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04.3
Geschichten-
Max Dauthendey
Die acht Gesichter am Biwasee
Der Wildgänse Flug in Katata nachschauen
Seite 2
Ich wollte am nächsten Tag
abreisen, ging aber am Abend noch ins Teehaus, wo ich fünf von unseren Malern
traf. Dem einen hatte eine Tänzerin den Wildgänseflug von Katata bereits
erklärt, dem andern ein Fischermädchen, bei dessen Vater er wohnte, dem dritten
und vierten und fünften andere Mädchen von Katata, so daß wir alle merkten: das
Schriftzeichen des Gänsefluges war ein öffentliches Geheimnis der jungen
Mädchen in Katata und wurde immer angewendet, als Zeichnung auf einer Vase, als
Wandschirmbild und so weiter, wenn ein Mädchen von Katata einem Manne eine
Liebeserklärung machen wollte.
Wir hatten das bis damals
in Kioto nicht gewußt. Aber jetzt kennen das Schriftzeichen des Wildgänsefluges
von Katata alle Kinder von Kioto, weil alle Maler das Geheimnis verbreitet
haben – alle, die in Katata waren. Auch der kaiserliche Hof weiß es längst, und
die junge Prinzessin ist bereits von dem ganzen Hof als lächerlich erklärt. Der
Kaiser und die Kaiserin sollen sehr ärgerlich sein, und du selbst wirst deinen
Kopf verlieren, wenn du den Saal fertig gemalt hast und dir einbildest, von der
Prinzessin geliebt zu sein.«
Oizo dachte einen
Augenblick nach, dann lachte er und sagte:
»Da ich die Prinzessin
nicht liebe, wird mir der Hof doch nicht böse sein, weil ich den Wildgänseflug
mit Lust an meiner Malerei malen wollte, und nicht mit Lust an der
Liebeserklärung des Schriftzeichens.«
»Doch, doch«, sagte sein
Freund. »Du mußt fliehen, du mußt dich verstecken, bis der Tempel eingeweiht
ist. Man wird den Saal der Prinzessin verschlossen halten und gar nicht zeigen.
Aber du mußt fortbleiben, bis man die Liebeserklärung der Prinzessin vergessen
hat.
Ich rate dir, nimm ein
Segelboot und halte dich einen Monat lang auf dem Biwasee versteckt. Auf dem
weiten Wasser draußen wird dich niemand suchen, und du kannst den Booten
ausweichen.«
»Ich trenne mich nur schwer
von meiner Malerei«, sagte der Maler Oizo. »Aber du hast recht. Ich will
fliehen und will mich verstecken, bis der Saal der Prinzessin vergessen ist.«
Oizo verließ Kioto noch in
derselben Nacht, kaufte sich ein Boot, das er mit Nahrungsmitteln versah, und
zog dann hinaus auf den See.
Aber die Tage waren
unfreundlich: es war Vorfrühling. Viele Tage lang lagen die Nebel wie Binden
vor Oizos Augen, und er sah nichts und hörte nichts im Nebel als das Knirschen
seines Bootes.
Eines Tages ließ er sein
Boot treiben und sagte zu sich: »Ich will aussteigen, wo das Boot landet. Wenn
ich nicht malen kann, tötet mich die Langeweile. Ich will wenigstens wieder
einmal malen dürfen. Und wo jetzt das Boot landet, weiß ich auch, werde ich ein
Bild finden, das mir längst in der Seele vorgeschwebt hat.«
Das Boot des Malers trieb
im Abend an den Strand von Katata.
»O unglücklicher Ort«,
sagte Oizo. »Soll ich also wirklich das Bild der Wildgänse noch einmal malen?
Ich will noch abwarten und sehen, was mit mir geschieht, wenn ich ans Land steige.
Die Götter haben das Boot gelenkt, die Götter werden auch meine Schritte
lenken.«
Der Maler stieg ans Land
und ging über den leeren Strand, auf dem kein Schilf wuchs, sondern nur die
gelben Schilfstoppeln vom Vorjahr standen.
»Hier sang das Schilf im
Vorjahr, als ich fleißig war und Fische malte. Jetzt ist der Strand faul und
tot, vom Winter verdammt, so wie man mich zur Faulheit verdammt hat.«
Plötzlich bückte sich der
Maler und hob eine unscheinbare Seemuschel auf, die blau irisierend und rot irisierend
mit weißer Innenschale und schwarzer Außenschale wie eine Blume hier zwischen
den leeren Kieselsteinen am Strand leuchtete. Oizo wendete die Muschel in der
Hand hin und her, schüttelte den Kopf, hielt die Hand an die Stirn und dachte
nach und meinte zu sich:
»Wo habe ich nur diesen
blauirisierenden Schein neben dem rotirisierenden Feuerschein hier in Katata
schon einmal gesehen? Ich weiß gewiß, daß es in Katata war, wo ich diese beiden
Farben unvergeßlich nebeneinander sah.«
Wie er noch dachte und seinem
Gedächtnis noch nicht auf den Grund kommen konnte, kam ein japanisches Mädchen
hügelabwärts zum Seewasser hin. Sie trug auf dem Kopf einen flachen Korb und
schüttete den Inhalt des Korbes, der wie Erde aussah, ungefähr zwanzig Schritte
von Oizo entfernt in den See.
»Was machst du da?« rief
der Maler ihr zu.
Das Mädchen sah sich nach
ihm um, streckte die Arme von sich, stieß einen Schreckenslaut aus, als ob sie
einen Geist oder einem Gott ins Gesicht sähe, hüllte ihr Gesicht in ihre Ärmel, kniete
am Seerand nieder und steckte ihren Kopf ins Wasser.
Oizo rief: »Haben denn die
Götter dir deinen Verstand genommen, weil du dich ertränken willst, Mädchen?«
Oizo sprang hin, und als er
näher kam, sah er, daß das Mädchen sich eifrig das Gesicht wusch, und er
erkannte an der einen Gesichtshälfte, die noch voll Ruß war, die Tochter des
Töpfers, Graswürzelein, die aus dem Brennofen ihres Vaters die Asche in einem
Korb an den See getragen hatte.
»Was machst du da?« fragte
Oizo noch einmal. »Ich hätte dich beinah nicht erkannt, Graswürzelein, weil du
zur Hälfte schwarz und zur Hälfte weiß bist.«
Graswürzelein prustete das
Wasser aus ihrer Nase, wusch sich die andere Gesichtshälfte rein, und während
sie sich mit dem Innenfutter ihres Ärmels Gesicht und Hände trocknete, fuhr sie
den Maler ärgerlich an:
»Ich wollte gar nicht, daß
du mich erkennen solltest. Als ich dich hier so plötzlich am Strand stehen sah,
nachdem ich die Ofenasche in den See geworfen hatte, und ich dir nicht
ausweichen konnte, wollte ich mir den Ruß vom Gesicht waschen, damit ich dir
unkenntlich bliebe. Denn du hast mich ja nur ein einziges Mal gewaschen
gesehen.«
Und wirklich, Oizo konnte
das weißgewaschene Mädchen kaum erkennen.
»Du sagst, ich hätte dich
einmal gewaschen gesehen? Ich habe dich immer nur schwarz gekannt.«
»Doch, doch«, nickte
Graswürzelein. »Erinnerst du dich nicht, Meister, da ich dir auf einer Tonvase
den Flug der Wildgänse von Katata beschrieb? Erinnerst du dich nicht? Es war im
Mondschein. Du saßt auf dem Altan und ich am Ofen im Hof.«
»Du warst rot und blau
beschienen«, sagte Oizo, »Wie die Muschel hier, die mondblau und feuerrot in
meiner Hand irisiert und leuchtet. Das ist das Bild, das ich hier malen will.
Ich will dein Gesicht malen, blau vom Mond und rot vom Feuer beleuchtet. Und
darum bin ich nach Katata gekommen.«
Graswürzelein lachte einen
Augenblick. Dann aber wurde sie sehr ernst.
»Nein«, sagte sie und
schüttelte den Kopf. »Du darfst nicht mehr in unser Haus kommen. Ich habe das
Feuer zu schlecht geschürt, solange du da warst, und ich habe meinem Vater zu
viele Tonvasen verbrannt.«
»Du hast noch einen Grund,
den du nicht sagst«, meinte Oizo. »Die Tonvasen will ich deinem Vater alle
bezahlen, während ich dich male. Rede und sage deinen Grund, warum ich nicht
mehr in dein Haus kommen soll?«
Graswürzeleins Wangen
erröteten, und sie hielt rasch ihre Hände an die Wangen, um die Wangenröte mit
den Händen zu verbergen.
Oizo sah staunend, wie
schön das Mädchen war, und hörte, wie ihre Stimme wisperte und rhythmisch sang,
während sie sprach, als ob das Schilf vom Vorjahr wieder um ihn sänge.
»Willst du nicht eine Bootfahrt
mit mir machen, Graswürzelein? Es kommt eine lauwarme Luft über den See, und
die Abende sind schon lang und hell. Ich glaube, die Wildgänse müssen bald
wiederkommen.«
»Ja, bei den Göttern, das
ist wahr«, seufzte das kleine Mädchen. »Die Wildgänse möchte ich dir auf dem
See zeigen, Meister.« Und ein Lachen blitzte in ihren Augen, so wie die nassen
schwarzen Seekiesel blitzten.
»Das ist die Luft der
Wildgänse heute abend. Du hast sie nie vom See aus kommen sehen, Meister?«
»Nein, ich sah den
Wildgänseflug nur vom Land, über Hügel und Baum.«
»Dann will ich ihn dir vom
See aus zeigen«, nickte das Mädchen eifrig; und ihr blasses Gesicht und ihre
zitternden Hände redeten schnelle Sätze, die sie nicht aussprach.
Sie kletterte vor Oizo ins
Boot, ergriff die Ruder und ruderte, ohne ein Wort mehr zu sprechen, lenkte das
Boot, ohne den Maler zu fragen, wohin er wolle. Oizo fühlte und verstand
natürlich an der Röte und Blässe des Mädchens, daß sie eine Herzenserregung
verbarg. Er blieb lautlos sitzen und horchte auf sein eigenes Herz, das ihm bis
an den Hals schlug. Denn das Mädchen wurde in seinen Augen immer schöner, und
er hätte es gern umarmt.
Der Biwasee lag wie Öl so
glatt, und auch die Luft war wie Öl. Als legte man zwei Spiegel aufeinander, so
lag der Spiegel des abendlichen Vorfrühlingshimmels auf dem Spiegel des Sees.
Graswürzelein legte
plötzlich die Ruder ins Boot und sagte: »Still! Sie kommen!« Und gleich darauf
wiederholte sie: »Still! Sie kommen!«
Oizo wunderte sich, warum
er denn still sein solle, da er nicht sprach. Er wußte nicht, daß seine Stimme
fortwährend in den Ohren des Mädchens summte und ihr Blut unausgesetzt mit ihm
redete.
Ihm selbst geschah jetzt
das gleiche. Er fuhr auf und sagte: »Still! Sie kommen!« Denn auch er hörte das
Mädchen in seinem Blut reden, – sie, die kein Wort sprach.
Dann war es, als wenn
Ruderkähne hoch in der Luft mit großen Ruderschlägen herbeiführen und als ob
Mühlen sich drehten mit unsichtbaren Rädern. Und Laute, die nicht Musik, nicht
Menschenstimmen und nicht Tierstimmen glichen, die aber feierliche Akkorde in die
Stille über den See schufen, klangen irgendwo im unermessenen Abendraum,
kreiselten, waren da, wurden im Abendgrau zu weißen fliegenden Erscheinungen,
bildeten dann eine Kette über den Köpfen des Mädchens und des Mannes, zogen ein
Spiegelbild im Wasser nach wie eine Reihe weißer winkender Tücher. Die weiße
Geisterkette beschrieb eine weiße Schleife am Himmel und eine weiße Schleife im
Wasserspiegel und verrauschte wie ein musikalischer Windton und hinterließ
Atemzüge von Befremdung, von Sehnsucht, als wäre die Luft mit unerfüllten
Wünschen noch lange nach dem Vorbeizug der Wildgänse von Katata angefüllt.
Es war jetzt so dunkel auf
dem See, als wäre die Dunkelheit wie ein zweites Wasser aus der Tiefe gestiegen
und stünde über den Köpfen der beiden Menschen im Kahn. Es war nur noch ein
Rest von der Tageshelle, klein wie ein durchsichtiges Ei, im Westen über dem
Strand.
Oizo konnte nicht
Graswürzeleins Gesicht sehen. Er tastete nach der Bank im Schiff, suchte ihre
Hände, die er streicheln wollte. Aber sie hatte ihre beiden Hände in die weiten
Ärmel ihres Kleides gewickelt, als hätte man ihr die Hände abgeschlagen.
»Gib mir deine Hände! Ich
will sie dir wärmen, wenn du frierst. Oder fürchtest du dich vor bösen
Seegeistern, daß sie dich an der Hand nehmen könnten? Hab keine Furcht,
Graswürzelein! Du bist zu schön. Alle Götter müssen dich beschützen. Auch die
bösen Götter werden gute Götter, wenn du sie ansiehst.«
»Was willst du von mir?«
sagte das Mädchen. »Habe ich dir nicht den Flug der Wildgänse über den See
gezeigt? Hast du nicht ihr Schriftzeichen lesen können, ihre Schrift aus Himmel
und Wasserlinie?«
»Die Liebeserklärung?«
fragte Oizo.
»Die Liebesabsage«,
flüsterte erregt und hastig die Tochter des Töpfers.
Und nun verstand Oizo: Der
Schriftzug hatte sich durch die Spiegelung, die im Seewasser dazu kam, in ein
anderes Schriftzeichen verwandelt; und wenn die Mädchen von Katata dieses einem
Liebhaber zeigten, so war er abgewiesen. Die Fluglinie der Wildgänse im Wasser
und am Himmel, vom See aus gesehen, bedeutete in Sprachzüge übersetzt:
»Ich liebe nicht, daß du
dich nach mir umwendest. Ich wende mich auch nicht nach dir um.«
Welch ein sonderbarer
Zufall, daß der Wildgänseflug sich doppelt deuten ließ, je nachdem die
Wasserspiegelungslinie sich einfügte oder nicht. Daß Graswürzelein ihn liebte
und ihn nur necken wollte, als sie ihm die Absage gab und ihn vielleicht zur
Annäherung reizen wollte, begriff Oizo sofort, denn die Luft um sie und ihn war
wunderbar geschwängert vom Verlangen und schweigender Zuneigung.
Ohne sich zu besinnen,
legte er seinen Arm um das kleine Weib und fand keine Abwehr. Graswürzelein
versteckte nur beschämt ihr Gesicht in des Malers Brustgewand.
Oizo erzählte ihr rasch:
»Du weißt nicht,
Graswürzelein, daß ich wie ein totes Holz draußen auf dem See seit Tagen
herumtreiben mußte, daß ich es endlich nicht aushalten konnte, da mir das Land
verboten war, weil ich vor der Liebeserklärung der Prinzessin fliehen mußte.
Aber jetzt, seit ich die Doppeldeutung des Fluges der Wildgänse weiß, kann ich
den Saal der Prinzessin fertig malen, wenn ich die Spiegellinie im Wasser
hinzufüge. Und niemand im Land wird mehr sagen können, daß die Prinzessin sich
lächerlich gemacht hätte, sondern daß sie sich unnahbar machen wollte, wie es
einer Prinzessin geziemt. Alle sollen dann im Saal das Schriftzeichen lesen:
Ich liebe nicht, daß du
dich nach mir umsiehst. Ich sehe mich auch nicht nach dir um.
Dann komme ich wieder und
baue in Katata mein Haus. Und du sollst nicht mehr den Ofen deines Vaters
schüren. Du sollst neben mir sitzen bei meinem eigenen Feuer. Und ich will dich
malen, immer wieder malen, in dem Kleid des Vorfrühlings, am Strand, im Haus,
im Mond, im Wasser, am Feuer. Und alle sollen sagen: das ist das glücklichste
Mädchen von Katata. Sie ist auf allen Bildern im Vorfrühling gemalt, zur warmen
Abendstunde, in der man den Flug der Wildgänse erwartet und verliebt sagt, auch
wenn niemand redet: Still! Sie kommen!«
Da wickelte Graswürzelein
ihre Hände aus den Ärmeln und umschlang Oizo.
oben
__________________________
Textgrundlage: "Der Wildgänge Flug in Katata nachschauen",
aus: Die acht Gesichter am
Biwasee, Japanische Liebesgeschichten,
Max Dauthendey Albert Langen, München
1932, 37. bis 40. Tausend,
Copyright 1911 by Albert Langen, Munich, Printed in
Germany
Digitale
Sammlung der Universität
zu Köln
Logo 530: Box
for Documents and Papers, ca. 1904, Akatsuka Jitoku,
gemeinfrei
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