
Der
älteste Baum Japans
steht am Biwasee, nicht weit von der Stadt Ozu, nicht weit von den
Tempelterrassen des Miideratempels, der auf grünem Hügel über einem
Kryptomerienwalde liegt.
Als
dieser viel tausend
Jahre alte Baum nicht höher als ein Grashalm war, leuchtete der
harfenförmige
Biwasee dicht bei dem Baumschößling ebenso wie heute noch unverändert
bei der
alten, zerklüfteten Baumruine.
Dieser
älteste Baum Japans
stützt sich jetzt wie ein gealteter Gott, der Hunderte von Armen vom
Himmel
über die Erde ausbreitet, auf Hunderte von Stangen, die gleich
Hunderten von
Krücken und Stelzen sein morsches Dasein tragen.
Damals,
als der Baum jung
wie ein Halm war, war aber der Miideratempel noch nicht gebaut, und
niemand hörte
noch den wunderbaren Klang der Miideraglocke, die abends beruhigend wie
eine
singende Frau ihre Stimme von den Tempelterrassen an dem alten Uferbaum
vorüber
zur Harfe des Biwasees schickt.
Dieser
Baum wurde in ferner
Vorzeit aus China nach Japan herüber gebracht, als winziges Würzelein
zuerst;
und in Japan erfuhr man erst sehr spät seine chinesische Geschichte.
Als
der Baum so groß wie
ein Menschenkind wurde, hatte er noch nicht mal einen Japaner gesehen.
Und als
die ersten japanischen Menschen zu ihm kamen, war er schon in den
kräftigsten
Mannesjahren und fast so hoch wie die Kryptomerienbäume des nahen
Bergwaldes.
So
ein Baum, der nie von
der Stelle rückt, und dessen Umgebung gleichfalls nie fortreist, und
der nur
die Bewegungen der Jahreszeiten kennt, hat ein vorzügliches Gedächtnis.
Dieses
drückt sich aber nicht darin aus, daß sich sein Mark Gedanken macht
über das,
was gewesen ist oder was kommen wird, sondern das Gedächtnis eines
Baumes liegt
immer offen an seiner Außenseite. Die Furchen und Rinden haben sich
jeden Tag
mit Linien, Eingrabungen, Knorpeln, Schürfungen die kleinsten
Erlebnisse wie
mit einer stenographischen Schrift in Zeichenschrift notiert. Wie der
Baum sich
dehnte, wenn ihm in der Welt wohl war, und sich verborkte und sich
verpanzerte,
wenn ihn die Welt bedrohte, vergrübelte sich seine Rinde und faltete
sich zu einer
Zeichenschrift.
Die
Schriftgelehrten der
Bäume sind die Ameisen, die Libellen, die Bienen, die Vögel. Die
Borkenkäfer
und Borkenwürmer sind untergeordnetere Schriftsetzer, die an der
Schicksalssprache des Baumes, an der Rindenschrift, mitarbeiten.
Diese
Sprache der Bäume
entdeckte eines Tages , als die Japaner noch vorzeitliche Bastkleider,
Blättergewänder und verwildertes Kopfhaar trugen, nicht in Japan,
sondern in
China, ein weiser Einsiedler. Der hieß Ata-Mono.
Die
Geschichte Ata-Monos
liegt weit zurück; sie fällt vor die Entdeckung des alten Baumes am
Biwasee.
Als
Ata-Mono die ersten
Schriftzeichen in einem chinesischen Weidenbaum entdeckte, las er auch
in der
Baumrinde das Mittel, seinen Leib unsterblich zu erhalten. In dem Bast
jenes
Weidenbaumes in China stand geschrieben, daß jeder Mensch, ob groß oder
niedrig, ob klug oder beschränkt, ob schwach oder stark, alt oder jung,
sich
die Unsterblichkeit des Lebensfadens und auch des Leibes erhalten
könne, wenn
er einmal im Leben beim Laut einer bestimmten Harfe einschlafe. Diese
Harfe,
sagte der chinesische Weidenbaum, sei nicht in China, aber nicht weit
über dem
Meer in einem kleinen Inselland, das damals in China noch keinen Namen
hatte
und nur von einigen „das Land des ewigen Feuers“ genannt wurde, weil
der
Feuerkrater Fushiyama dort immer rauchte.
Ata-Mono
suchte den Weg
dorthin und las von Baum zu Baum die Rindensprache, bis er ans Meer
kam; aber
niemand konnte ihn hinüberführen, denn nur Schiffe, die durch Zufall
nach dem
Inselland verschlagen wurden, alle hundert Jahre einmal, hatten Kunde
von dem
Feuerland gebracht, in dem Ata-Monos Harfe liegen sollte.
Ata-Mono
saß jetzt jahraus,
jahrein am Meer und schmachtete nach der Unsterblichkeit, kehrte seinem
Vaterlande den Rücken und sah mit seinem Angesicht Tag für Tag nach
Osten, wo
hinter den Wellenbergen das kleine Land des ewigen Feuers war, darin
die fremde
Harfe liegen sollte.
Eines
Tages kam ein
Oststurm. Ata-Mono zog sich etwas weiter vom Strand zurück. Da sah er
in der
Ferne über dem aufgerüttelten Meer ein vielarmiges Wesen. Das kam mit
senkrechtem Leib und dunkeln Krallen wie ein mächtiger, belaubter Baum
über das
Meer geschossen.
Ata-Mono
hielt die
Erscheinung zuerst für ein Gespenst, dann für einen Drachen, und dann
erkannte
er, daß der vielarmige, riesige, aufgerichtete Körper wirklich ein Baum
war,
ein grün, frischer Kryptomerienbaum mit feuerrotem Stamm; denn die
Rinden der
Kryptomerienbäume leuchten rot, wenn sie naß werden. Dieser Baum troff
von
Seewasser, schoß an den kiesigen Strand; und als wandere er leibhaftig
auf
seinen Wurzeln, eilte er, vom Wind getrieben, eine Viertelstunde tiefer
in das
Land hinein, bis er andere Bäume fand, in deren Nähe er windgeschützt
stehen
blieb und sich mit seinen Wurzeln, wie mit riesigen Adlerkrallen,
feststellte.
Ata-Mono
kannte keine
Furcht; und als der wunderbare Baum wie eine rote Fackel über das
Wellengewühl
des Meeres aufrecht daherkam und seine finsteren Zweige wie schwarzen
Rauch in
die Luft streckte, da wich der sehnsüchtige Träumer nicht zurück, denn
er war
ja der erste Vertraute, den die Bäume sich unter den Menschen
auserwählt und
dem sie ihre Rindenschrift in einer guten Stunde zu erkennen gegeben
hatten;
und er kannte keine Furch vor den Bäumen, auch nicht vor diesem
seltsamen übers
Meer gewanderten Baumriesen.
Ata-Mono
legte sich in
dieser Nacht unter den neuangekommenen Baum, nachdem er Wurzeln und
Rinde von
Tang, Seeschlamm und Seemuscheln gereinigt hatte; und er schlief ein
mit dem
Bewußtsein, daß dieser Baum zu ihm allein nach China und sonst zu
keinem andern
gesendet war. Und er freute sich, am nächsten Morgen aus der Rinde
dieses
Baumes Schicksale und Gedanken und Wünsche dieser Kryptomerie zu lesen
und
vielleicht zu erfahren, wie er nach dem kleinen Land des ewigen Feuers
zu jener
Harfe gelangen könne.
Der
Morgen kam, und
Ata-Mono studierte bis zur untergehenden Sonne, ohne zu essen, ohne zu
trinken,
ohne aufzuschauen, die Gruben, Windungen und Furchen in der Rinde
seines
Baumkameraden. Aber es war ihm unmöglich, die Zeichen der Rinde zu
entziffern,
er verstand nichts von der Sprache dieses Baumes. Die Zeichensprache
aller
chinesischen Bäume konnte er lesen, an diesem Baum aber blieb sie für
ihn
unleserlich. Und Ata-Mono weinte, als die Sonne untergegangen war und
er unter
dem unbegreiflichen Baum saß, unwissend und einsam.
„Wenn
ich dich nicht lesen
kann, so sprich!“ schrie er den Baum ungeduldig an, als die Sonne zum
letzten
Male aufleuchtete und den Stamm rot bestrich.
„Herrlicher,
herrlicher Baum!“
schrie Ata-Mono voll Entzücken, weil der Baum von der Wurzel bis zur
Krone wie
eine feurige Kohle leuchtete.
Der
Baum schwieg. Die Sonne
ging unter.
Ata-Mono
schrie: „Ich
schwöre, daß ich nichts mehr essen und nichts mehr trinken werde, bis
du mich deine
Rindenschrift lesen läßt, oder bis du mir jemanden sendest, der mich
deine
Schrift lehrt.“
Und
Ata-Mono lief zum
Strand und stopfte sich den Mund mit Kieseln voll, weil er nicht mehr
essen,
nicht mehr reden, nicht mehr schreien und nicht mehr atmen wollte.
Halb
erstickt lag er am
Strande und haßte seine Sehnsucht nach der Unsterblichkeit.
„Ich
will die Harfe
vergessen,“ dachte er und lag in den letzten Atemzügen. Dann wurde ihm
wohler.
Wie beruhigend ist es doch, wenn man einen wilden Wunsch aufgibt! Man
steigt
herab, wie von einem wilden Pferd, und hat wieder festen Boden unter
den Füßen.
Nach
dieser beruhigenden
Betrachtung richtete er sich gedankenlos auf, nahm die Steine
gedankenlos aus
dem Munde und schöpfte frischen Atem. Dann sprang er auf seine beiden
Beine,
streckte die Arme aus und lachte wieder zum ersten Male seit vielen
Jahren. Und
seine Stirn, die immer gegrübelt hatte, wurde blank und jung wie die
aufgehende
Mondscheibe.
„Ach,
Mond, lebst du noch?
Ich habe dich lange nicht gesehen.“ Und Ata-Mono bewunderte die
kleinste
Muschel im Mondschein, die Grübchen im Sand und die Wölklein, die mit
dem Mond
zogen, denn er hatte seit Jahren nur Bäume und Baumringen gesehen und
alles
andere vergessen. Und nun ließ er auch sein Gehör wieder zu sich
kommen. Er,
der nur mit den Augen an den Baumrinden gelebt hatte, horchte, wie das
Dünengras raschelte, wie die Dünenmäuse miteinander wisperten, wie die
Füchse
hinter den Baumwurzeln bellten, wie die Eulen sich zuriefen, und wie
die Fische
im Mondschein plätscherten. Und nachdem er sein Gehör befriedigt hatte,
sagten
seine Zunge und sein Gaumen zu ihm, seine Zähne und sein Magen und sein
gekühltes Blut: „Weißt du, es gibt ganz andere Dinge zu essen als
Baumsaft und
Baumrinde, wovon du dich jahrelang genährt hast. Hörst du nicht? In der
Ferne
gackerten Truthühner im Schlaf. Und Schweine grunzen im Schlaf, weil
ihnen der
Mond auf die Rüssel scheint. Und Bauernhöfe sind in der Nähe, wo du
Eier,
Schweinespeck, gebackene Fische und Reis essen kannst. Und sehnst du
dich nicht
nach Wärme am ganzen Leib? Und hast du nicht dort, wo den andern
Menschen ein
verliebtes Herz sitzt, einen bitterkalten Fleck in der Brust?“
Ata-Mono
seufzte tief auf,
weil alles ihm wahr schien, was seine Sinne zu ihm sagten. Er stand auf
und erinnerte
sich,daß die Menschen Kleider trugen. Und er flocht sich noch in der
Nacht ein
langes Hemd aus gedörrtem Tang, und er war eitel genug und flocht sich
Ketten
aus Muscheln daran und Ketten aus Muscheln ins Haar, weil er den
Dirnen, denen
er begegnen wollte, zu gefallen wünschte.
Ata-Mono
ging dann, als es
kaum Tag war, unter den letzten Sternen fort vom Meere, wieder mit dem
Gesicht
in das chinesische Land hinein.
Bei
dem ersten Bauernhaus
standen drei Weiber an einem Brunnen. Die sagten freundlich: „Guten
Morgen,
Ata-Mono.“ Und Ata-Mono dankte und war verwundert, daß man seinen Namen
kannte,
und er bat um etwas süßes Wasser.
Und
während er noch wartete,
bis der Eimer aus dem Brunnen stiege, ging eines der drei Weiber
grüßend fort.
Der
erst Becher süßen
Wasser, den er seit Jahren trank, schien ihm so nahrhaft und so
wohltuend, daß
er glaubte, es würde ihn nie mehr dürsten. Und er sagte zu den Frauen:
„Ich
werde euch später
danken, wenn ich einmal reich werde.“
Die
Frauen verneigten sich
vor Ata-Mono wie vor einem adligen Herrn und sagten:
„Du
bist der Reichste im
Lande!“ Und ihr Gruß und ihre Ehrerbietung machten, daß er sein Herz
sich
wieder erwärmen fühlte, als schiene ihm die Sonne in den offenen Mund.
Ata-Mono
ging, gesättigt
durch den Wassertrunk, von dem Bauernhof fort, tiefer in das Land,
bewunderte
die Reisfelder und die Maulbeerbäume und kam zu einer Ortschaft. Die
bestand
nur aus zehn Häusern. Aber nahezu dreißig Frauen standen am Eingang des
Ortes.
Und alle dreißig verneigten sich vor Ata-Mono. Er erkannte unter den
Frauen
jene, welche die dritte gewesen an dem Brunnen, an dem er vorher
getrunken
hatte, und die fortgegangen war und hier seine Ankunft angesagt hatte.
Er
staunte darüber, daß das geschehen war, und er wußte nicht, warum die
Leute so
viel Wesens aus ihn, dem Unbekannten machten.
Eine
Frau wurde rot und
trat vor und sagte: „Unsere Männer sind bei der Feldarbeit und wissen
nicht,
daß du kommst. Nur wir haben es eben erst durch eine Frau erfahren, daß
du nach
China zurückkehrst.“
Er
konnte vor Staunen nicht
antworten und kaum danken, - so tief verfiel er in Betrachtungen und
erriet
nicht, warum alle die Frauen Zeit und Lust hätten, sich um ihn zu
kümmern.
Ata-Mono
hatte noch nicht
den Ort mit den zehn Häusern verlassen, da kamen ihm auf der Landstraße
über
den nächsten Hügel und über den zweiten Hügel und über den dritten und
vierten
Hügel schon neue Frauen und Mädchen entgegen. Immer empfing er
dieselben Grüße,
und immer wieder mußte er hören, daß die Männer bei der Arbeit seien.
Ata-Mono
ging über den
fünften Hügel. Dort standen schon Reihen von Frauen zu beiden Seiten
des Weges.
Die hatten sich gelagert und standen dicht gedrängt. Aber kurz vor
Sonnenuntergang, am sechsten Hügel, dahinter die Hauptstadt der Provinz
lag,
standen die Frauen nicht nur am Wege, sondern saßen auch in den Zweigen
der
Bäume, und ihre Gesichter waren glänzend wie Lampen am Abend. Die oben
in den
Bäumen klatschten Beifall und die, die unten standen, verneigten sich
und
murmelten Beifall.
Hundert
Schritte vor dem
Tor und den vier Türmen der Provinzhauptstadt, wo das Frauengedränge am
Wege am
dichtesten war, hörte Ata-Mono plötzlich einen allgemeinen Schrei des
Entsetzens.
Ein surrender Laut traf sein Ohr, und ein langer, schwirrender Pfeil
sauste vor
ihm in den Boden und stand senkrecht und zitternd fest vor seinem Fuß.
Er
staunte, aber er ließ
sich nicht in seinem Wege stören und tat drei Schritte weiter. Da
stürzten
schnell drei Speere vor ihm nieder. Der eine zerschellte an einem Baum,
der
zweite durchbohrte ein Weib am Wegrand, der dritte fuhr durch Ata-Monos
Haar
und riss die Muschelkette aus seinem Haar mit sich.
Gleich
darauf sah Ata-Mono,
daß die Frauen auf den vier Türmen des Stadttores in Aufruhr gerieten
und von
jedem Turm einen Mann hinunterstürzten.
„Was
bedeutet das?“ fragte
Ata-Mono die zwei Frauen, die ihm zunächst standen.
„O,
Herr, ein paar
eifersüchtige Männer wollen euch töten“, sagte die eine der beiden
Frauen
eifrig; die andere lachte.
„Warum
sehe ich nur Frauen
und keinen Mann, der mich begrüßt?“ fragte er weiter.
„O,
Herr, der Regent hat
befohlen: am Tage, wo Ihr vom Meere wieder nach China zurückkehren
würdet,
dürfe kein Mann sein Haus verlassen und kein Mann die Straße betreten,
da die
Eifersucht der Männer grenzenlos ist, und weil dich alle Männer hier
hassen.“
Ata-Mono
sagte verwundert:
„Ich habe seit Jahren keine Männer gesprochen. Warum hassen sie mich,
und warum
sind sie eifersüchtig auf mich?“
„Herr,
Ihr wißt nicht, daß
der Regent tief betrübt war, weil ihr, der ihr der Erste seid, der die
Sprache
der Bäume verstand, - weil ihr China den Rücken kehren wolltet.“
Ata-Mono
staunte:
„Ich
habe es niemand
erzählt. Woher weiß der Regent, daß ich die Schrift der Baumrinden
lesen kann?“
„Herr,
man sah euch ja
täglich in eurem Heimatort an allen Wegen, in allen Wäldern, wie ihr
laut die
Sprache der Bäume entziffert habt. Die Menschen standen in Scharen um
euch und
lernten von euch das Lesen der Rinden. Und jetzt lesen alle unsere
Männer und
verstehen die Sprache der Bäume wie ihr.“
„Sind
sie deswegen
eifersüchtig, eure Männer, weil ich der Erste war, der alle Sprache der
Bäume
verstand?“
„O
nein , Herr, sie sind
eifersüchtig, weil der Regent am Tag, da ihr China den Rücken wendetet
und ans
Meer gingt, geschworen hat, daß ihr an dem Tag, an dem ihr umkehren
würdet und
unter sein Volk zurückkehren, - daß ihr dann die Wahl haben würdet
unter allen
Frauen, ob verheiratet oder unverheiratet, ob hoch oder niedrig: ja,
die
Regentin selbst dürft ihr als Frau euch erwählen. Aber ihr müßt euch
entscheiden,
ehe die Sonne dieses Tages untergeht. Habt ihr dann nicht gewählt, wird
man
euch morgen töten. Der Regent will, daß ihr, tot oder lebendig, jetzt
im Lande
bleibt, und daß ihr nicht den Ruhm des Landes gefährdet, daß ihr nicht
auswandert
oder eine Frau aus einem anderen Volke wählt als aus dem unsern.
Die
Männer, die vorhin von
den Türmen gestürzt wurden, waren die Männer von den vier schönsten
Töchtern
des Regenten; diese vier Männer wollten euch töten, ehe ihr die Stadt
betreten
hättet, weil sie bei eurer Brautschau für ihre Frauen fürchteten.“
Ata-Mono
sagte: „Alle
hunderttausend Frauen des Landes sind mir willkommen. So wenig, wie ich
jetzt
mehr den Willen zur Unsterblichkeit habe, so wenig Willen habe ich zur
Liebeswahl. Ich werde also morgen sterben. Warum bin ich nicht schon
vorhin
gestorben, als der Pfeil zielte und die Speere eine Frau töteten, statt
mich zu
töten?“
„Komm!“
sagte das Weib, das
ihm geantwortet hatte. „Leg deinen Arm um mich und verkündige mich als
deine
Frau. Dann wirst du nicht sterben müssen. Und ich will dir helfen, die
Unsterblichkeit zu sichern, die du am Meer vergeblich erwartet hast.“
Ata-Mono
fragte rasch:
„Kennst
du die
Rindensprache der roten Kryptomerienbäume?“
„Natürlich,“
sagte die Frau
ebenso rasch. „Ich habe zwar nie einen solchen Baum gesehen, ich kenne
aber
seine Rindenschrift wie die Linien meiner Hand.“
Ata-Mono
fragte noch
rascher:
„Weißt
du, wo die Harfe
liegt, die ich suche?“
„Natürlich,“
antwortete
ebenso rasch die Frau. „Alle Bäume erzählen es, daß die Harfe im
kleinen,
ewigen Feuerland liegt.“
„Weib,
weißt du den Weg
dorthin?“
„Natürlich.
Ich werde ihn
dir schon zeigen. Wenn du mich zu deiner Frau gemacht hast, werde ich
ihn in
Erfahrung bringen. Alles wird mir gelingen, wenn du mich liebst.“
„Wirst
du mir treu bleiben,
wenn ich dich heirate, und willst du die Unsterblichkeit mit mir
teilen?“
„Treu
bleiben?“ fragte das
Weib und schmollte. „Das ist das Natürlichste von der Welt. Das
verspreche ich
dir gar nicht.
Aber
die Unsterblichkeit
werde ich natürlich mit dir teilen.“ - -
Ata-Mono
betrat die Stadt
nicht. Siebenundneunzig Schritte vor der Stadt, heißt es in den
chinesischen
und japanischen Chroniken, legte er seinen Arm um ein Weib. Aber nicht
um das
Weib, das er ausgefragt hatte, und welches immer so geläufig !
n
a t ü r l i c h geantwortet hatte, sondern um eines, das
daneben gestanden und zu allem gelacht hatte, melodisch und freundlich
wie eine
singende Glocke.
Diese
Frau hatte Ata-Mono
nichts versprochen, und die Länder ehren heute noch ihr Andenken und
ihr
singendes Lachen.
Als
der große chinesische
Weise und Wissende und sein lieblich lachendes Weib nach glücklicher
Ehe
hochbetagt starben, begrub man beide am Meeresstrande unter dem
rätselhaften
Baum, dessen Rinde Ata-Mono niemals entziffert hat. –
Hunderte
Jahre nachher, als
die Chinesen Japan entdeckten und den
harfenförmigen Biwasee, als die große Harfe, im Lande des ewigen Feuers
liegend
fanden, brachte man dorthin ein Reis jenes unerklärlichen Baumes, zu
einer
Zeit, wo die Japaner noch in Blätterkleidern und mit ungekämmten Haaren
das
kleine Feuereiland bewohnten und die Chinesen dort die ersten Apostel
höherer
Bildung und Gesittung wurden.
Und
wieder einige
Jahrhunderte später, als die ersten chinesischen Buddhisten-Mönche die
Religion
des Pflanzen-, des Tierreiches und des Menschenreiches den Japanern
gaben und
sie die Verbrüderung aller Weltallwesen lehrten und Mönche den
Miideratempel
mit seinen Terrassen am Biwasee bauten, da erinnerte man sich wieder
des
rätselhaften Baumes, der nun durch die Jahrhunderte stark und mächtig
geworden
war. Und jeder, der zu dem Baum am Biwasee kam, sprach von Ata-Monos
Geschichte, bis eines Tages ein japanischer Mönch geboren wurde. Dieser
war der
Erste, der die Rinde des alten, rätselhaften Baumes am Biwasee
entziffern
lernte, die bis dahin unleserlich geblieben war. Und er las zu seinem
Erstaunen
von der Baumrinde den Satz:
„O
wisse, Mensch, und höre
mich, der ich alt werde wie die Erdrinde! Mir und allen, welche so alt
werden
auf der Erde, steht die Liebe höher als die Unsterblichkeit.“
Und
diesen Spruch las der
japanische Mönch milliarden- und milliardenmal in die Kronenäste, in
den Stamm
und in die Wurzelringe gegraben; bis zur tiefsten Wurzel drunten in der
Erde
sprach der Baum keinen andern Satz.
Nun
erinnerte man sich
auch, daß Ata-Mono, seitdem er glücklich mit dem lachenden Weibe lebte,
nie
mehr von der Unsterblichkeit gesprochen, daß er sein Weib niemals nach
dem Wege
zur Unsterblichkeit gefragt hatte. Und aus der Vergangenheit stieg das
Lachen
jenes Weibes, wie aus einem Grab, als Mönche eine Glocke gegossen
hatten, die
noch heute abends im Miideratempel geläutet wird, und deren Stimme wie
die
sanftgewordene Stimme von Jahrtausenden klingt, und die den singenden
Ton eines
glücklichen Weibes hat.
Der
alte Baum ist heute nur
noch ein Stummel, von Stelzen und Krücken gestützt. Zu dem Platze, wo
er am See
steht, führt ein hölzernes Tempeltor. Seine Zweige sind mit Tausenden
von
weißen Gebetszetteln behangen. Tausende von Pilgern aus Japan und China
besuchen ihn, den Unsterblichen, der verkündet: „Die Liebe ist größer
als die
Unsterblichkeit“, und nennen ihn „den Glücklichen“, weil er Abend um
Abend die
kostbare Frauenstimme der Abendglocke des Miideratempels belauschen
darf, die
jenem weiblichen Lachen gleicht, bei welchem einst Ata-Mono den Wunsch
nach
Unsterblichkeit vergaß.
weiter
oben
__________________________
Textgrundlage: "Die Abendglocke vom
Miideratempel hören",
aus: Die acht Gesichter am
Biwasee, Japanische Liebesgeschichten,
Max Dauthendey Albert Langen, München
1932, 37. bis 40. Tausend,
Copyright 1911 by Albert Langen, Munich, Printed in
Germany
Digitale
Sammlung der Universität
zu Köln
Logo521:
„Four Sages of Mount Shang vy Kano Tsunenobu, 1704 or later,
Nelson Atkins
Museum of Art, gemeinfrei
Lizenz:
CCo1.0
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