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04.3
Geschichten-
Max Dauthendey
Die acht Gesichter am Biwasee
Von Ishiyama den Herbstmond aufgehen sehen
Unter den zehn Teehausmädchen
im Teehaus von Ishiyama war »Hasenauge« eines der unscheinbarsten. Sie war
nicht feurig, sie tanzte auch nicht sehr lebendig, sie schminkte sich
unordentlich und trug die vier Schleppen ihrer vier Seidenkleider nicht in der
richtigen Abstufung übereinander. Aber sie konnte Geschichten erzählen, kleine,
winzige Geschichten, die nur fünf Minuten dauerten, aber fünf Tage zum
Nachdenken gaben. Deshalb war sie in aller Unscheinbarkeit eine Kostbarkeit für
das Teehaus in Ishiyama.
»Hasenauge« kannte dreitausend
Geschichten allein über den aufgehenden Herbstmond, der, von Ishiyama gesehen,
als eines der herrlichsten Schauspiele über dem Biwasee gilt.
Ich will drei dieser nachdenklichen
Geschichten hier wiedererzählen, die alle den Herbstmond von Ishiyama teils als
Hauptperson, teils als Hintergrund haben.
Stellt euch vor, wir hätten
eben in einem der kleinen Gemächer, im ersten Stock des Teehauses, auf den
geglätteten Strohmatten des Fußbodens, auf dünnen, nur fingerdicken seidenen
Kissen an der Diele Platz genommen. Die Schiebefenster zum See sind weit offen.
Hinter dem roten Lackgeländer der kleinen Veranda liegt die Seeflut, wie ein
Wasser, das bis ans Ende der Welt reicht. Zu beiden Seiten der Fenster zischeln
Wassereschen. Ihre Blätter sind in der Abenddämmerung lang und schmal und
flirren wie Libellenschwärme vor dem perlmutterfarbigen Seeglanz.
Es liegen auch ein paar
Hügellinien hinter den Bäumen, die sind im Abend wie grünliche Glasglocken. Der
Himmel ist spinnwebgrau und scheint hinter einem Zipfel des Sees leicht zu
brennen, wie wenn man ein Streichholzflämmchen an einen Schleier hält. Die
Helle kommt vom aufgehenden Mond, den deine und viele Augen jetzt auf den
Altanen der Häuser von Ishiyama erwarten.
Vor dir auf der Diele stehen
offene Lackschachteln. In diesen sind gebackene Fische, Reis, Makaronen,
Wurzelgemüse und Geflügelstücke soeben heiß vor uns aufgetischt. Elfenbeinerne
Eßstäbe liegen, wie lange Damenhutnadeln, daneben; und »Hasenauge«, welche dir
Gesellschaft leisten soll, verpflichtet sich, dir eine ihrer Geschichten vom
aufgehenden Mond zu erzählen, ehe das Essen kalt ist, ehe sich der Essensdampf
verflüchtigt hat und ehe die große goldene Mondscheibe so hoch über den Seerand
gestiegen ist, daß sie die Seelinie losläßt. Dabei sollst du dazwischen von den
zwei Eßstäbchen, die sie ergreift, und aus der dünnen Porzellanschale, die sie
mit Reis und anderen Speisen füllt, von Hasenauge selbst wie ein Kind immer mit
ein paar Bissen gefüttert werden, und du bekommst aus einer Fingerhuttasse Tee
und aus einer Fingerhuttasse Reisschnaps oder aus einem europäischen Glas
japanisches Bier aus einer Flasche eingegossen, von bayerischen Brauern in
Tokio gebraut. Vom Fenster kommt die Abendluft und der Fischgeruch des Sees
herein, aber der parfümierte Puder von Hasenauges weißgetünchtem Gesicht ist
stärker als der Seegeruch.
Hasenauge erzählt:
Der König hatte einst in
Hakatate im Norden Japans einem Fischzug beigewohnt, bei dem man unter anderen
großen Fischen auch ein Meerweib fing. Aber nicht eines jener guten
Meerfräulein, die am Strand mit den Fröschen und Unken singen, sondern ein
Tiefseeweib, das noch nie an der Wasseroberfläche gewesen war, das nie Land,
nie Sonne, Mond und Wolken gesehen hatte.
Das gefangene Meerweib hatte
einen mächtigen Goldfischschweif statt der Füße, ihr Haar war schwarz wie
Schreibtusche und ihre Augen rot wie Kaninchenaugen. Es war dem König
geweissagt worden, daß er drei Nächte ein Weib lieben müßte, das weder Sonne
noch Mond gesehen hätte. Deshalb war er zum Fischzug mit seinen Leuten nach
Hakatate ausgezogen, hatte besonders große Netze auswerfen lassen, um ein
Meerweib der Tiefsee zu fangen. »Der König wird sein Reich verlieren, wenn er
ein solches Weib nicht drei Tage lieben will«, lautete eine alte Prophezeiung.
Aber damit, daß man das Weib
gefangen hatte, war nicht die größte Sorge vom König genommen. Jenes Weib, das
ihn mit den roten Augen scheinbar blind ansah, das mit dem roten Schweif um
sich schlug und ein paar Kähne des Königs zertrümmerte, jenes Weib, das nicht
sprechen, nicht lachen und nicht seufzen konnte, drei Tage zu lieben, – dies
war eine so heroische Aufgabe, daß sich alle, die um den König waren,
entsetzten.
Nur der König war ruhig,
stellte sich am Ufer vor die Weisen seines Landes hin und fragte:
»Wie weit reicht meine Macht?«
»Deine Macht, o Herr, reicht
über Himmel, Erde und Wasser.«
Ȇber alles, was darinnen
ist?« fragte der König.
»Über alles Männliche, was im
Himmel, auf der Erde und im Wasser ist«, sagten die Weisen. »Nur das Weibliche
läßt sich nicht regieren.«
»Gut, dann soll der Mond, der
dort aufgeht, untergehen«, rief der König. »Wenn ich allen gebieten kann, dann
soll der Mond nie mehr in meinem Reich erscheinen, ehe er mir geholfen hat,
dieses Fischweib hier in ein Menschenweib zu verwandeln.«
Der König ließ das Fischweib
binden und in sein Zelt legen, ließ Essen und Trinken in das Zelt stellen und
ließ die Zeltvorhänge fest hinter sich zuschließen, so daß es finster im Zelt
war wie in der Meerestiefe.
Die Weisen des Königs aber
setzten sich mit des Königs Mannschaften rings um das Zelt draußen und waren
sicher, daß der Mond nicht in dieser und in keiner Nacht mehr aufgehen werde.
Aber der Mond kam wie immer und teilte sanfte Schatten und gelben Feuerschimmer
über die Weisen und über das Zelt aus.
Der Mond kam auch in der
zweiten Nacht und in der dritten Nacht. Am Anfang der vierten Nacht rief der
König drinnen im Zelt, man solle die Zelttüren öffnen. Und der König trat
heraus, und neben ihm an seiner Hand ging ein gesittetes schönes Weib. Das
hatte Augen, so dunkel wie die mondleere Nacht, und hatte keinen Fischschweif,
sondern zierliche Füße und war frisiert und in seidene Schleppenkleider
gehüllt, wie es einer Königin geziemt.
Die Weisen waren erstaunt, daß
der König ohne Hilfe des Mondes das Seeweib in ein Menschenweib verwandelt
hatte. Denn während der Mond drei Nächte lang auf- und untergegangen war und
sich nicht um den Befehl des Königs gekümmert hatte, hatten die Weisen drei
Nächte lang für ihr Leben gezittert, weil sie des Königs Macht übertrieben
hatten und in dem König den Glauben an eine Allmacht erweckt hatten, die er
nicht besaß.
Jetzt aber waren die
königlichen Weisen zufrieden, übertrieben des Königs Macht noch mehr und sagten
zungenfertig:
»O König, Eure Macht ist noch
größer, als wir dachten. Ihr habt ohne Hilfe des Mondes das Meerweib in ein
Menschenweib verwandelt.«
Der König antwortete ihnen
nicht, führte das Weib zu seinem Boot und befahl, daß man die Segel lichte, um
von Hakatate heim nach Süden zur Königstadt zu ziehen und dort den Einzug der
Königin zu feiern.
Auf dem roten Lackaltan des
goldenen Boothauses saß die neue Königin schweigend neben dem König, sie, die
noch keine Sonne und keinen Mond hatte aufgehen sehen, sie, die von ihrem
Menschenleben nur die Liebesumarmungen des Königs kannte, sie, die drei Nächte
und drei Tage an des Königs Brust gelegen hatte und, von des Königs Wunsch und
Sehnsucht durchdrungen, aus einem Meerweib in ein Menschenweib verwandelt worden
war.
Ihre Haare hatten sich von
selbst geflochten, um dem König zu gefallen; in der Finsternis hatten sich
Kleider um sie gewebt, damit sie für den König geschmückt erscheine. Sie hatte
sich aus ihrem Fischleib Füße gebildet, um dem König folgen zu können, denn das
starke Herz des Königs hatte drei Nächte über ihr gelegen und hatte sechzigmal
in der Minute das Wort »Liebe« zu ihr gesagt.
Von der Liebe jetzt
verwandelt, sah die Königin noch nicht das schaukelnde Schiff und noch nicht
des Königs Gefolge und noch nicht sich selbst. Sie ahnte noch nichts von ihrer
Verwandlung und saß noch in liebestrunkenem Zustande unbewußt neben dem König.
Da tauchte, rot wie ein großer
Berg aus rotem Lack, die Mondkugel aus der Meerestiefe und zog im Wasser einen
feuerroten Widerglanz hinter sich her wie einen feuerroten Schweif.
Die Weisen des Königs, welche
unter dem Altanrand des Bootshauses in der Bootstiefe saßen, hätten sich längst
gerne bei der Königin eingeschmeichelt, fanden aber noch keine passende Anrede.
Jetzt aber warf sich einer der Weisen vor dem König nieder und rief:
»Seht, Herr, der Mond trägt
die Farbe der Scham, weil er zu schwach war, Euch zu helfen.«
Nun hob die Königin die Augen,
und der Mond warf seinen Schein wie eine Umarmung über sie. Und der König wurde
fast eifersüchtig, daß jemand im Weltraum wagte, sein Weib anzurühren, das er
sich selbst geschaffen hatte.
Aber ein anderer Weiser, der
den ersten überbieten wollte, warf sich vor der Königin nieder und rief:
»Seht, der Mond, o Königin,
hat, um Euch zu gefallen, den Fischleib angezogen, den Ihr abgelegt habt. Er
hat Euren roten Schweif und Eure roten Augen angenommen, die der König in die
Meerestiefe schickte.«
Da ging über der Königin
Gesicht ein zuckender Schreck; sie sah an sich herab und wußte nicht, wer sie
verwandelt hätte, und sie erkannte sich als Menschenweib und schauderte über
ihre Verwandlung.
Der König wurde über die Rede
des Weisen vor Zorn rot wie die Mondscheibe.
Da warf sich rasch ein dritter
Weiser vor ihm nieder, ihn und die verwirrte Königin zu beschwichtigen:
»Nein, hoher Herr, hohe
Herrin, das ist nicht der Mond, den Ihr dort aufgehen seht. Das ist des Königs
Herz, das nicht in des Königs Brust, sondern in des Königs Reich wohnt, des
Königs Nachtherz, das abends rot aus dem Meer steigt, und das nur Euch gehört,
o Königin. Aber der König hat auch ein Tagherz. Das werdet Ihr morgen früh
sehen, o Königin. Das gehört uns, uns Weisen, denn es ist hell wie die Weisheit
selbst und teilt Klarheit aus und nennt sich: die Sonne.«
Als dieser Weise so gesprochen
hatte, daß ihn keiner mehr überbieten konnte, zog er sich selbstzufrieden mit
den andern in die Bootstiefe zurück. Dort saßen sie in langer Reihe, jeder mit
dem Kopf auf der Schulter des andern, und schliefen ein.
Der König aber legte seine
Brust an die Brust der Königin, und während das Schiff mit gespannten Segeln
durch die Nacht strich, nach Süden, umarmte der König die Königin wie ein
brünstiger Adler.
Das Meer aber zischte und
raschelte, als wären die Wellen bis an den Weltrand des Königs Flügel und als
schlügen sie laut an den Himmel, während der König die Königin umschlungen
hielt.
Gegen Morgen wurde das Meer
still. Der König schlummerte ein, und seine Arme ließen im Schlaf die Königin
los. Diese richtete sich auf, als eben der Mond gelblich-grau vom Himmelsbogen
herabstieg und im Meer verschwinden wollte.
Da des Königs Augen
geschlossen waren und er schlief, erkannte ihn die Königin nicht mehr, denn sie
hatte nie einen schlafenden Menschen gesehen. Weil auch die Weisen unten im
Schiff sich nicht rührten und die Bootswachen lautlos unter dem Mast kauerten,
glaubte sich die Königin ganz allein und verlassen. Und sie sprach zum Monde,
der schon zur Hälfte im Meer versunken war, und den sie für des Königs Herz
hielt:
»O Nachtherz, das mir gehört,
ich will nicht des Königs zweites Herz erwarten, das den andern gehört. Ich
will bei dir bleiben und mit dir gehen, wohin du gehst.«
Die Königin stand auf, trat an
den Bootsrand und ließ sich ins Meer fallen und verschwand in der Flut.
oben
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Textgrundlage: "Von Ishiyama den Herbstmond aufgehen sehen",
aus: Die acht Gesichter am
Biwasee, Japanische Liebesgeschichten,
Max Dauthendey Albert Langen, München
1932, 37. bis 40. Tausend,
Copyright 1911 by Albert Langen, Munich, Printed in
Germany
Digitale
Sammlung der Universität
zu Köln
Logo 531: „Birds
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one of two six-panel screens by Kano Koi,
17 JH,
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