Geschichten-
Max Dauthendey
Die acht Gesichter am Biwasee
Den
Nachtregen regnen hören
in Karasaki
Seite 4
Es regnete. Und Gebet und
Regen schläferten die alte Frau ein. Ihr Mann, der morgens vom Tempel heimkam,
weckte sie, und sie hatte den Samuraibesuch ganz vergessen. Das Zimmer war
längst leer, und die beiden Nachtwanderer waren verschwunden.
»Liebe ›Wolke vor dem
Mond,« sagte der alte Fischer, »Zieh deine besten Kleider an! Nimm die
Wandersandalen vom Nagel! Wir müssen eine Reise machen. Der Kriegsgott hat es
mir heute nacht befohlen.«
»Wie kann ich auf meine
alten Tage noch reisen?« sagte die Frau. »Wenn ich wüßte, wo mein Sohn wäre,
ja, dann würde ich hinreisen.«
»Unser Sohn ist in Tokio«,
sagte der Alte. »Als ich heute nacht im Tempel betete, kamen zwei Fremde herein
und knieten an meiner Seite nieder. Es waren ein junger Samurai und seine Frau.
Da konnte ich nicht mehr beten und ging auf die überdachte Tempelaltane und
horchte auf den Nachtregen, der über Karasaki fiel. Und, denke dir, wie ich
dort sitze, kommt derselbe Samurai, den ich eben noch drinnen neben mir knien
sah, heraus. Aber er war nicht mehr im schwarzen Zeremonienkleid. Er hatte
Panzer, Schwert, Speer und Helm des Kriegsgottes auf, und er deutete mit dem
Speer nach der Sternenrichtung von Tokio, und er sagte:
‚Vater, du suchst deinen
Sohn! Du wirst ihn in Tokio wiederfinden!‘
Für einen Augenblick war es
mir, als wäre es Kiri selbst, der in der altmodischen Rüstung vor mir stand. Wie
ich aber genau hinsehen wollte, war nichts als die Nachtluft um mich; und der
große Hanfstrick, der über dem Tempeltor hängt und die Geister vertreibt,
schaukelte im Windzug, indessen alle Tempeldächer im Regen wie Trommeln
redeten.«
»Hier bei mir war auch ein
Samurai mit seiner Frau«, sagte die ‚Wolke vor dem Mond‘. »Ich habe ihn aber
nicht als meinen Sohn erkannt. Er redete fremd und feierlich und vornehm, wie
ich Kiri nie sonst reden hörte. Er blieb nicht lange hier mit seiner Frau. Er
wollte nur etwas am Wege ausruhen und dem Nachtregen von Karasaki lauschen.
Wahrscheinlich hatte er seine Tragsessel und die Träger vorausgeschickt, der
Samurai. Denn ich hörte keinen Laut ums Haus, da sie kamen, und nicht, da sie
gingen.
Aber wenn du sagst, daß
dein Samurai im Tempel aussah wie unser Sohn, dann erinnere ich mich, daß auch
mein Samurai hier Ähnlichkeit mit Kiri hatte. Aber wie hätte ich ihn erkennen
können! Dieses Samuraigesicht war sehr zerschlagen von Kriegswunden, und die
Narben entstellten die Gesichtszüge. Und die Narben waren so dicht über seinen
Händen und über seinem Gesicht wie die Maschen in einem Fischernetz. Da war
kaum ein fingerbreites Stückchen Fleisch an seinem Gesicht, das nicht durch
eine Narbe zertrennt gewesen wäre. Ich habe meinen Sohn nicht erkannt.«
»Du hast deinen Sohn niemals
erkannt, ‚Wolke vor dem Mond‘, aber du wirst ihn in Tokio gleich erkennen«,
sagte der alte Fischer.
Am nächsten Morgen reisten
die beiden Alten nach Tokio. Erst mußten sie wandern, und dann konnten sie die
Eisenbahn nach Tokio benützen. Sie kamen am Morgen dort an und nahmen sich
nicht die Zeit, in ein Gasthaus zu gehen.
Die Stadt war überfüllt von
Japanern aus allen Landesteilen. Aber als die beiden Leute vor den
Menschenmassen in den Straßen standen, wurde ihnen sehr bang, und sie fragten
sich im Herzen: Wie sollen wir Kiri hier finden? Eher findet man ein verloren gegangenes
Ruder auf dem großen Biwasee als einen verloren gegangenen Menschen in dieser
großen Stadt.
Wie sie noch beratschlagten,
kam ein Rikschawagen auf sie zugefahren, und drinnen saß einer der
angesehensten Männer aus Karasaki. Er war so hoch an Rang, daß er die armen
Fischerleute auf den Straßen von Karasaki niemals angeredet hatte. Aber jetzt
hielt er seine Rikscha an, winkte zehn Rikschas, welche ihm folgten und in
welchen dem Range nach lauter angesehene Männer von Karasaki saßen, Männer, die
im Krieg gewesen waren, und Familienoberhäupter, die im Krieg Söhne verloren
hatten.
»O Herr«, sagte der hohe
Beamte und verbeugte sich aufs tiefste vor dem alten Fischer, »welch ein Glück,
daß ihr schon hier seid! Haben euch die Kuriere des Kaisers geholt? Habt ihr
die Telegramme erhalten, die man heute nacht aus Tokio an euch schickte? Habt
ihr den Sonderzug erhalten, mit dem man euch heute hierher holen wollte?«
Und alle anderen Männer aus
den zehn Rikschas standen mit tief gebeugten Rücken vor dem alten Fischerpaar
und getrauten sich nicht mehr, sich aufzurichten, als verbeugten sie sich vor
dem Kaiser selbst.
Und nun schienen die
Menschen auf den Straßen von Tokio und die Gesichter auf den Straßen keinen
Rücken und keine Rückseite mehr zu haben. Nur Wangen und Augen und Augen und
Wangen strahlten den beiden Fischersleuten entgegen, ihnen, die die Eltern des
großen Helden Kiri waren, von dem man sagte, daß er vor dem Tor von Port Arthur
eines dreihunderttausendfachen Todes gestorben sei. Dreihunderttausendmal hatte
er sich in den Kriegsjahren dem Tod ausgesetzt. Immer dort, wo die Gefechte am
schlimmsten waren, sah man ihn auftauchen. Einmal schleppte er Arme voll
Dynamit vor das eiserne Tor eines Forts. Um den japanischen Truppen den Eingang
in das Fort zu verschaffen, lief er seinem Regiment voraus und warf am Eisentor
das Dynamit sich selbst vor die Füße und stampfte darauf, so daß das massive
Tor sich wie der Deckel einer Sardinenbüchse auftat; aber Kiri blieb mitten in
der Dynamitexplosion unversehrt wie ein Ei auf Stroh.
In den Wolfsgräben, auf
deren Grund die Russen Bajonette senkrecht eingerammt hatten, warf Kiri sich
hunderte Male steif wie ein Balken quer über die Bajonette und ließ seine
Kameraden über seinen Rücken laufen. Und er blieb steif gestreckt, und sein
Leib widerstand den Spitzen der Bajonette, so hart machte der Mut seinen
Körper, so hart, daß die Bajonette nicht einmal seine Augäpfel zerschnitten
hatten, bis der letzte seines Regiments über ihn weggeschritten war. Dann stand
er heil und unversehrt auf.
Zum letzten Male, als man
von Kiri hörte, verdingte er sich verkleidet als russischer Lotse, gelangte an
das russische Admiralsschiff und führte es in einem Morgennebel vor die Kanonen
der im Nebel verborgenen japanischen Flotte. Mit diesem Schiff war Kiri
untergegangen, und niemand hatte ihn seitdem wiedergesehen.
Waffen, die er getragen,
Uniformstücke, die seine Kameraden von ihm aufgehoben hatten, alles lag jetzt
auf dem Ehrenplatz im Kriegsmuseum, dicht neben dem eroberten zerschossenen
Feldbett des russischen Generals Kuropatkin.
Nun hatte es sich von Mund
zu Mund auf den Straßen von Tokio weitergesprochen, daß die Eltern des großen
Kriegshelden Kiri, die Mutter, die ihn im Schoß getragen, der Vater, der ihn
gezeugt hatte, auf das Paradefeld kämen. Dort stand ein mächtiger stacheliger
Triumphbogen, aufgebaut aus erbeuteten russischen Bajonetten. Weit über das
morgensonnige Feld blendeten die langen Reihen von erbeuteten russischen
Kanonen, aufgestapelten Stahlgranaten und eroberten Torpedogeschossen. Und über
der Holzhalle des Kriegsmuseums wimmelte ein Wald von erbeuteten Fahnen, die
den Himmel bunt belebten, ähnlich den bunten Scharen von Papierfischen, die am
ersten April über den Dächern flattern.
Der älteste der angesehenen
Männer aus Karasaki sagte: »Alle diese Fahnen hat euer Kiri erbeutet! Für jede
seiner Heldentaten hängt eine Fahne dort über dem Dach des Kriegsmuseums, in
dem euer Sohn jetzt als ewiger Name wohnt, angebetet vom japanischen Volk wie
ein Kriegsgott.« -
Geehrt von Kaiser und Reich,
kehrten die Fischersleute nach den Friedensfeierlichkeiten wieder heim nach
Karasaki. Und als man ihnen in der Stadt Karasaki eine neue Hütte bauen wollte
und dem Vater einen neuen Kahn geben wollte, sträubten sich die beiden Alten
und sagten: »Das Holz des Kahnes und die Bambuswände der Hütte und die
Papierscheiben, die mit uns alt und grau geworden sind, und die mit Kiri so oft
den Nachtregen fallen hörten. – alle diese Dinge sind wohltönend geworden vom
Alter und den Erinnerungen und wohltönend von dem Nachtregen, der melodisch auf
sie gefallen ist; wir leben im Alten wohler als im Neuen, wir alten Leute.«
Den Regen von Karasaki
hören bedeutet am Biwasee heute noch, daß dich dann nie ein Mißlaut beirren
wird; denn Kiris Heldenseele lauscht mit dir, und dieser Nachtregen singt von
Liebe und Unsterblichkeit.
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Textgrundlage: "Den Nachtregen regnen hören in Karasaki",
aus: Die acht Gesichter am
Biwasee, Japanische Liebesgeschichten,
Max Dauthendey Albert Langen, München
1932, 37. bis 40. Tausend,
Copyright 1911 by Albert Langen, Munich, Printed in
Germany
Digitale
Sammlung der Universität
zu Köln
Logo 525: "Namban"
art ("barbarians from the South"):
pannels attributed to Kano Naizen,
1570-1616 (detail),
gemeinfrei
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