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04.3
Geschichten-
Max Dauthendey
Die acht Gesichter am Biwasee
Sonniger Himmel und Brise von Awazu
Im brütenden Hochsommer ist der Biwasee wie eine gute,
erquickende, milchreiche Amme, die Tausende von Japanern an ihrer Brust
einwiegt.
Die leichten Buchten des ovalen Sees und seine
geschwungene Harfenlinie sind von farbig gekleideten Menschenkindern umvölkert,
gleichwie von roten, grünen, blauen und weißen Käfern. Gruppen von Badenden
spielen im Schilf, unschuldig nackt wie Neugeborene. Die Stimme der Wellen, die
sonst Tag und Nacht raschelt, und die zischelnden Schilfstimmen sind alle
überstimmt von dem Gekicher und Gerufe der Menschen in Ruderbooten und
Segelbooten und von spielenden Menschengruppen am Kiesstrand. Bis in den Abend
schallen die Rufe, und bis in den Mondschein der Sommernächte antworten sich
die Menschenstimmen über dem Wasser, – Mädchen-,Frauen-, Männer- und
Kinderstimmen. Die große Harfe des Biwasees hat unter dem sonnigen Himmel ihre
Wasserstimme eingetauscht gegen die Skala der Menschenstimme.
Nur am schläfrigen Hochsommermittag, wenn das
Seewasser faltenlos mit dem sonnigen Himmel eins geworden ist und kaum noch
eine dünne Haarlinie die Seehöhe von der Himmelshöhe trennt, dann ist da eine
Sekunde, die jedem ewig im Gedächtnis bleibt, der einmal den Seesommer am
Uferrand dort eingeatmet hat, – eine Sekunde, die in die Einheit des
sonnenglatten Sees eine Teilung bringt, als ob in einem lautlosen Zimmer, in
dem zwei Glückliche umarmt Gesicht an Gesicht liegen, ein einziger Glückseufzer
die Stille unterbräche und an ein fernes und künftiges glückliches Leben sich
anschlösse. Das ist die Brise von Awazu, die wie ein großer Glückseufzer über
den Hochmittagsee durch die Sommerstille kommt.
Die Brise von Awazu bringt eine Seespiegelung mit
sich. Aus rosigen und bläulichen Perlmutterfarben steigt eine
Gespensterlandschaft über der Seefläche auf. Mitten im hellen Mittaglicht
verwandelt sich der See gleichsam in eine grünliche Wiese, überhangen von den
Gliedern rosiger Kirschbäume, die sich im Hitzegezitter zu bewegen scheinen,
und ferne Schilfspitzen verwandeln sich in die Silhouetten von Tänzerinnen,
welche die zerbrechlichen Linien von japanischen Mädchen zeigen. Die
Erscheinungen der blühenden Kirschbäume gleichen irisierenden Reflexen von
aufsteigenden Wolkenrändern. Der Kirschengarten, in den sich der See
verwandelt, ähnelt einer japanischen Perlmutterlandschaft auf bläulichem
Silberlack. Dieses Seegesicht, das nur bei sonnigem Himmel und nur bei der
Brise von Awazu und nur im Hochsommer erscheint, übt eine Zauberkraft auf
Menschen aus, sagen die Japaner, so daß man über den Bootrand wie von der
Schwelle eines Hauses hinaustreten und zu Fuß über die Perlmutterfläche gehen
kann, ohne zu versinken, getragen von der Begeisterung, vom sonnigen Himmel und
von der Brise von Awazu. In diesen höchsten Sekunden der See-Ekstase sollen
Menschen von Boot zu Boot gegangen sein, Viertelstunden weit über das Wasser,
ohne unterzusinken, ohne den Fuß mit einem Wassertropfen zu benetzen. Aber wehe
denen, die nicht Schritt halten mit den Glücksaugenblicken und der Glücksstärke
des sonnigen Himmels und der Brise von Awazu.
Nur solange die Brise währt, währt der Enthusiasmus
des sonnigen Himmels, der den Menschen stehenden Fußes über das Wasser trägt.
Legt sich die Brise, so läßt der sonnige Himmel die Wasserwanderer los, und sie
werden vom See tiefer verschluckt als sonst Ertrinkende.
Vermessene, die sich stärker glauben als das
Glücksgefühl des sonnigen Himmels und der Brise von Awazu, und die auch nur
eine halbe Sekunde das Glücksgefühl nicht aufgeben wollen, nachdem die Brise
sich schon gelegt hat, schießen senkrecht zum Seeboden, von der Gegenkraft des
einsetzenden Unglücks gepackt und versteinert. Man sagte, vom Unglück wie zu
Eisen verhärtet und schwarz wie Meteorsteine stünden ihre Körper wie Statuen
unten auf dem Seegrund.
Aber die größte Strafe dieser Vermessenen ist, daß solche
jählings Versunkenen nie mehr geboren werden können, daß ihre Seelenwanderung
abschloß, ehe ihre Seele sich zum Nirwana hob, und daß sie die dumpfesten
Weltüberreste sein werden, wenn das ganze Menschengeschlecht zum Nirwana
eingegangen ist.
»Die Brise von Awazu hat ihn verlassen« oder »der
Brise von Awazu trotzen wollen«, sagen die Japaner sprichwörtlich von Menschen,
die das Glück, das sie verläßt, mit den unmöglichsten Mitteln festhalten
wollen. Und sie schenken einem solchen Menschen, um ihn zu warnen, ein kleines
schwarzes Bronzeamulett, das nichts ist als eine schwarze, eiserne Träne.
Dieser Eisentropfen sieht aus wie der Haarschopf eines Menschen, der senkrecht
ins Wasser schießt.
Hört ein Freund auf diese Warnung nicht, so sendet man ihm
einen Fächer, darauf ein Mensch gezeichnet ist, der über Wellen wandert. Und
ist ihm diese Warnung noch nicht genug, so singt man ihm folgendes Lied abends
unter den Fenstern:
Gab dir heute der sonnige Tag,
Als der See im Mittagschlaf lag,
Freude und einen glücklichen Sinn
Und Götterkraft deinem Fuß im Schuh, –
Dann sieh jetzt vorsichtig vor dich hin.
Glück währt nie lang,
Wir sind um dich bang,
Glück und Tod bringt die Brise von Awazu. –
Omiya und Amagata waren zwei Turnlehrer in Ozu und
zogen mit ihren beiden Knabenschulen an einem Sommertag in Kähnen auf den
Biwasee hinaus, den ganzen Tag an den Ufern entlang. Die Schulknaben konnten
nicht schwimmen, aber nur wenigen fiel es ein, sich vor der schwindelnden Tiefe
des Biwasees zu grauen, und sie füllten die Luft mit Gelächter.
Die Schulklasse eines jeden Lehrers war nicht groß und
saß in je einem Kahn. Nun wird in Ozu erzählt: Die heiße Mittagstunde kam, und
die Kähne befanden sich auf der Höhe des Sees, wo man fast keine Ufer sieht,
nur den bläulichen Hitzedunst in der Ferne. Die beiden Kähne schienen zwischen
Himmel und Erde wie zwei abgeschossene Pfeile durch die Luft zu gleiten. Blau
verschmolzen lagen der glatte Himmel und das glatte Wasser beieinander.
Da verwandelte sich vor den Augen der Kinder der See in
jene unwirklichen Wiesen, wie sie sonst auf Bildern glatt gemalt und
grünspanfarbig zu sehen sind. Kirschbäume stiegen auf, als käme der rosigste
Frühling noch einmal in den Hochsommer herein, und kleine Mädchen in
taubenblauen Gewändern klatschten rhythmisch in die Hände und umwandelten die
dunkeln Silhouetten der Kirschbaumstämme. Bald gaben sie sich die Hände, bald
breiteten sie die Arme. Einige knieten, andere glitten im Kreis um die Knieenden.
Die Lehrer und die Knaben konnten glauben, sie seien
mit den Kähnen unter Kirschbäumen gelandet, in einer Seegegend, wo die Kirsche
erst im Hochsommer blüht, und wo die Mädchen den Frühlingsgottheiten eine
Tanzzeremonie ausdenken, um der lächelnden Kirschblüte zu huldigen.
Kein Knabe war zu halten. Alle verließen die Boote,
liefen auf die Wiesen, kauerten im Kreis unter den Kirschbäumen und begleiteten
mit rhythmischen Händeklatschen die Mädchenfüße.
Aber Kinder, die nichts vom Glückswechsel und von
Beherrschung der Glücksekunden verstehen, können auch nicht auf den Augenblick
der Windstille nach der Brise von Awazu achten.
Die lebhafte Brise, die mit den Kleidern der Kinder
spielte, mit den äußersten Spitzen der Kirschbäume, mit den glitzernden
Grashalmen der grünspanfarbigen Wiesen, legte sich plötzlich, und tiefe
Lautlosigkeit trat ein. Vergeblich schrieen die beiden Lehrer aus jedem Boot
den übers Wasser wandernden Kindern zu. Kinder sind taub, wenn sie spielen.
Kein Knabe kehrte zurück, als die Brise von Awazu sich legte.
Wie wenn ein Spiegel einbricht und die Glassplitter
trübes Glasmehl werden und kein Gesicht mehr hergeben, das hineingeschaut hat,
so blieben alle Schulkinder im See verschwunden.
Die beiden Schullehrer kamen drei Tage später, nachdem
sie den ganzen See abgesucht hatten, ohne Kinder zurück nach Ozu, wo der Jammer
um die verschwundenen Schulklassen so groß war, daß viele Väter noch in
derselben Nacht Selbstmord begingen und viele Mütter hinaus zum See stürzten
und sich ertränkten.
Auch der eine Lehrer, sein Name war Amagata, wurde am
nächsten Morgen tot in seiner Wohnung gefunden, erwürgt von Nachtgeistern,
sagten die Leute. Der andere aber mußte seine Schulstellung aufgeben und wurde
Polizist.
Eines Tages beurlaubte sich dieser Mann, welcher Omiya
hieß, und sagte, er wolle sich ein Mädchen zur Frau aus Awazu holen. Und als
man ihn fragte, warum gerade aus Awazu, von wo doch das Unglück über ihn und
Amagata gekommen sei, da schüttelte er nur den Kopf und sagte finster: »Auf
Glück folgt Unglück und auf Unglück Glück. Darum muß das Mädchen, das ich liebe,
aus Awazu sein und mir Glück bringen, weil ich dort mein größtes Unglück
hatte.«
Wenige Tage später brachte Omiya auch wirklich auf
seinem Kahn eine Frau aus Awazu nach Ozu, schloß sein Weib in sein Haus ein und
zeigte es niemand.
Die Frau gebar einen Knaben. Der sah, als er größer
wurde, dem ermordeten Lehrer Amagata auffallend ähnlich.
Nach der Geburt des Knaben trat eine Veränderung mit
Omiya ein. Er vernachlässigte seine Frau, er vernachlässigte sein Haus, er
vertrank sein Geld, er vermied es, sein Kind zu sehen, und trug immer in seinem
Mund eine kleine, kalte Pfeife, die er nie anzündete, die er aber alle
Augenblicke ausklopfte, als habe er sie ausgeraucht.
Dieses Klopfen der Pfeife des Polizisten Omiya war in
ganz Ozu als Signal bekannt. Die Kinder flüchteten in die Häuser und
versteckten sich hinter die langen Ärmel der Mütter, wenn am Ende der Straße
das Klopfen der Tabakpfeife des Polizisten Omiya ertönte. Nachts schrieen
Knaben und Mädchen im Schlafe auf, wenn unter den Fenstern der Polizist vorüberging
und seine Pfeife an die Hausecke pochte.
Ältere Leute, die nachts noch bei der Kerze saßen,
löschten das Licht aus, wenn sie das Klopfen der Pfeife hörten. Junge Männer,
die eben aus dem Teehaus heimgehen wollten, gingen bei dem unheimlichen Klopfen
wieder in das Teehaus und bestellten sich eine neue Tänzerin und Reiswein, um
nicht an das verrufene Klopfen denken zu müssen. Denn niemand in ganz Ozu
wollte mit dem verrufenen Klopfen im Ohr einschlafen.
Aber mit dem feinen Takt der Japaner erzählte keiner
dem andern in ganz Ozu, welche Plage ihm das Pfeifengeräusch des Polizisten
verursachte. Jeder vermied, von etwas so Unangenehmem, wie die Vergangenheit
und das Schicksal des Omiya gewesen, von neuem zu sprechen. Bis eines Tages
ganz Ozu von Omiya erlöst wurde.
Es war in den achtziger Jahren des neunzehnten
Jahrhunderts, als der damalige Kronprinz von Rußland Japan bereiste und,
gefolgt von verschiedenen japanischen Würdenträgern und begleitet von
abendländischen russischen Offizieren, kam und den Biwasee von den Terrassen
des Miideratempels bewunderte.
Es war am frühesten Morgen nach sechs Uhr, zu der
Stunde, da die Japaner ihre vornehmsten Visiten machen. Der See lag wie ein
großes silbernes Ei in der Sonne – ein großes Silberei, das sich funkelnd um
seine Längsachse drehte. Über die Häuser Ozus rieselte der Silberglanz und
blendete die Augen der Menschenmengen, die in der Seestraße Kopf an Kopf
standen und den ausländischen Prinzen sehen wollten, wie er in der Rikscha vom
Miideratempel zurückkam, – den zukünftigen Kaiser jenes Landes, das so nah an
Japan grenzte, und dessen Bewohner meistens hohe juchtene Stiefel tragen, sodaß
man hätte glauben können, alle die schwerbestiefelten Russen würden eines Tages
dem kleinen Japan einen Fußtritt geben, daß es zerstampft sein würde wie eine
Fliege auf der Diele.
Auch die Bewohner von Ozu, die in den Morgenstraßen
aufgereiht standen, lächelten sauersüß, als dem russischen Kronprinzen voraus
in einigen Rikschas ein paar riesige, schwerbestiefelte russische Generäle
fuhren, die während des Fahrens nichts von der Morgenschönheit des Biwasees zu
bemerken schienen, sondern mit noch übernächtigen Köpfen wie feiste Dämonen in
den kleinen Wagen saßen und halb eingeschlafen waren.
An einer Straßenecke war der Polizist Omiya in dunkler,
europäischer Uniform postiert. Zum erstenmal hatte er seine Pfeife nicht in der
Hand. Ein kleiner, kurzer Säbel hing an seinem Gürtel. Seine Mütze war tief in
die Stirn gezogen, so daß ihn der glänzende Biwasee nicht blendete.
oben
__________________________
Textgrundlage: "Sonniger Himmel und Brise von Awazu",
aus: Die acht Gesichter am
Biwasee, Japanische Liebesgeschichten,
Max Dauthendey Albert Langen, München
1932, 37. bis 40. Tausend,
Copyright 1911 by Albert Langen, Munich, Printed in
Germany
Digitale
Sammlung der Universität
zu Köln
Logo 528: "Yoshinaka Awazu
Kassen (no) zu
(View of Minamoto no Yoshinaka and the Battle of Awazu)",
from the series 'Uki-e (Perspective Pictures)'
ca. 1760, Utagawa
Toyoharu (1735-1814)
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