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04.3
Geschichten-
Max Dauthendey
Die acht Gesichter am Biwasee
Den
Nachtregen regnen hören
in Karasaki
Seite 2
Aber in derselben Nacht
noch, gegen Mitternacht, als die rote Laterne vom Kiel die Diele des
Goldlackhauses rot beleuchtete, sah Kiri eine zweite Laterne, eine gelbe, neben
dem Kiel aufsteigen, und er erkannte, daß es der gelbe Vollmond war.
»Wie kann es regnen,« sagte
Kiri zu dem Mädchen, »wenn der Vollmond draußen neben der roten Laterne
scheint?«
»Es regnet immer nachts
über Karasaki,« sagte das Mädchen und war zweifach von der Laterne und dem Mond
beschienen.
»Du hast zwei Farben im
Gesicht, als ob du lögest. Ich höre keinen Regen mehr.«
»O, hörst du nicht mehr den
Nachtregen über Karasaki?« sagte das Mädchen, öffnete den großen Fächer und
hielt ihn gegen den Mond und gegen die Laterne, so daß ihr Gesicht dunkel war.
»Ich höre keinen Regen
mehr. Laß uns aufstehen, ich will den See und die Ufer im Vollmond sehen.«
»O, höre doch den Regen!«
fehlte das Mädchen. »Bleib!« Und sie hob wieder ihre kleinen Hände, um ihn zu
halten.
Da befahl Kiri ihr, die
Hände in die Ärmel zu verstecken und sagte: »Schweig!«
Zum erstenmal seit vielen,
vielen Tagen und Nächten stand Kiri auf und fühlte wieder, daß er Füße, Kniee,
Schultern , Ellenbogen und eine atmende Brust hatte. Und aus dem schwülen
Räucherwerk, da in dem Lackhaus brannte, trat er durch die offene Tür hinaus in
das Boot, das sich bei Kiris aufstampfendem Gang tiefer ins Wasser drückte.
»Ich will nach Karasaki fahren!«
rief er den Ruderern zu. Und als er sich gegen das Goldlackhaus umwandte, sah
er oben auf der kleinen Altane des Daches sechs Frauen sitzen. Drei hatten
kleine Holztrommeln, und drei hatten Mandolinen im Arm. Ihre Finger bewegten
sich im Mondschein. Sie schienen zu musizieren. Aber seltsamerweise hörte Kiri
keinen Ton mehr im Ohr, weder von den Trommeln, noch von den Mandolinen.
Kiri beachtete die
Musikantinnen nicht lange, denn das Boot sch0ß jetzt auf Karasaki zu. Und ganz
Karasaki schien ihn zu erwarten.
Auf vielen Masten am Ufer
waren Laternen aufgezogen, und lange Ketten von farbigen Papierlaternen
schillerten in der Luft und glitzerten im Wasser. Je näher sie kamen, desto
festlicher hob sich das erleuchtete Karasaki aus der Nacht.
Kiri staunte eine Weile.
Dann winkte er dem Mädchen, das drinnen noch immer auf der Diele des
Bootshauses hockte und sich nicht rührte.
»Komm und sieh, wie
Karasaki uns empfängt!«
Ganz schwach hörte Kiri des
Mädchens Stimme zurück:
»O, komm wieder herein,
Geliebtester! Komm herein zu mir! Das ist der Nachtregen von Karasaki, der
draußen im Mondschein glänzt. Es sind die Ketten der Regentropfen, die im
Vollmond glitzern. Hörst und siehst du nicht den Nachtregen?«
Da stampfte Kiri
ungeduldig, daß das Boot sich unter seinen Füßen noch tiefer ins Wasser senkte,
und rief:
»Stehe ich nicht auf meinen
zwei Füßen? Sehe ich nicht mit meinen zwei Augen? Fühle ich nicht mit meinen
zwei Händen, daß die Luft trocken ist?«
Da kam das Mädchen aus dem
Boothaus und rief rasch zu den Musikantinnen auf das Dach hinauf:
»Spielt lauter! Bei allen
Göttinnen bitte ich euch: spielt lauter!«
»Spielen die dort oben,
oder spielen sie nicht?« fragte plötzlich Kiri.
»Zwei von ihnen spielten
immer, Herr. Jetzt spielen aber alle sechs. Hörst du nicht, Geliebter? Höre
doch! Komm in das Haus! Du hörst vor dem Ruderrauschen hier draußen nichts.
Komm in das Haus!«
»Nein, ich höre nichts.
Aber welches Lied spielen sie?«
»O Herr, sie spielen das
Regenlied. Verzeiht! Sie spielen das Lied schon seit Wochen, um dich
einzuschläfern, Herr. Ich habe gelogen, Herr.« Das Mädchen warf sich vor Kiri
nieder. »O Geliebter, ich habe dich nicht von mir lassen wollen. Das ganze Land
war voll Krieg. Die Samurais aus dem ganzen Land zogen in den Krieg. Seit Wochen
tobt der Krieg. Als die Tempel den Krieg verkündeten, habe ich dein Schwert
verstecken lassen und habe dich einschläfern lassen mit dem Regenlied und habe
dich im Arm gehalten und habe dich in eine Sänfte bringen lassen. Und die
Musikanten, die das Regenlied spielten, haben dich begleitet bis an den
Biwasee, und ich habe ihnen befohlen, sich auf das Dach zu setzen, und zwei von
ihnen mußten immer spielen, Tag und Nacht. Und ich habe dich nicht von meiner
Seite lassen können Tag und Nacht, vor Furcht, daß dich der Krieg töte, wenn du
ans Land gingest, und vor Furcht, daß der Tod dann mein Geliebter würde.
Jetzt aber sehe ich, daß
Friede am Land ist. Deshalb glänzt Karasaki festlich beleuchtet in der Nacht.
Und ich bin froh, daß Friede wurde, denn dein Ohr wollte nicht mehr auf die
Musik des Regenliedes hören, und ich fühlte seit Tagen, daß ich dich nicht mehr
aufhalten könnte, wenn du die Musik nicht mehr hörtest und an den Regen nicht
mehr glaubtest.
Sieh, Geliebter, jetzt kann
ich dich nicht mehr verlieren. Jetzt können wir in unser Haus zurückkehren. Ich
habe dein und mein Leben gerettet. Denn die Toten können sich nicht küssen, nur
die Lebenden.
Was hast du, Geliebter?
Blendet dich das Mondlicht? O, bei den Göttern, ich hatte doch kein Gift auf
meinen Lippen, als ich dich küßte! Warum wirfst du dich auf deine Kniee? Warum
schüttelst du die Fäuste in die Luft? Warum wird dein Haar lebendig und sträubt
sich wie bei einer Katze?
O Götter! Deine Augen
quellen dir aus dem Kopf! Samurai, bist du vergiftet? Suchen deine Hände dein
Schwert an den Hüften? Ich will dir’s bringen. Verzeih, wenn ich dein Eigentum
versteckte. Dein Schwert ist hier im Lackhaus, im Wandschrank«
Während das junge Mädchen
noch flehte, hatte sich der Mond bedeckt. Aber Kiris Gesicht leuchtete, als
wäre es aus Phosphor. Seine Armmuskeln wölbten sich, seine Fäuste schlugen in
die Luft, seine Brust keuchte:
»Mein Schwert!«
Dann stürzte er an dem
Mädchen vorüber in das Lackhaus und zerbrach die Wandschranktür, die sich nicht
sofort öffnete. Aber kaum berührten seine Finger das Schwert, das dort in
seidenem Futteral lag, da fiel der Mann weich wie Schaum zusammen und warf sich
schluchzend und weinend auf die Diele und preßte sein Schwert an seine Brust,
als wäre es seine wiedergefundene Geliebte.
Eine Weile noch tobte sein
Stöhnen, sein Schluchzen. Dann hob er sein tränenüberströmtes Gesicht, setzte
sich mit gekreuzten Beinen ruhig auf den Boden, löste das kurze Schwert aus der
dicken geschnitzten Elfenbeinscheide, strich mit der äußerst feinen Schneide
des Schwertes über den Haarbüschel an seiner nackten Brust, schnitt ihn glatt
ab und lächelte eine Sekunde zufrieden über die gute, treue Schärfe des Stahls.
Dann sagte er ruhig, beherrscht zu dem Mädchen, mit einem Tonfall und einer
Stimme, als wäre nichts geschehen:
»Mach dich bereit! Wir
müssen jetzt sterben!«
Das Mädchen, das ihm in das
Haus gefolgt war, kauerte neben ihm, willenlos und bleich wie eine hingewehte
weiße Feder. Sie antwortete ihm nur mit dem einen Wort:
»Geliebter!«
Aber diese Antwort brachte
wieder den alten Sturm in Kiri herauf. Alle Muskeln an seinem Leibe zuckten,
als würden sie von Zangen zerrissen. Darf je ein Samurai sein Schwert
verlassen? Hatten nicht die Gongs der Tempel und selbst der große Kriegsgong,
der tief in der Erde begraben ist, Kiri und sein Schwert vor Wochen gerufen?
Die Erde hätte ihn mit ihrem Feuer verschlungen, wenn er nicht in den Krieg
gegangen wäre; denn jeder Samurai ist der Sohn der Erde und der Sohn des
Feuers. Beide Gewalten haben ihn geboren. Nur das Wasser hat nichts mit seiner
Geburt zu schaffen. Dem Wasser ist er fremd, und es erkennt den Samurai nicht
an, nicht den Krieger, denn das Wasser ist der Tod des kriegerischen Feuers.
Nur auf dem Wasser konnte
ein japanischer Samurai einen Krieg versäumen. Nur eingelullt vom Regen und
fern von allen Ufern, konnten die Ohren eines Samurais den Kriegsgesang der
japanischen Erde nicht mehr hören.
Aber hat ein Krieger einen
Kampf ausweichend versäumt, so ist seine adlige Seele erniedrigt, seine Unsterblichkeit,
die ihm als Held angeboren ist, wird ihm dann für immer genommen, und sein
nächstes Leben ist das eines gemeinen Mannes aus dem Volke.
Doch das Schicksal gewährt
dem Entehrten noch eine Gunst, wenn es der Zufall geben will und sein Mut, daß
er im nächsten Leben als gemeiner Mann einen Heldentod stirbt – dann erlangt
seine Seele wieder die alte Unsterblichkeit und den alten Adel seiner
Vergangenheit zurück. Bis dahin aber muß er niedrig denken, niedrig handeln und
ist nicht zu unterscheiden von den Niedersten des Volkes.
Kiri sprach: »Weib, deine
Liebe zu mir wurde der Tod meines Adels und aller meiner vergangenen adligen
Leben. Aber du hast aus Liebe gehandelt, und Liebe ist vor den Göttern
unstrafbar. Darum hoffe ich, daß mich die Götter begünstigen und dich und mich
im nächsten Leben aus der Erniedrigung wieder zum alten Adel erheben.
Ich hasse dich nicht. Ich
muß dich lieben trotz des Todes, den du uns antust.
Ich will zwei Fragen an das
Schicksal stellen, ehe wir beide sterben:
›Ihr Götter, könnt ihr
durch einen Zufall drüben in Karasaki alle Lampen des Friedensfestes
auslöschen, dann will ich euch glauben, daß ihr mir im nächsten Leben eine
Gelegenheit gebt, durch Krieg ein Held zu werden. Trotzdem ich heute noch nicht
verstehen kann, wie ihr dazu helfen wollt, da ich als niedriger Mann wieder geboren
werde und dann nicht zum Kriegerstand gehöre und kein Schwert besitzen darf.
Aber ihr Götter, euch ist nichts unmöglich. Gebt mir das Zeichen!‹«
Die rote Laterne draußen am
Kiel hob und senkte sich jetzt auf den Strandwellen von Karasaki. Bei jeder
Senkung tauchten die Lichterketten des festlichen Ufers wie feurige Girlanden
über die rote Laterne des Kiels und senkten sich wieder und verschwanden hinter
dem Bootsrand.
Nach einer Welle tauchten die
Lichter von Karasaki plötzlich nicht mehr auf.
Kiri wartete und wartete
und sagte mit gedämpfter und bewundernder Stimme zu dem Mädchen:
»Geh und frage die
Bootsleute, warum sie die Richtung geändert haben und nicht mehr auf Karasaki
zufahren, wie ich befohlen habe. Denn du siehst: Die hellen Ufer sind
verschwunden, und der Kiel fährt in die Dunkelheit.«
Das Mädchen wollte
gehorchen und zu den Bootsleuten gehen und fragen. Aber sie blieb unter der Tür
stehen und sagte:
»Herr, ich sehe: es regnet.
Der Regen hat die Festlichter von Karasaki ausgelöscht.«
Da fragte Kiri lachend:
»Ist es ein lauter Regen?«
Das Mädchen beteuerte:
»O, Samurai, es regnet
wirklich dieses Mal. Es regnet laut.«
»Das ist der Regen der
Götter. Aber ich höre ihn nicht«, sagte Kiri feierlich und hielt den Atem an.
Das Mädchen setzte sich
wieder zu Kiri, und beide lauschten. Von Zeit zu Zeit fragte der Mann das
Mädchen:
»Wird der Regen lauter? Ich
höre ihn nicht.«
Dann hüllte das Weib sein
Gesicht in die seidenen Ärmel und schluchzte.
Kiri fragte:
»Fürchtest du dich vor dem
Tod?«
»O Herr, mit dir zu sterben
ist kein Tod. Aber ich fürchte mich vor der Ungewißheit, ob die Götter mich im
nächsten Leben mit dir leben lassen. Wenn du wenigstens den Nachtregen über
Karasaki wieder hören würdest, dann würde ich das als Zeichen nehmen, daß die
Götter mir verzeihen und mich im nächsten Leben wieder mit dir leben lassen.«
Und das Mädchen legte seine
Wange an Kiris Wange. Da war es dem Samurai, als ob ihm die Ohren auftauten,
und er sagte:
»Ich höre den Nachtregen
über Karasaki. Und ich höre, daß wir uns wieder sehen und wieder lieben
werden.«
»Oh, Dank allen Göttern,
und Dank auch dir, daß du mir verziehen hast, Samurai. Oh, könnte ich dir im
nächsten Leben den Weg zum Krieg zeigen und dir dein Schwert wieder schenken.«
»Auch dieses werden die
Götter erfüllen«, antwortete Kiri, »denn wenn sie zwei Lebenden zwei Wünsche
erfüllt haben, so legen sie die Erfüllung des dritten Wunsches als Göttergabe
dazu.« -
Die beiden umarmten sich
nicht mehr. Und der Samurai nahm sein Schwert, stellte es senkrecht gegen
seinen eigenen Leib, drückte es an seine Eingeweide und zog den Harakirischnitt
waagerecht durch seine Gedärme. . .
Das Mädchen war leise
aufgestanden und hatte sich hinter den Mann gestellt; als er umsank, fiel sein
Kopf an ihre Kniee und glitt sanft auf den Boden. Sie nahm das vom Blut
verdunkelte Schwert dem Toten aus der Hand, stemmte es an ihr Herz und stürzte
sich in die Schwertspitze.
Draußen tönte der Nachtregen
auf das Dach des Bootgemaches, und der Kahn fuhr schurrend auf den Kiesstrand
von Karasaki. Und die rote Kiellaterne stand still, wie angemauert, im Regen.
oben
__________________________
Textgrundlage: "Den Nachtregen regnen hören in Karasaki",
aus: Die acht Gesichter am
Biwasee, Japanische Liebesgeschichten,
Max Dauthendey Albert Langen, München
1932, 37. bis 40. Tausend,
Copyright 1911 by Albert Langen, Munich, Printed in
Germany
Digitale
Sammlung der Universität
zu Köln
Logo 525: "Namban"
art ("barbarians from the South"):
pannels attributed to Kano Naizen,
1570-1616 (detail),
gemeinfrei
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