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04.3
Geschichten-
Max Dauthendey
Die acht Gesichter am Biwasee
Der Wildgänse Flug in Katata nachschauen
In der alten Hauptstadt Kioto, in der ältesten
Künstler-, Tempel- und Kaiserstadt Japans, hatten im Mittelalter viele Maler
den Auftrag erhalten, die Gemächer eines Bergtempels zu bemalen. In diesen
Tempel zog sich die kaiserliche Familie in den Sommertagen zurück und pflegte
dort einige Wochen unter der Obhut der reichen Mönche zu wohnen.
Die Maler begannen ihr Werk. Einer malte einen Saal,
wo Sperlinge in Scharen über die Wände flogen und sich in Reisfeldern und
Bambushainen auf Halmen und Rohren schaukelten. Ein anderer Maler malte auf
Silberpapiergrund einen Saal, wo große Meereswellen aufrauschten und die vier
Wände umschäumten. Wieder ein anderer Maler malte einen Saal voll von Katzenmüttern
und jungen Katzen, die in Blumenkörben spielten und die Blütenköpfe großer
Päonien zerzupften.
Der erste Saal wurde der Sperlingssaal genannt, der
zweite der Saal der schäumenden Wellen, der dritte der Saal der spielenden
Katzen.
Der Kaiser und die Kaiserin, die an der Ausschmückung
viel Anteil nahmen, ließen sich jedesmal, wenn ein Saal beendet war, in Sänften
und mit großem Pomp zu dem Bergtempel tragen und verbrachten eine Teestunde in
dem neuen Saal. Und sie nahmen öfter ihre jungen Prinzessinnen mit, drei an der
Zahl. Und der Kaiser sagte zur ältesten eines Tages, als sie den Tempel wieder
besichtigten:
»Wünsche dir einen gemalten Saal, mein Kind!
Vielleicht haben die Maler die Freundlichkeit und werden von glücklichen
Augenblicken begünstigt, dir einen Saal zu malen nach deinem Einfall.«
Die älteste Prinzessin, die einen kleinen japanischen
Seidenpinscher auf ihrem Arm trug, mit dem sie spielte, wünschte sich einen
Saal voll Schoßhündchen, die um sie spielen sollten. Und die Maler malten ihr
diesen Saal.
»Nun wünsche du, mein Kind, was du gemalt haben
willst!« sagte der Kaiser zur zweitältesten Prinzessin.
Diese wünschte sich etwas ganz Unmögliches: einen
Saal, wo der Mondschein käme und ginge und in welchem keine Farben sein
sollten.
Die Maler brachten auch diesen Saal zustande. Sie
teilten einen Saal in zwei Teile. Die eine Hälfte sah nach Osten, die andere
nach Westen, und jeder Saalteil hatte einen Altan. Von dem einen Altan sah man
den Mond aufgehen, von dem anderen Altan den Mond untergehen. Und weil das Auge
der Prinzessin und das Auge des Mondes keine der sieben Regenbogenfarben dulden
wollten, hatten die Maler Pflanzen und Bäume in jedem Saal mit brauner Sepia
gemalt. Nun wurde die dritte Prinzessin von dem Kaiser und der Kaiserin gefragt,
was sie sich in ihrem Saal von den Malern gemalt wünschte.
Oh, sagte sie, sie wünsche sich nicht viel, nur einen
Zug Wildgänse, die durch die Luft flögen, graue und weiße Wildgänse, im
Zickzackflug, rund um den Saal. Aber jede Gans müsse so hinter der anderen
fliegen, daß sie alle zusammen ein japanisches Schriftzeichen in ihrem Flug
bildeten. Dieses Zeichen würde von einem bestimmten Baum und einer bestimmten
Hügellinie und der Fluglinie der Gänse gebildet. Nur in Katata am Biwasee
könnten die Maler den Gänseflug, den Baum und den Hügel zusammen treffen. Nur
ein Mal, an einem Frühlingsabend, habe die Prinzessin bei einem Ausflug in
Katata die Wildgänse so fliegen sehen, daß sich das wunderbare Schriftzeichen
zwischen Himmel und Erde aus der Fluglinie der Gänseschar, aus der Silhouette
eines Hügels und aus einer Baumlinie bildete.
»Und das nennst du ganz einfach?« sagte der Kaiser.
»Es war ganz einfach, als ich es sah«, antwortete die
Prinzessin.
»Es wird nicht zu malen sein«, sagte die Kaiserin.
»Dann wünsche ich keinen gemalten Saal«, sagte die
Prinzessin.
»Und wie hieß das Schriftzeichen?« fragte der Maler
Oizo, als der Kaiser und die Kaiserin ihm den Wunsch der Prinzessin erklärten.
»Das hat die Prinzessin vergessen«, wurde ihm zur
Antwort.
Die Maler zogen mit Reispapier und Tusche, mit
Silberpapier und Goldpapier beladen nach Katata, um den Flug der Wildgänse zu
studieren. Aber da es Juli war und keine Wildgänse um diese Zeit vorüberziehen,
mußten sie warten bis Oktober. Und Oizo suchte inzwischen die Hügellinie und
die Baumlinie. Aber da es Sommer war und die Bäume belaubt, und da die Hügel
voll hoher Gräser wehten, fand er nirgends die Linie freiliegend.
Die Maler und der Maler Oizo studierten inzwischen die
Fische, die in Rudeln im klaren Wasser stehen, und Bäume am Ufer, welche wie
Schriftzeichen ins Wasser tauchen und sich in der Wasserspiegelung krümmen, und
Wachteln, die in den Reisfeldern brüten, und Wachtelmütter, die mit ihren
Jungen unter den Reishalmen picken. Sie brachten diese Bilder nach Kioto in den
Bergtempel und dachten:
Vielleicht gibt sich die Prinzessin zufrieden mit
einem Wachtelsaal oder mit einem Saal voller Uferbäume und Fische.
Aber die Prinzessin schwieg und gab keinen Beifall,
und auch der Kaiser und die Kaiserin schwiegen.
Da wurde der große Maler Oizo traurig und kehrte
wieder nach Katata zurück. Dort wohnte er in dem Haus eines Töpfers auf einem
Hügel. Der formte aus dem Ton der Katataerde Vasen, einfache weiße Vasen, die
er mit grüner und blauer Glasur überzog, so daß sie spiegelten wie das grüne
und blaue Uferwasser des Biwasees in den Frühlingstagen.
Der Töpfer hatte eine Tochter. Die war so jung und
lebendig wie ein Aprilwind. Sie saß am Töpferofen, darinnen die Vasen und
Tonschalen ihres Vaters gebrannt wurden. Sie hatte die Glut zu schüren und die
Holzkohlen aufzufüllen, und davon war sie stets schwarz im Gesicht und schwarz
an den Händen, daß der Maler Oizo sie eigentlich noch niemals gesehen hatte.
Oft saß er am Ofen bei ihr, wenn sie die Flammen
schürte, und er zeichnete nachher die roten Korallenäste des Feuerflackerns.
Natürlich wußte ganz Katata, daß die kaiserlichen Maler auf den Herbst
warteten, bis die Wildgänse in den Oktoberabenden fortflögen. Und auch
»Graswürzelein«, wie die Tochter des Töpfers hieß, wußte, daß Oizo jetzt
traurig war, weil er den Wunsch der Prinzessin noch nicht befriedigen konnte.
Eines Abends, als der Mond aufging und der Altan des
Töpfers zwischen dem Mondschein und dem roten Schein, der aus dem Ofen fiel,
zweifarbig beleuchtet, rot und blau wurde und »Graswürzelein« mondblau und
feuerrot, zweifarbig erschienen, vor dem Ofen im Hof bei dem Altan saß, seufzte
der Maler in seiner Altanecke ärgerlich und trotzig darüber, daß der Prinzessin
nicht der Wachtelsaal und nicht der Saal der Fische gefallen hatte und auch der
Kaiser und die Kaiserin darüber geschwiegen hatten.
Da kam die blau und rot beschienene Tochter des
Töpfers und sagte:
»Seufze nicht, Oizo! Ich will dir sagen, was die
kaiserliche Prinzessin denkt und was sie will, und will dir auch das
Schriftzeichen des Fluges der Wildgänse zeigen.«
Und »Graswürzelein« nahm eine Holzkohle, die neben dem
Ofen lag, und zeichnete auf einen weißen ungebrannten Tonkrug ein paar Linien.
»Sieh her, Meister!« sagte sie. »Was heißt das auf
japanisch, was ich hier schrieb?«
»Das heißt«, sagte Oizo und betrachtete flüchtig den
Krug mit dem Schriftzeichen, »ich liebe dich, wenn ich dir nachsehe. Aber du
liebst mich nicht, weil du fortsiehst.«
»Sieh, Oizo«, sagte »Graswürzelein«, »dies denkt die
Prinzessin, denn sie ist wahrscheinlich in einen Mann verliebt, der sie nicht
ansieht. Und sie will das Schriftzeichen durch den Gänseflug in ihren Saal
gemalt haben und will den Mann dann in den Saal führen und ihn von den Wänden
ihren Willen lesen lassen. Denn sieh: Das Schriftzeichen besteht aus drei
Teilen. Sieh hier die Gabel eines vielfach gewundenen Baumes. Wagrecht durch
die Gabel hindurch siehst du die Brustlinie eines ansteigenden Hügels und
darüber die vielfach zackige Fluglinie einer unendlich langen Reihe von grauen
und weißen Wildgänsen. Aber zugleich siehst du: die grauen Gänse verschwinden
in der Dämmerung und unterbrechen die Linie, wogegen die weißen sich als
Schriftzeichen vom Abendhimmel abheben.«
Oizo fragte erstaunt und mit ganzem Herzen zuhörend:
»Und woher weißt du, daß die Prinzessin gerade diesen
Schriftzug meint: ich liebe dich, wenn ich dir nachsehe, aber du liebst mich
nicht, weil du fortsiehst?«
»Das ist ganz einfach«, lachte »Graswürzelein«. »Mein
Vater machte einmal eine Vase. Ich hatte aber den Ofen schlecht geheizt, so daß
die Glasuren nicht gleichmäßig trockneten und sich seltsamerweise dieses
Schriftzeichen bildete, indem der weiße Grund der Vase in Zickzacklinien durch
die blaugrüne Glasur schimmerte. Flüchtig hingesehen, erschienen die weißen
Linien wie ein Flug Wildgänse, die in einer Landschaft über Baum und Hügel
hinflogen.
Die Vase gefiel einem Mönch, der sie sah und
ausnehmend schön fand, da sie zugleich Bild und Schriftzeichen deuten ließ. Die
Prinzessin hat wahrscheinlich diese Vase in einem Tempel gesehen, und man hat
ihr gesagt, daß das Bild darauf den Flug der Wildgänse in Katata darstellt.
Aber ich denke mir, daß das Schriftzeichen ihr mehr wert ist, als der Flug der
Wildgänse«, lachte »Graswürzelein«.
Oizo schlug sich mit der Hand vor die Stirn und
lachte:
»Also dieser Baum und dieser Hügel sind gar nicht in
Katata? Und nur die Wildgänse fliegen hier vorüber im Frühling und im Herbst?«
»O ja«, sagte »Graswürzelein« nachdenklich. »Der Baum
lebt wohl hier irgendwo und der Hügel auch irgendwo, denn nichts ist Zufall auf
der Welt. Es war auch kein Zufall, daß ich das Feuer damals schlecht schürte
und daß die Vase schlecht trocknete. Nichts ist Zufall, sagen die Götter hier
bei uns in Katata.«
Und während »Graswürzelein« das sagte, öffnete sie die
Feuerluke, zerschlug den Krug am Boden, auf den sie das Schriftzeichen gemalt
hatte, sammelte die Scherben und warf sie ins Feuer.
»Was machst du da?« sagte Oizo verblüfft.
»Ich habe zuviel geredet, und das ärgert mich«, sagte
»Graswürzelein«. »Deshalb zerbrach ich den Krug.«
Der Maler verstand sie nicht, reichte ihr ein
Geldstück hin und sagte:
»Nimm dies einstweilen als Dank für deine Aufklärung.
Ich gebe dir später mehr, wenn mir der Kaiser den Wildgänsesaal bezahlt hat.«
Und Oizo ging und packte seine Zeichnungen ein, um am
nächsten Morgen nach Kioto zu reisen.
Aber »Graswürzelein« warf, als er sich abwandte, das
Geldstück in das Feuer des Ofens, geradeso, als wäre es eine Tonscherbe. Und
als ihr Oizo Lebewohl sagte und ihr nochmals dankte, sagte sie:
»Warum soll ich dir Lebewohl sagen: Ich weiß ja doch,
daß du wiederkommen mußt.«
»Das wäre nur ein Zufall, wenn ich wiederkäme«, sagte
Oizo.
»Die Götter von Katata kennen keinen Zufall«, murmelte
»Graswürzelein« und blies in das Feuer. –
Der Maler ging nach Kioto und malte den Saal nach dem
Gedankengang des Schriftzeichens auf silbergrauen Grund: den dämmernden Baum im
Abend, die Hügellinie und grau und weiß die große Zackenschleife in der Luft,
welche die fliegenden Wildgänse beschreiben.
Wie Oizo noch am Malen war, kam einer seiner
Kameraden, ein anderer Maler, der auch draußen in Katata gewohnt hatte, und
lachte ihn aus, weil er sich immer so geheimnisvoll in den Saal einschloß, den
er malte, und die andern nicht wissen lassen wollte, wie der Schriftzug des
Gänsefluges hieße.
»Du machst dich lächerlich, daß du dich hier
einschließt und nichts von der Welt wissen willst als nur deine Malerei. Komm
heute abend mit mir in die Theaterstraße von Kioto. Ich verspreche dir, daß ein
Besuch in der Theaterstraße deiner Malerei mehr nützen wird, als du glaubst.«
Oizo, der die Aufrichtigkeit seines Freundes kannte,
gab diesem nach und ging mit ihm schweigend in der Nacht vom Bergtempel hinab
über die Brücke in die Stadt zur Theaterstraße, wo erleuchtete Budenreihen und
farbige Lampen waren und große Leinwandmalereien in der Nachtluft wie Fahnen
flatterten und Szenen aus den Theaterstücken schilderten.
Verblüfft blieb Oizo am Eingang der Straße stehen. Da
war ein Papierlaternenverkäufer. Der hatte Lampen aus ölgetränktem
Pflanzenpapier, und auf jeder Lampe war das Schriftzeichen des geheimnisvollen
Gänsefluges gemalt, das er aus Katata mitgebracht hatte: das Schriftzeichen der
Wildgänse, des Hügels und des Baumes, von dem er geglaubt hatte, daß es nur allein
ihm, der Tochter des Töpfers und der Prinzessin bekannt sei.
Oizo schwieg und verbiß sich sein Erstaunen und dachte
an irgend einen spitzbübischen Verrat.
Nun kamen sie weiter, sein Freund und er, zu dem
größten Theater in der Mitte der Straße. Da zeigten auch die Theaterbilder
außen an der Zeltbude rund um die Zeltwand den Flug der Wildgänse. Zugleich kam
ein Straßenverkäufer zu den beiden Malern und bot ihnen ein Spielzeug an: aus
Seidenwatte gearbeitete kleine Wildgänse, die an einer Seidenschnur hingen und,
durch die Luft geschleudert, in Schleifenform dahinflatterten. Ein
Perlmutterarbeiter zeigte ihm Lackkästchen, darauf der Flug der Wildgänse über
Baum und Hügel ging, und alle diese Dinge prägten das Schriftzeichen aus, das
wie eine Liebeserklärung jene Worte sagte:
Ich liebe dich, wenn ich dir nachsehe. Aber du liebst
mich nicht, weil du fortsiehst.
Ganz verstört schwieg Oizo immer noch. Seine Stirn
verfinsterte sich, und er blieb im Menschengedränge stehen und wollte seinem
Freund entlaufen. Dieser hielt ihn am Ärmel fest und rief ihm zu:
»Laß dir doch erklären, woher ganz Kioto den Flug der
Wildgänse und das Bild, das du malen willst, kennt.
Du weißt, ich wohnte in Katata bei einem
Fruchthändler. Dessen Tochter brachte mir eines Tages in einer Porzellanschale
einen kleinen Zwerggarten in mein Zimmer. Darin blühte ein ganz winziger
Kirschbaum. Der Baum war nicht höher als mein halber Arm. Hinter dem Baum war
ein künstlicher Hügel aus Erde. Diesen kleinen Garten stellte sie am Abend
hinter einen weißen Papierschirm, auf welchem mit schwarzer Tusche kleine
Wildgänse im Schleifenflug gemalt waren. Sie zündete eine Lampe hinter dem
Schirm an, so daß die Schatten des Zwerggartens, des Baumes und des Hügels auf
den weißen Schirm fiel und sich darauf abzeichnete und Garten und Gänse ein
einziges Schattenbild zu sein schienen. Aber zugleich konnte man das Ganze auch
für ein Schriftzeichen halten.
Ich verstand sofort, daß sie mich liebte, und daß
dieses Bild eine Liebeserklärung sein sollte.
Ich kümmerte mich nicht um ihre Erklärung, nachdem ich
den gesuchten Wildgänseflug von Katata, der eine Liebeserklärung darstellt, so
deutlich gesehen hatte, daß ich ihn malen konnte.
oben
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Textgrundlage: "Der Wildgänge Flug in Katata nachschauen",
aus: Die acht Gesichter am
Biwasee, Japanische Liebesgeschichten,
Max Dauthendey Albert Langen, München
1932, 37. bis 40. Tausend,
Copyright 1911 by Albert Langen, Munich, Printed in
Germany
Digitale
Sammlung der Universität
zu Köln
Logo 530: Box
for Documents and Papers, ca. 1904, Akatsuka Jitoku,
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