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04.3
Geschichten-
Max Dauthendey
Die acht Gesichter am Biwasee
Den
Nachtregen regnen hören
in Karasaki
Kiri war der einzige Sohn
der „Wolke vor dem Monde“, - so hieß seine Mutter. Sein Vater war Fischer, und
außer einem Kahn und den Fischfanggeräten und einer kleinen struppigen
Strandhütte besaßen Kiris Eltern nichts.
„Doch wir sind reicher,“
sagte Kiri immer, „reicher als die Reisfelderbesitzer in den Bergen am Biwasee,
reicher als die Kaufleute von Ozu. Unser Besitz ist größer als die Hauptstadt
Kioto. Denn uns Fischersleuten gehört der ganze Biwasee und alles was darin
ist; der Biwasee ist unser Königreich.“
In Karasaki verspotteten
die Mädchen den Kiri, der stets den Biwasee als sein Eigentum aufzählte, wenn
man von Geld und Vermögen sprach; und sie nannten ihn den Fischkönig von
Karasaki.
Aber immer am ersten April,
wenn alle Häuser eine Bambusstange auf’s Dach oder vor die Tür stellten und der
Hausvater meterlange Papierfische an der Stangenspitze befestigte, so viel Fische,
wie ihm seine Frau in der Ehe Knaben geboren hatte, dann war immer Kiris
trostlosester Tag gewesen. Auf ihrer Strandhütte zappelte nur ein einziger
Fisch, während drinnen über den Dächern von Karasaki Hunderte von Fischen wie
Fahnen die Luft füllten. Kiri fand sein Vaterhaus dann sehr traurig; und das
Wort Fischkönig, das ihn sonst gar nicht ärgerte, schien am ersten April gar
nicht auf Kiri zu passen. So lange er Knabe war, hatte er sich an diesem Tag
versteckt und sich fern von Kindern gehalten, weil er sich für seinen Vater und
seine Mutter schämte, die ihn als einziges Kind im Hause hatten und am großen
Fischfestage nur einen einzigen Fisch auf der Bambusstange vor der Haustür
wagrecht im Winde flattern ließen.
Kiri war jetzt siebzehn
Jahre und dachte ans Heiraten. Zwei Mädchen kamen für ihn in Betracht: eine
kleine Teehaustänzerin, die nicht mehr jung war, aber etwas Geld beiseite
gelegt hatte, da sie einmal sehr schön gewesen und gewisse Liebesumarmungen
besser verstanden hatte als andere Teehausmädchen. Sie hieß „Perlmutterfüßchen“
und war Kiri besonders von seiner Mutter und von seinem Vater dringend zur Ehe
empfohlen.
Die andere war eine
Traumerscheinung, ein Mädchen, von dem er immer träumte, wenn er den Nachtregen
über Karasaki regnen hörte.
Diese Auserwählte war sein
persönliches Geheimnis. Kein Bewohner von Karasaki hatte sie je gesehen. Keiner
der Menschen, die rings um den Biwasee wohnen, war ihr je begegnet. Nur Kiri
allein wußte, wie sie aussah; aber weder seinem Vater noch seiner Mutter, „der
Wolke vor dem Mond!, erzählte er jemals von diesem Mädchen.
Jetzt im März, im
Vorfrühling, lag Kiri in einer Nacht allein draußen auf dem See, hatte eine
Kienfackel am Kiel des Bootes befestigt, das große Netz ausgeworfen und ruderte
langsam, vom rötlichen Feuerschein umgeben, über das Wasser, das schwarz wie
Nachtluft war, und das ihm vertraut war wie die Diele seiner Elternhütte. In
dieser Nacht rauschte der See nicht, und soviel Kiri auch horchte, kein Fisch
rührte sich und schnellte auf. Es war, als sei der See drunten fischleer wie
der Himmel droben. Trotzdem kein Nebel war, verwunderte sich der junge Fischer
allmählich. daß ihm nicht ein einziges Fischerboot begegnete, und daß auffallenderweise
nicht ein einziges Fackellicht von anderen fischenden Booten in der dunkeln
Runde zu bemerken war. Nur Kiris Kienspan knisterte und paffte. Aber keine
Welle funkelte, und zum ersten Male wurde es Kiri unheimlich auf dem
altbekannten, treuen, guten See. Die Ruder ruderten widerstandslos, als
zerteilten sie gar kein Wasser. Kiri zog zuletzt die Ruder ein und getraute
sich nicht mehr, den See zu berühren. So oft er auch das Fischnetz hob, - es
war leer, und nicht die kleinste Seemuschel und nicht der kleinste Fisch, -
nichts hing in den nassen Maschen.
Wie Kiri noch lag und nach
allen Richtungen horchte, um Geräusche von fernen Ufern aufzufangen, da er
nicht mehr wußte, ob sein Boot auf der Seehöhe oder in Landnähe sei, da tauchte
im roten Schein seiner Kienfackel am Kiel ein ovaler Fleck auf, ähnlich dem
aufgehenden Mond über der Seelinie. Kiri griff erleichtert zu den Rudern und
wollte dem blassen Fleck entgegenfahren. Aber sein Boot schien sich nicht mehr
vom Fleck zu rühren, soviel er auch ruderte.
Nun wußte Kiri, daß eine
der Seeverzauberungen über ihn und sein Boot gekommen war, daß der Seebann, vor
dem sich alle Bewohner von Karasaki fürchten, sein Boot festhielt, und daß das
blasse Licht, das durch den rotbraunen Fackelschein ihm entgegensah, das
Gesicht eines Seedämons war, dem er nicht mehr ausweichen konnte.
Die Kienfackel hörte auf zu
paffen, brannte eine Weile lautlos; dann schrumpfte ihr Licht ein, als wäre die
Fackel ins Wasser gefallen. Und das alte vertraute Boot, in dem Kiri von
Kindheit an geatmet, gearbeitet, gegessen und geschlafen hatte, war schwarz
geworden wie die Nachtluft und wie das Seewasser. Kiri fühlte nicht mehr den
Bootrand. Vielleicht war auch sein Körper jetzt Luft, bezaubert von dem fahlen
Gesicht des Dämons, der nun erscheinen sollte. Kiri erwartete eine Schreckensgestalt,
einen Seedrachen mit zackigen Flügeln, einen Riesen, der den Kopf nicht auf den
Schultern trüge, sondern dem er aus dem Bauch wünchse, dort, wo sonst bei den
Menschen der Nabel ist.
„Guten Abend, Kiri,“sagte
ganz einfach eine Stimme im Dunkel. „Warum hast du kein Licht an deinem Boot?“
sagte die Stimme eines Mädchen. „Kannst du nicht etwas Licht anzünden? Ich habe
meinen Feuerstein ins Wasser fallen lassen und bin auf dein Boot zugerudert,
ehe deine Fackel verlöschte. Kiri schläfst du? Höre doch und mache Licht!“
„Wer bist du?“ getraute
sich Kiri erleichtert zu fragen.
„Mach Licht, dann wirst du
mich sehen. Du kennst mich gut Kiri. Verstell dich nicht und erkenne mich!
Erinnerst du dich nicht mehr,“ sagte die Stimme im Dunkeln, „weißt du nicht
mehr, wo wir uns zum letzten Mal verließen?“
„Nein, ich kenne dich noch
nicht,“ gab Kiri zurück. Und sein Herz suchte in allen seinen Erinnerungen. Und
wie er grübelte, wurde es seltsamerweise Tag, und Kiri sah keinen See, keine
Ufer, - er lag auf der Altane eines Hauses, das er gut kannte, aber in dem er
lange nicht gewesen war; neben ihm auf einem flachen Seidenkissen saß ein
schönes junges Mädchen und sagte: „Samurai, kennst du mich jetzt?“ Und er sah
sie an und grübelte wieder in seinen Erinnerungen und sah über das
Altanengeländer einen Zwerggarten mit kleinen Brücken und kleinen Felsen. Und
unter einer der kleinsten Brücken ging eben das letzte Stückchen Abendsonne unter.
Und Kiri grübelte, und der erste Stern erschien über dem lautlosen Zwerggarten.
Aber der junge Mann erkannte das Mädchen nicht, und er erkannte auch das Haus
noch nicht, trotzdem er wußte, daß es sein Haus war. Doch es lag nicht am See,
und es war kein Fischerhaus. Es war das Haus eines Samurai, eines reichen
Adeligen aus der Kriegerkaste.
Kiri betrachtete seine
rechte Hand und sah, daß sie nicht mehr die grobe Hand eines Fischers war. Und
Kiri grübelte und hörte plötzlich einen Laut, wie wenn aus vielen Tempeln viele
Gongs andröhnten. Er fragte das Mädchen
neben sich auf der Altane:
„ Welches Fest ist heute,
weil alle Tempel rufen?“
„Es ist kein Fest.“ sagte
das Mädchen und war rot und leuchtete wie eine Fackel, trotzdem kein Licht auf
dem Altan brannte.
Und Kiri grübelte wieder.
Aber die Tempelgongs schwiegen nicht, und auch die Erde unter ihm dröhnte wie
ein Tempelgong und schien Kiri zu wecken und zu rufen.
„Es ist kein Fest, es ist
ein Krieg.“ sagte Kiri plötzlich. „Was ist das für ein Krieg um die Tempel und
auf der Erde?“ fragte er von neuem das Mädchen.
Dieses wurde blaß und
leuchtete weiß wie ein Metallspiegel und sagte:“Es ist kein Krieg, Kiri. Kein
Krieg um die Tempel und kein Krieg auf der Erde.“ Dabei bog sie sich über ihn,
legte ihre Wange an Kiris Ohr und ihre Hand auf sein Herz.
Da wurde es still draußen
um die Tempel, und auch die Erde schwieg. Die Sterne über dem Garten
verschwanden, und Kiri hörte, wie ein leiser Regen begann. Es regnete ein
Nachtregen. Und er sah mit offenen Augen, daß das Mädchen neben ihm aufstand,
Diener hereinwinkte, ihn in eine Sänfte legen ließ und sich selbst zu ihm
hinein in die Sänfte kauerte. Und der Regen regnete leise auf das Dach der
Sänfte, wie das Getrippel einer tanzenden Frau. Dann standen die Diener, nach
Stunden, schien es ihm, still. Man hob Kiri aus der Sänfte heraus. Er ließ
alles geschehen und sah nur mit offenen Augen zu, daß man ihn in ein Boot
legte. Es war ein vornehmes, großes Boot, ein Samuraiboot. Ein Goldlackhaus
stand inmitten des Bootes. Eine große rote Laterne brannte am Kiel, und die
Diener legten ihn auf die Diele des Goldlackhauses. Und Kiri hörte wieder den
Regen auf das Dach trippeln, wie die Füße von hundert Tänzerinnen. Neben ihm
saß das junge Mädchen, dessen Arme ließen seinen Nacken nicht los. Nur durch
die offene Tür des Bootshauses sah Kiri an der roten Laterne, die ausgelöscht
wurde und wieder angezündet, daß es Tag und Nacht wurde. Aber wie viele Tage
und Nächte vergingen, das wußte er nicht.
Immer regnete der Regnen,
dieser seltsame Regen, der auch regnete, wenn die Sonne am Tage hereinschien,
und auch nachts, wenn die Sterne an der Tür des Goldlackhauses standen, und der
nur dann aufhörte, wenn das Mädchen neben ihm für einen Augenblick die Wange an
seine Wange legte, die Lippen an seine Lippen und die Zungenspitze an seine
Zungenspitze.
Allmählich aber wurde Kiri den
Regen gewohnt, und eines Tages übte er
keinen Bann mehr auf seine Glieder. Aber er sah an dem erschrockenen Gesicht
des jungen Mädchens: es gefiel ihr nicht, daß er den Regen vergessen, daß er
sich aufrichten und sich umsehen konnte.
Da fragte Kiri sie: „Wo
sind wir?“
„In Japan, Samurai,“ sagte
das Mädchen ausweichend.
Achtmal wurde die Laterne
draußen ausgelöscht und achtmal wieder angezündet, und Kiri hatte wieder zählen
gelernt. Am neunten Tag fragte er abermals das Mädchen:“Wo sind wir in Japan?“
„Auf dem Biwasee, Samurai,“
sagte das Mädchen.
„Sind viele Menschen auf
dem See?“ fragte Kiri.
„Samurai, nur ich und du
und die Ruderer und ein paar Diener deines Hauses.“
„Aber ich höre viele
Menschen auf dem See.“
O Herr, es sind nicht
Menschen, die du hörst. Das sind die vielen Füße des Regens.“
Kiri schwieg noch einmal
eine Nacht lang. Aber als die rote Laterne am Morgen ausgelöscht wurde und der
letzte Stern aus der offenen Tür ging, richtete er sich auf und fragte:“Wo sind
wir auf dem Biwasee?“
„Wir sind auf der Höhe von
Karasaki, Herr.“ antwortete das Mädchen. Aber ihre Stimme war vor Schreck nicht
mehr ihre Stimme, und das Rascheln der Seide ihrer Ärmel war lauter als ihre
Sprache. Kiri mußte noch einmal fragen, um sie zu verstehen, und er richtete sich
auf und befahl mit seinen Augen dem Mädchen, zu bleiben und ihn nicht mehr
anzurühren. Aber er hatte ihr nicht befohlen zu schweigen.
„Bleib doch bei mir,
Samurai,“ sagte sie lauter und flehend. „Sieh, es wird bald wieder Nacht
draußen!“ Und sie hob ihre weißen Händchen aus den Ärmeln und langte nach den
Zipfeln von Kiris Ärmeln und hielt sie mit ihren kleinen Händen fester als ein
Dornbusch.
Da lachte Kiri über die
Kraft der kleinen Finger, blieb aufrecht sitzen und hörte für eine Weile wieder
den Regen.
Das Mädchen schmeichelte
ihm und legte die Wange an seine Wange und sagte:“ Was willst du draußen,
Samurai, wo es immer regnet?“
Und ihre Hände und ihre
Stimme brachten es noch einmal fertig, daß Kiri nicht aufstand und bei dem
Mädchen sitzen blieb und sich schmeicheln ließ und sie liebkoste.
oben
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Textgrundlage: "Den Nachtregen regnen hören in Karasaki",
aus: Die acht Gesichter am
Biwasee, Japanische Liebesgeschichten,
Max Dauthendey Albert Langen, München
1932, 37. bis 40. Tausend,
Copyright 1911 by Albert Langen, Munich, Printed in
Germany
Digitale
Sammlung der Universität
zu Köln
Logo 525: "Namban"
art ("barbarians from the South"):
pannels attributed to Kano Naizen,
1570-1616 (detail),
gemeinfrei
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