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Literatur


04.3


Geschichten- Max Dauthendey

Die acht Gesichter am Biwasee


Den Nachtregen regnen hören in Karasaki
Seite 3


Dieses alles erlebte Kiri, der junge Fischer, jetzt, als er das Mädchen, das ihn auf dem See anredete, gefragt hatte: »Wer bist du?«
 
»Kennst du mich nun?« fragte die Stimme wieder aus dem Dunkel.
»Ich kenne dich wieder. Aber zeige dich nicht. Gib mir mein Schwert! Gib mir den Krieg! Ich bin ein armer Fischer jetzt.«
 
»Wirf dein Netz aus!« sagte des Mädchens Stimme.
 
»Es sind keine Fische heute nacht im See, und ich will nicht länger ein Fischer sein, seit ich weiß, daß ich einst ein Samurai war.«
 
»Wirf dein Netz aus!« sagte die Stimme wieder.
 
»Ich kann im Dunkeln nichts sehen«, sagte der junge Fischer, »und ich habe keinen Feuerstein da, meine Fackel anzuzünden. Wie soll ich im Dunkeln wissen, wohin ich mein Netz werfe!«
 
»Wirf dein Netz aus und vertraue mir!« sagte noch einmal die Stimme.
 
Unwillig griff der junge Bursche nach dem Netz. Aber er warf es nicht mit gewohntem Griff über den Bootsrand, sondern er schleuderte es in die Luft und sagte zu dem Netz:
 
»Geh zu den Göttern! Ich will kein Fischer mehr sein, seit ich weiß, daß ich ein Samurai war.«
 
Plötzlich begannen alle Netzmaschen wie ein Sternschnuppenfall in der Luft zu leuchten. Das fortgeschleuderte Netz wurde zu vielen elektrischen Blitzen und fiel wie ein blaues Maschengewebe aus elektrischem Feuer in den See.
 
»Gut, du bist ein gutes Netz und hast gehorcht«, sagte Kiri stolz in die Luft. »Du hast Feuer gefangen, so wie ich Feuer gefangen habe, seit ich weiß, wer ich bin.«
 
»Greife ins Wasser und ziehe dein Netz wieder über den Bootsrand! Dann will ich dir zeigen, was deine Arbeit sein wird, Samurai.«
 
Kiri griff aufs Geratewohl ins Wasser und zog einen blauglühenden Strick aus der Tiefe. Aber er fühlte, daß er keine Kraft besaß, den Strick nur um das kleinste höher zu ziehen. Es war, als lägen steinerne Berge in seinem Netz: der Strick rückte nicht von der Stelle.
 
»Deine Kraft wird über dich kommen zu deiner Stunde«, sagte das Mädchen.
 
Aber Kiri war unwillig und schüttelte den Strick, verzweifelt über seine Ohnmacht.
 
»Binde den Strick am Bug des Schiffes fest und nimm deine Ruder und rudere!« befahl ihm die Stimme, und der junge Fischer tat so.
 
Und wie er ruderte, schien es ihm, als würde der See in der Tiefe hell.
 
»Sieh jetzt um, über deine Schulter in dein Netz; und alles, was darin ist, wird deine Samuraiarbeit sein.«
 
Kiri sah hinter sich den ganzen weiten See von den Maschen eines riesigen feurigen Netzes leuchten. Drinnen in dem Netz lagen die zerstückelten Leichen von abendländischen Offizieren, Arme, Beine, Köpfe, Kanonenrohre, Bajonette; blutig, zerschossen, zerfetzt und zertrümmert. Es war, als schleife das feurige Netz den ganzen See wie ein zuckendes Schlachtfeld hinter sich her.
 
Es schauderte Kiri. Entsetzt ließ er die Ruder ins Wasser fallen. Das niedrige Gemüt des Fischersohnes überwältigte ihn. Er griff nach einem Fischbottich, der auf dem Grunde des Bootes stand, und stülpte ihn über seinen Kopf, um nichts mehr zu sehen. Er klapperte mit den Zähnen, daß der Bottich dröhnte, und getraute sich mit seinem Kopf nicht mehr aus seinem Versteck heraus. Er wollte nichts mehr sehen, nichts mehr hören, bis ein paar Fäuste von außen an den Bottich trommelten und ihn die Stimme seines Vaters anrief:
 
»Kiri, bei allen Göttern, was treibst du, Junge? Wo hast du dein Netz gelassen? Wo sind deine Ruder?«
 
Kiri zog vorsichtig seinen Kopf aus dem Versteck. Er sah im Morgendampf den Vater im Strohmantel vor sich in einem anderen Boot, und viele Boote waren um ihn versammelt. Aber keiner der andern Fischer lachte ihn aus. Es schien, als hätten sie alle dasselbe erlebt, denn alle waren bleich, und alle waren ernst. Alle Boote drängten nach den Ufern; Boote, die sonst wochenlang draußen zu liegen pflegten, alle kamen in Scharen herbeigeströmt, und die Frauen der Fischer trippelten am Ufer, jede mit einem Kind auf dem Rücken bepackt und jede umgeben von einem Kinderkreis. Aber der Uferlinie entlang standen im Morgennebel die rauchenden Scheiterhaufen von großen Signalfeuern, die man angezündet hatte, um die Fischer von draußen ans Land zu rufen.
 
Und nun sah Kiri, wenn der Morgenwind die Rauchwolken zur Seite rückte, Gruppen von kleinen japanischen Offizieren und Soldaten in europäischen Uniformen.
 
Bajonette blitzten im Morgennebel, und hie und da leuchteten rot und golden im Morgengrauen die Borten und Uniformaufschläge an den Soldaten.
 
»Kiri, du mußt in den Krieg«, sagte der Vater. »Heute hat Japan den Krieg mit Rußland angefangen, drüben über dem Chinesischen Meer in der Mandschurei.«
 
»Ich bin kein Samurai! Ich will nicht in den Krieg«, sagte Kiri. »Ich habe schreckliche Träume heute nacht gehabt. Ich habe Netz und Ruder dabei verloren. Ich will nicht in den Krieg und auch noch den Kopf verlieren.«
 
»Du wirst nicht gefragt, ob du willst. Du mußt in den Krieg! Heutzutage sind alle Männer, die einen rechten Arm und einen linken Arm, ein rechtes Bein und ein linkes gesundes Bein am gesunden Leib haben, Samurai. Du bist glücklicher als ich, mein Sohn. Zu meiner Zeit war das nicht so, und wir armen Fischer bekamen kein Schwert vom Kaiser von Japan zugeschickt. Drüben am Ufer stehen die Soldaten, die dir vom Kaiser einen neuen Anzug und kaiserliche Waffen bringen. Geh in den Krieg, mein Sohn! Dort bekommst du auch das Brot des Kaisers zu essen. Das ist ein Brot, das jeden Japaner mutig und unsterblich macht.«
 
Aber jetzt kam Kiris Mutter an das landende Boot gelaufen. Sie schüttelte ihre Hände in die Luft und wehrte Kiri, er solle nicht landen, und rief:
 
»Kiri, flieh, fliehe! Die Soldaten wollen dich uns holen! Schwimm in den See hinaus! Der Biwasee wird dich verstecken! Eine alte Frau hat mir prophezeit, daß du unsterblich bist vom Tage an, wo du den See betrittst, aber daß du sterben wirst, wenn ein Krieg ausbricht und du ans Land kommst.«
 
»Mach deinen Sohn nicht feig, ›Wolke vor dem Mond‹«, sagte der Vater zu Kiris Mutter. Und er zog sein eigenes Boot mit beiden Händen ans Land, erwartend, daß sein Sohn ihm folgen würde.
 
Aber Kiri, bleich und grau vor kleinlicher Furcht, schlotterte vor Angst und Kälte in seiner dünnen blauen Leinwandjacke. Er tat, als wollte er aussteigen, aber als sein Vater fortsah, griff er nach den Rudern in dem Boote seines Vaters, stemmte ein Ruder auf den Kies und stieß sein Boot zwischen den andern Booten durch in den See hinaus und rief seinem Vater zu:
 
»Ich will mein Netz noch suchen, das draußen bei meinen Rudern schwimmt.«
 
In allen Kähnen, wo man die Unterhaltung des Alten mit dem Jungen gehört hatte, lachten die ernstesten Leute hell auf über Kiris feigen Rückzug.
 
»Er tritt den Krebsgang an«, lachten einige Fischerburschen, die am Ufer standen und Uniformen anprobierten.
 
»Er wird wiederkommen«, sagte der Vater dumpf.
 
»Er ist unser einziges Kind. Er braucht nicht in den Krieg«, jammerte die Mutter. »Wir sind keine Samurais, die sich für andere töten lassen. Wir sind arme Fischersleute. Er soll nur sein Netz holen! Kiri soll nur draußen auf dem See bleiben, bis die Soldaten fortgezogen sind. Der See kann ihn ernähren.«
 
Kiri kam nicht am Abend und nicht am nächsten Tag und auch in den nächsten Wochen nicht mehr nach Hause.
 
Nach Monaten fanden Leute aus Karasaki Kiris Boot im Uferschilf versteckt, und man sagte, er müsse wahrscheinlich im Schilf verborgen von Krebsen, Wildenteneiern und Fischen leben.
 
Aber als es dann Winter wurde, der See zufror, das Schilf abgemäht war und die weiße Schneekruste an allen Ufern lag, und Kiri kam immer noch nicht zu seinen Eltern heim, meinten einige, Kiri müsse ertrunken sein. Doch sein Vater behauptete unerschütterlich:
 
»Kiri ist in den Krieg gezogen.«
 
Nur die Mutter wünschte, daß er noch auf dem See sei, wenn auch das Wasser zugefroren war. Denn draußen auf dem See war Kiri unsterblich, wenn er auch nichts aß, nichts trank. Er konnte nicht erfrieren, er konnte auf der Eisfläche irgendwo liegen und schlafen, und im Frühling, wenn der Krieg aus war, konnte er heimschwimmen. Alles dieses konnte möglich sein, dachte die alte Frau, da die Prophezeiung Kiri für unsterblich erklärt hatte, solange er auf dem See bleiben würde.
 
Aber der Frühling kam, und der Krieg dauerte, und Port Arthur hatte sich noch nicht ergeben. Und das Schilf wuchs, und der See rauschte. Zwar waren alle Männer im Krieg und keine Fischerboote auf dem Wasser. Aber so lange Kiri nicht vom See heimkehrte, war er für seine Mutter unsterblich.
 
Endlich war der Krieg zu Ende. Viele Fischer kehrten heim. Fast zwei Jahre dauerte der Heimzug, bis die letzten angekommen waren. Dann baute man in den kleinsten Dörfern aus Kieferzweigen Triumphbogen.
 
»Es sind noch ein paar Regimenter in der Mandschurei«, sagte Kiris Vater zu den Fischern; »Kiri kann noch immer heimkehren.«
 
Aber die Leute verlachten den Alten wegen seines feigen Sohnes. Und auch die Mutter sah nicht mehr auf den See hinaus, weil der Sohn nicht heimkehrte und sie nicht mehr an seine Unsterblichkeit glaubte.
 
Eines Tages hat sie ihren Zweifel laut ausgesprochen und zu ihrem Manne gesagt: »Unser Sohn ist tot. Ich will heute nacht eine kleine Kerze zu seinem Gedächtnis vor dem Gott des Biwasees in einer Zimmerecke anzünden.«
 
»Tu das!« sagte der Vater. »Ich will vor dem bronzenen Kriegsgott in Karasaki eine Räucherstange für die Nacht anzünden lassen. Die Götter werden uns vielleicht antworten und uns sagen, ob unser Sohn im Himmel bei den Helden oder im See bei den Krebsen ist.«
 
Die beiden Alten taten, was sie sich vorgenommen hatten. Und der Vater kniete in dieser Nacht, das Gesicht auf der Erde, vor der bronzenen Statue des Kriegsgottes von Karasaki. Die Mutter kniete zu Haus in der Zimmerecke vor dem vergoldeten Gotte des Biwasees.
 
Als es Mitternacht war, begann ein feiner Regen über Karasaki zu fallen. Der Vater im Tempel konnte nicht beten. Er mußte immer dem Regen zuhören, der auf die Ziegelhäuser der Tempeldächer pochte. Der Mutter zu Haus ging es ebenso. Sie lauschte dem Regen, der auf die Altanen draußen fiel und an die ölgetränkten Papierscheiben trommelte. Und sie mußte bei dem unruhigen Regen die Schritte von zwei Fremden überhört haben, denn ein vornehm gekleideter Samurai in schwarzer Zeremonientracht, eine vornehm gekleidete schwarze Samuraifrau in Schleppgewändern, die schoben gegen Mitternacht die Türen zum Gemach der Alten auf und fragten sie, ob sie sich einen Augenblick bei ihr ausruhen dürften. Sie seien auf dem Weg nach Tokio, wo übermorgen das große Siegesfest sei, mit dem der Kaiser und die Minister das Gedächtnis der großen Helden von Port Arthur feiern würden.
 
»Mutter, laßt Euch im Beten nicht stören«, sagte der junge Samurai. »Wir sitzen nur einen Augenblick hier hinter Eurem Rücken und horchen auf den Nachtregen von Karasaki.»



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Textgrundlage: "Den Nachtregen regnen hören in Karasaki",
aus: Die acht Gesichter am Biwasee, Japanische Liebesgeschichten,
Max Dauthendey Albert Langen, München 1932, 37. bis 40. Tausend,
Copyright 1911 by Albert Langen, Munich, Printed in Germany

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