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04.3
Geschichten-
Max Dauthendey
Die acht Gesichter am Biwasee
Sonniger Himmel und Brise von Awazu
Seite 2
Nun kam der Kronprinz um
die Ecke gefahren, und Omiya sollte die Hand an den Mützenschild führen und den
russischen Zarensohn grüßen. Aber die Leute auf der Straße sahen plötzlich den
russischen Prinzen im heftigsten Handgemenge mit Omiya; Omiyas kurzer Säbel blitzte
und zerbrach dann wie ein Stück Glas und flog im Bogen in zwei Stücken über die
Köpfe der Zuschauer in eine Seitenstraße.
Russische Uniformen und
abendländische Fäuste sah man im Gewühl einen Augenblick danach um Omiya toben.
Dann verbreitete sich die Nachricht von Mund zu Mund, von Haus zu Haus, von
Ufer zu Ufer rund um den Biwasee, über ganz Japan, über Rußland und über Europa,
– die Schreckensnachricht, daß der Kronprinz Nikolaus von einem japanischen
Polizisten in Ozu am Biwasee angefallen und durch einen leichten Dolchstich am
Arm verwundet worden sei. Man erklärte diesen seltsamen Fall damit, daß der
japanische Polizist in plötzlichem Irrsinn und unter dem Einfluß der Tobsucht
gehandelt habe.
Der Irrsinnige sei dann
nach der Tat aus seinem Haftlokal ausgebrochen und habe sich in einem Kahn auf
den Biwasee geflüchtet. Und da alle Nachforschungen vergeblich blieben und da
es ein heißer, glühender Tag war, sagten die Leute, die Brise von Awazu habe
den Attentäter in den See gelockt.
Omiyas kleiner Sohn wurde
an diesem Tage gerade fünfzehn Jahre alt. Das ist das Alter, in dem die
japanischen Kinder ihren Kinderrufnamen ablegen und einen Namen für ihre
Mannesjahre erhalten. Aber Omiyas Frau verschob wegen des schrecklichen
Ereignisses an diesem Tage das Namensfest ihres Knaben, bis sie Kunde haben
würde von dem Verbleib ihres irrsinnig gewordenen Mannes.
Einige Tage später, eines
Mittags, als die Frau den Reis am Herd rührte, flog ein Kieselstein von der
Straße her in den Reistopf.
Die Frau streckte den Kopf
über die Altane des Hauses und sah einen in Lappen und Lumpen gewickelten Mann,
der ein großes Bündel gemähtes Schilf auf dem Kopfe trug. Die Schilfhalme
hingen so dicht vor seinem Gesicht und um seinen Kopf, bis auf die Schultern,
daß Omiyas Frau nur ein riesiges Schilfbündel auf zwei Beinen wandelnd die
Straße hinabgehen sah.
Sie schüttelte verwundert
den Kopf. Die Seestraße war zur Mittagsstunde leer, und die Frau konnte nicht
begreifen, wer den Stein durchs Fenster geschleudert hätte. Plötzlich durchzuckte
sie ein Gedanke. Sie fährt noch einmal mit dem Kopf über den Altanenrand und
betrachtet nochmals den Gang der Männerbeine, die unter dem gelben Schilfbündel
die staubweiße Straße entlangschleichen. Sie nickt und murmelt:
»Das war Omiya.«
Den Stein, den sie schon
vorher aus dem Reistopf herausgenommen hatte, wäscht sie jetzt rasch im
Wasserbottich rein und betrachtet den Biwakiesel von allen Seiten. Sie erkennt
darauf, als sie den Stein über dem Herdfeuer getrocknet hat, eingeritzte
winzige Schriftzeichen und liest: »Tue mit deinem Sohn, der nicht mein Sohn,
sondern Amagatas Kind ist, dasselbe, was ich mit Amagata getan habe: töte ihn.
Dann halte dich heute um
Mitternacht bereit. Du mußt mit mir auswandern. Hätte ich den ausländischen
Prinzen getötet und nicht bloß verwundet, so hätte ich Japan einen so großen
Dienst getan, daß meine Vergangenheit reingewaschen wäre, reiner als dieser
Kiesel des Biwasees. Das Attentat ist mir mißlungen, und ich bin der Mörder
Amagatas geblieben und der Mörder der Schulkinder von Ozu. Ich bin aus
Eifersucht um deinen Besitz mit Amagata vor Jahren auf der Seehöhe in Streit
geraten, und er schlug seinen Kahn und ich meinen Kahn im Kampf um, und alle
Schulkinder ertranken. Das hast du bis heute nicht gewußt. Du wußtest nur, daß
ich dich zu deinem und meinem Verderben lieben muß. Ich habe dir vorgelogen,
daß Amagatas letzter Wunsch war, daß du mich heiraten solltest, wenn er tot
wäre. Er hatte mir zwar gesagt, daß er dich in Awazu besucht und verführt habe.
Aber ich hatte doch nie geglaubt, daß ich den Anblick seines Kindes nicht
vertragen könnte. Tötest du das Kind nicht, so werde ich es töten. – Gehorche
jetzt und rotte Amagata vollständig aus unserem Leben aus, indem du sein Kind
beseitigst. Der Kampf zwischen mir und Amagata brach aus, als er mir in den
Booten auf dem See erzählte, daß er dich besitze, wann er wolle, und dich bald
aus Awazu holen und zu seiner Frau machen werde. Nachdem wir uns im Wasser müde
gekämpft hatten, er und ich, und ich sah, daß alle Kinder ertrunken waren und
mich selbst beinahe die Kräfte verließen, veranlaßte ich ihn, mich vom
Ertrinken zu retten, indem ich sagte, der Verlust der Schulkinder sei mir
größer als dein Verlust, und indem ich eine Gleichgültigkeit heuchelte, die ich
niemals fühlte, und dabei erklärte, daß ich auf dich verzichten wollte.
Amagata, der kräftiger war als ich, nahm mich dann auf seinen Rücken und
schwamm mit mir stundenlang, viele Seemeilen, bis ans Ufer.
In Ozu verbreiteten wir das
Märchen von der Brise von Awazu, das aber trotzdem kein Märchen ist, denn ich
habe wirklich einen Augenblick mitten in der Mittagshitze die Erscheinung der
Kirschbäume und der tanzenden Mädchen draußen zwischen Wasser und Himmel
gehabt. Du kamst mir über das Wasser entgegen, und ich hielt dich glücklich in
meinem Arm und verlebte in dieser Vision die unschuldig seligsten Augenblicke
meines Lebens, bis plötzlich Amagata neben mir, eingeschlafen und traumredend,
das Geheimnis deiner Verführung verriet. Ich versuchte ihn damals zu erwürgen,
so wie ich ihn, obwohl er mich gerettet hatte, noch in derselben Nacht in Ozu
wegen der Liebe zu dir erwürgt habe.
Ich gestehe dir dieses alles heute ein, weil
du mir hundertmal versichertest, daß du mich mehr als Amagata liebtest.
Mein Kampf gegen Amagata
ist aber erst ausgekämpft, wenn sein Sohn nicht mehr am Leben ist. Ich liebe
dich. Darum töte Amagatas Sohn, wie ich für dich getötet habe.«
So sprach die Schrift des
Kieselsteins zu der Frau.
Der Reis verbrannte am
Feuer, das Zimmer füllte sich mit Qualm. Aber der Rauch verzog sich bald
wieder, denn das Herdfeuer ging aus, weil die Frau es nicht mehr schürte und
den großen flachen Stein in ihrer Hand hin und her drehte und die Schrift, die
winzig gekritzelte, entzifferte.
Es wurde Nachmittag. Die
Frau las immer noch. Wohl wunderte sie sich manchmal, daß ihr Junge, der
draußen auf dem See lag und angelte, nicht heimkam und Essen verlangte. Aber
der Stein in ihrer Hand, der die tiefsten Geheimnisse zweier Menschenleben zu
ihr redete, machte, daß sie bald wieder Zeit, Ort und Wirklichkeit vergaß.
Plötzlich weckte sie ein
Gerede auf der Straße, Stimmen sprachen unter dem Fenster den Namen ihres
Sohnes und ihren eigenen Namen. Die Stimmen rannten fort und kamen wieder. Füße
und Stimmen drängten an ihr Haus. Die Schiebetür teilte sich, und die Stimmen
drängten herein und umsummten sie, und die vielen Füße traten zu ihr heran, und
ebenso das Gemurmel. Und sie dachte einen Augenblick: Ist der Reis wieder
übergekocht, weil es so laut wird? Da kamen Hände zu ihr, die ihre Hände streichelten.
Vor ihr legte man ein nasses, in graue Segeltücher gewickeltes Paket hin. Das
roch nach dem Grundwasser vom Biwasee.
Und die Frau mußte an den
Wasserkampf zwischen Amagata und Omiya denken und an das Gemurmel und Geseufze
und Gegurgel und Geschluchze der ertrinkenden Schulkinder rings um die beiden
kämpfenden Männer, und an Omiya, der schwächer war und auch am Ertrinken war,
und an Amagata, der sie zur Mutter gemacht hatte, gleichfalls an einem heißen
Tag, draußen im Boot auf der Seehöhe, und der dann aus ihrem Schoß zu ihren
Füßen hinrutschte und nach dem Liebeskampf auf einem Haufen Segeltuch sanft
einschlief, und den sie dann zudeckte mit ihrem Gewand. Der See war ihr
Hochzeitsgemach gewesen. Der See konnte ihr nichts Böses tun. Was der Biwasee
tat, war wohlgetan.
War das Amagata oder
Amagatas Sohn, der jetzt starr vor ihr lag in dem nassen Segeltuch?
Die Frau lüftete mit ihrer
kleinen abgearbeiteten Hand ein wenig das Tuch des nassen Paketes. Da sah sie
ein Endchen von dem Kleidersaum eines Knabenrockes, den sie selbst genäht
hatte.
Sie sah tränenlos hin, ohne
Erstaunen, und sagte zu dem Gemurmel und zu den vielen Füßen, die rund um sie
waren:
»Es ist Amagatas Sohn. Der
See hat mir Amagata damals geschenkt, warum soll ich nicht heute ihm meinen
Sohn schenken!«
Und das Gemurmel um sie
verging allmählich, und die vielen Füße um sie gingen aus dem Zimmer. Und es
wurde still, als wäre das Feuer zum zweitenmal im Herd ausgegangen.
»Mein lieber Sohn«, sagte
die Frau, die neben dem ertrunkenen Knaben kniete, »siehst du, hier ist ein
Kopfkissen aus dem Biwasee.«
Und sie schob dem Toten den
großen flachen Kieselstein, den sie immer noch in der Hand hielt, unter den
Kopf.
»Ich sollte mich jetzt
neben dich legen und für immer mit dir einschlafen, Kind. Der Biwasee war mein
Hochzeitsbett. Er könnte auch mein Sterbebett werden, wie er deines geworden
ist, Kind. Aber ich habe noch eine Rechnung zu machen. Dein Vater Amagata würde
mich nicht als deine Mutter im Totenreich empfangen, wenn ich fortgegangen wäre
von der Erde, ohne Omiya zu zeigen, daß ich immer Amagatas Willen tat. Auch
wenn ich Omiya hundertmal sagte, daß ich ihn mehr liebte als Amagata, tat ich
das, damit er Amagatas Kind nicht schlüge und Amagatas Kind nicht verhungern
ließe.«
Dunkle Wasserflecken liefen
von der nassen Segelleinwand über die Strohdiele der Stube. Und die
untergehende Sonne leuchtete rot über den See draußen und rot über die
Wasserflecken im Zimmer.
Die Frau nickte und saß
weiß in dem abendroten Gemach, als könnte ihr auch die Sonne kein Blut zum
Weiterleben mehr geben.
Die Frau nickte und sprach:
»Vergossenes Blut braucht nicht mit vergossenem Blut gerächt zu werden. Aber
ich will Omiyas Seele in alle Winde ausschütten, daß sie nie mehr in seinen
Körper zurückkehren kann. Ich will Omiyas Seele ausblasen, daß er hohl
herumgeht und die Welt so leer sieht, als wäre der Biwasee ausgetrocknet. Und
ein unendlich großes Loch ohne Glanz und ohne Welle soll den Platz von Omiyas
Seele einnehmen.«
Die Nachtzikaden begannen
vor den Fenstern zu singen, und die Seelandschaft draußen verflüchtigte sich in
Dämmerung. Das kleine Zimmer mit der Leiche, mit der toten Asche auf dem Herde,
mit den dunklen Wasserflecken auf der Diele und mit dem regungslosen, blaßleuchtenden
Frauengesicht neben der Leiche war etwas so Stilles im Weltraum, daß im
Fensterrahmen die funkelnden Sterne am Nachthimmel dagegen wie gestikulierende,
laute Menschengesichter waren, wie ein Volksgetümmel, das Kopf an Kopf mit
glänzenden Augen vor den Fenstern ein Schauspiel erwartete.
»Nur warten, nur warten!«
nickte die Frau den Sternbildern zu, die sie für Menschengesichter hielt.
Dann knackte die Diele der
Altane. Ein Gewand raschelte. In der Hand eine kleine Blendlaterne, trat der
ehemalige Polizist Omiya ein und ließ den Laternenstrahl im Halbkreis durch das
Zimmer leuchten.
»Du hast ihn getötet! Gut.
Komm!« sagte stoßweise seine Stimme. Und die Blendlaterne, als wäre sie Omiyas
drittes Auge, schoß abwechselnd einen Strahl an die Decke und einen Strahl auf
die eingewickelte Leiche am Boden.
»Komm! Wir haben nichts
mehr hier zu suchen in Ozu. Wir müssen am Ende des Sees sein, ehe es Tag wird.
Steh auf und nimm dein Kleid über den Kopf, daß dich niemand erkennt.«
»Setz dich hierher, ich
habe zu reden!« antwortete Omiya eine Stimme, die er nie gehört hatte. Und er
fragte unwillkürlich erschrocken zurück: »Ist Amagata hier?«
»Amagatas Sohn war hier«,
antwortete die Stimme, welche Omiya nicht von der Erde und nicht vom Himmel zu
sein schien, – eine Stimme, die war, als spräche einer der bronzenen
Versunkenen, die wie Statuen auf dem Grunde des Biwasees stehen, einer von
jenen, welche die Brise von Awazu überrascht hatte, und die verschlungen wurden
vom Unglück.
»Wer bist du?« fragte
Omiya. »Du bist nicht mein Weib, du, die da spricht.«
»Du hast recht. Es ist
Amagatas Weib, das zu dir spricht.«
»Sagtest du nicht immer,
daß du mich mehr liebst als Amagata?« sagte Omiya rasch.
»Du sagtest mir, Amagata
hätte sterbend gewünscht, daß ich dich, Omiya, lieben sollte; darum heiratete
ich dich, seinen Freund. Aber niemals habe ich dir gesagt und niemals dir
gestanden, daß ich nur deshalb auf der Erde blieb, nachdem Amagata tot war, um
sein Kind zu gebären, damit dieses so glücklich würde, wie ich glücklich war an
meinem Hochzeitsmittag mit Amagata auf dem See. Das Glück, das ich in Amagatas
Armen auf dem See draußen zum ersten Male genoß, wollte ich verlängern, wollte
seinen Sohn gebären und nicht sterben, bis Amagatas Fleisch und Blut die Liebe
kennen lernen würde und die glücklichsten Liebessekunden, wie ich sie gekannt
habe. Amagata, mein toter Geliebter, sollte in seinem Sohn für mich
weiteratmen.«
»Verflucht!« brüllte Omiya.
Und seine Kehle gurgelte wilde Laute, wie die Kehle eines, der im dunklen
Wasser um sich schlägt und Wasser schluckt und schreien will und um sich speit
und nicht Luft zum Schreien findet.
Dann verlosch die
Blendlaterne. Es geschah scheinbar nichts im Dunkeln. Kein Seufzen, kein Schrei
mehr. Doch fanden am Morgen die Leute von Ozu die kleine blasse Frau des Omiya
erwürgt neben der Leiche ihres ertrunkenen Sohnes.
Omiya aber blieb
unauffindbar und ungestraft, was gleich ist mit der größten Strafe der Götter.
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Textgrundlage: "Den Nachtregen regnen hören in Karasaki",
aus: Die acht Gesichter am
Biwasee, Japanische Liebesgeschichten,
Max Dauthendey Albert Langen, München
1932, 37. bis 40. Tausend,
Copyright 1911 by Albert Langen, Munich, Printed in
Germany
Digitale
Sammlung der Universität
zu Köln
Logo 528: "Yoshinaka Awazu
Kassen (no) zu
(View of Minamoto no Yoshinaka and the Battle of Awazu)",
from the series 'Uki-e (Perspective Pictures)'
ca. 1760, Utagawa
Toyoharu (1735-1814)
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