Geschichten-
Max Dauthendey
Die acht Gesichter am Biwasee
Quellenangabe
Ein japanischer Winter am Biwasee ist nicht so
kalt
und nicht so schneereich wie die meisten deutschen Winter, aber doch
liegt oft
fußhoch eine weiße Schneerinde am Seerand, auf den Hausdächern und in
den
Gabeln der Bäume. See und Himmel sind dann vom Winterdunst
eingewickelt. Der
See liegt wie ein dunkles Zelt im Nebelrauch, und wie weiße
Insektenschwärme
kommen die Schneeflocken an. Ihr kreiselnder Tanz im Wind ist im
Wintertag das
einzige Leben am See, dessen Spiegel blind ist, auf dem sich kein Segel
zeigt,
dessen Schilffelder abgemäht sind, und der einer Wüste aus grauem
Basalt
ähnelt.
Die Japaner tragen in
der weißen Jahreszeit drei bis
vier wattierte graue und bräunliche Seidenkleider übereinander. Sie
kennen
keine Öfen. Nur eine kleine Kohlenglut in einem Messingbecken wärmt die
hingehaltenen
Fingerspitzen. Aber die Japaner haben viel Eigenwärme in sich. Sie sind
gewöhnt
an den Verkehr mit offener Luft in luftreichen, leichten
Bambusholzhäuschen,
hinter dünnen Papierwänden und Papierscheiben, gekleidet in den drei
anderen
Jahreszeiten in luftige Seiden und Kreppstoffe und eingehüllt in das
bequeme
Schlafrockkostüm, das den Gliedern Spielraum zu Eigenbewegung läßt. So
sind sie
ein gesundes warmblütiges Volk geblieben. Die Seele der Japaner ist
ebenso
warmblütig wie ihre reinlichen, gutgelüfteten und leeren Papierzimmer.
Keine
Möbelstücke sind in ihren Zimmern, der saubere Strohmattenboden des
Gemaches
muß alle Möbel ersetzen. Er stellt Tisch, Stuhl, Sofa und Sessel dar,
ist
handdick, aus dünnstem, feinstem Rohrmattengeflecht, ist nachgiebig,
leicht
elastisch, und du darfst ihn nur mit Strümpfen, nie mit Schuhen
betreten. In
diesen leeren Gemächern, deren Wände leicht getönte Bambusstrohfarbe,
mehlweißes Papier oder gelbliche Naturhölzer zeigen, hebt sich das
Menschenantlitz ab wie ein Porträt auf ungestörtem Hintergrund; und die
Gesten
der Menschen, in diesen leeren Gemächern, werden in den kleinsten
Bewegungen
wichtig und bleiben deiner Erinnerung eingeprägt, wie die Schriftzüge
auf
weißem Papier.
Als farbiger natürlicher
Zimmerschmuck stehen in den
offenen Schiebetüren die Ausblicke auf die maigrünen, sommergelben,
herbstbraunen und winterblauen Landschaftsbilder, der Flug
vorüberziehender
Vögel, wandernde Wolken und Menschen. Unwillkürlich befürworten die
leeren,
farblosen Gemächer die Liebe zur farbigen Außenwelt. Die Welt, die
immer im
Türrahmen erscheint, wenn eine Schiebetür sich öffnet, wirkt im leeren
Zimmer
doppelt lebhaft als Landschaft oder als Mensch, der zu Besuch kommt;
jeder
Mensch wird zum lebenden Bild, wenn er sich zu dir auf die Leere der
Diele
zwischen die leeren Wände setzt. Man kann sich leicht denken, daß sich
dann
alle Landschaftsreize steigern und den Hausbewohnern so wichtig werden
wie
einer europäischen Hausfrau die Möbelstücke.
In den leeren Gemächern
von Seta am Biwasee
ist das Abendrot vor den Türen zu Seta eine Berühmtheit geworden,
und das
Abendrot von Seta gesehen haben, ist wie Bienenhonig dem Ärmsten und
verspricht
dir noch nach langen Jahren einen sanften Tod. –
In Seta lebte die Frau
eines verarmten Adligen. Ihr
Mann war im Krieg gegen die Europäer gefallen, ebenso ihre zwei Söhne.
Diese
Frau reiste öfters im Sommer oder im Frühling zur Kirschblütenzeit nach
Kioto
oder nach dem Wallfahrtsort Nara oder nach den heiligen Tempeln von
Nikko, um
dort im Gebet, in den Tempeln, an heiligen Orten ihrem Mann und ihren
zwei
Söhnen näher zu sein.
In Kioto, im Tempel der
fünftausend Kriegsgenien,
stehen in den zehn langen Reihen je fünfhundert aufrechte goldene
Götter. Jeder
Gott hat zwanzig bis dreißig Arme, schwingt Speere und Schwerter; und
man sagt:
sollte Kioto einmal von Feinden angegriffen werden und in höchster Not
sein,
dann ziehen die fünftausend Götter aus der langen hölzernen Tempelhalle
aus und
werden die alte Kaiserstadt verteidigen.
In diesen Tempel ging
die verwitwete Frau am liebsten,
denn dort traf sie im Gebet ihren Mann. Wenn sie vor den fünftausend
Götterbildern niederkniete, sprach er in ihr Ohr wie ein Lebender.
Die feuerrote düstere
und fensterlose Lackhalle,
darinnen die fünftausend goldenen Götter nur von den riesigen offenen
Türen
beleuchtet wurden, gab der Witwe ein aufregend wohliges Gefühl. Wenn
sie über
die hunderttausend goldenen Speere und Schwertspitzen schaute, glaubte
sie ein
Kriegsgetümmel vor sich zu sehen. Von den zehn Reihen der Götter steht
immer
eine Reihe höher hinter der andern, so daß man sich vor einem Berg
von
Lanzen, Schwertspitzen, goldenen Armen und goldenen Heiligenscheinen
befindet,
als strömten dir goldene Götterscharen bergab entgegen.
Als die Frau eines Tages
wieder im Gebetstaumel die
Halle verließ, sah sie draußen auf dem Bretterweg, der an der hundert
Fuß
langen Halle entlangführt, einen Mann stehen, der sich, wie das die
Japaner
öfters tun, hier im Bogenschießen übte. Der Mann glich auffallend ihrem
toten
Gatten. Am einen Ende des Bretterwegs stand der Schütze mit dem
altmodischen,
mannsgroßen Bogen, am andern Ende des Bretterwegs war die weiße Scheibe
angebracht, und an der ganzen Tempellänge entlang surrte der Pfeil des
Schießenden.
Trotzdem jetzt allgemein das Gewehr in Japan eingeführt ist, üben sich
einige
Japaner noch zum Vergnügen im Bogenschießen, und besonders ist der
Bretterweg
am Tempel der fünftausend Kriegsgenien ein beliebter Übungsplatz in
Kioto.
Die Frau zitterte vor
Erregung, als sie den Schützen
sah, der das getreue Abbild ihres gestorbenen Mannes war. Ihr Auge
hatte einen
unwiderstehlichen, leidenschaftlichen Ausdruck, und ihr ganzer kleiner
Körper
wurde wie ein Stück Magneteisen und zog den Mann nach sich, den sie
anschaute.
Sie blickte den Schützen
an, trat rückwärts wieder in
die Tempelhalle zurück und ging an der untersten Reihe der Genien
entlang,
genau wissend, daß der Schütze Bogen und Pfeile wegstellen und ihr
nachfolgen
müßte. Sie kam in das dunkle Ende der Halle, wo Holztreppen ähnlich
Leitern,
verstaubt, uralt und düster, zu einer dunkeln Holzgalerie führen, die
sich hoch
unter dem Dach des
Tempels über den fünftausend Genien hinzieht. Der Mann, der ihr gefolgt
war,
kam leise die dunkle Stiege herauf. Sie kauerte auf der obersten Stufe
nieder
und wollte ihn an sich vorübergehen lassen.
«Deine Augen können
surren wie Pfeile», sagte der Mann
und blieb neben ihr stehen.
«Du siehst meinem
verstorbenen Mann ähnlich», sagte
die Frau. «Deswegen habe ich dich angesehen.»
Der Mann atmete schwer.
Er senkte den Nacken und
flüsterte rasch:
«Wenn dich dein Mann so
gern umarmt hat, wie ich dich
jetzt hier umarmen möchte . . . »
Er sprach den Satz nicht
fertig, faßte die Frau flink,
wie ein Affe eine Äffin, und die harte Tempeldiele wurde ihr
Liebeslager.
Danach sagte die Frau
leise:
«Was haben wir getan?
Wir sind im Tempel der
fünftausend Genien!»
«Wollust schändet keinen
Tempel», antwortete der Mann.
«Fünftausendmal will ich dich hier umarmen. Fünftausendmal wollen wir
uns hier
treffen.»
Die Frau schauderte vor
Glück. In die geheimnisvolle
Tempelluft und Tempeldunkelheit schienen außer den fünftausend
Kriegsgöttern
fünftausend Liebesgötter eingedrungen zu sein. Und sie sagte zu dem
Mann:
«Wir wollen nicht
wissen, wie wir heißen, wir wollen
nicht wissen, wo wir wohnen. Wir wollen nicht verabreden, wann wir uns
treffen.
Wir wollen es den fünftausend Genien überlassen, daß sie unsere Wege
zusammenführen. Und immer, wenn wir uns zusammenfinden, wollen wir
nichts
besprechen und nichts fragen und
uns nur umarmen, wie wir uns hier umarmt haben.
Ich will nicht wissen,
ob du ein wirklicher Mensch
bist, oder nur eine Erscheinung, ähnlich meinem Mann. Ich will dich
genießen
wie die Abendröte, die jetzt über die Türschwelle dort tritt, und die
wirklich
und unwirklich ist zugleich.»
Die beiden hielten ihre
Verabredung. Die Frau änderte
nicht ihre Reisen und ihre Wallfahrten nach den andern Wallfahrtsorten.
Und
nachdem sie monatelang in Kioto täglich zu den verschiedensten Stunden
den
Tempel der fünftausend Genien besucht und täglich den Schützen dort
getroffen,
umarmt und geliebt hatte, reiste sie nach dem Wallfahrtsort Nara, ohne
ihrem
Geliebten bei ihrer Abreise ein Wort zu sagen.
In Nara war es
Hochsommer. Die Wiese vor dem großen
Zedernwald, darauf die feuerrote sechseckige Pagode steht, war
umwimmelt von
weißen, blauen und gelben Schmetterlingen. Im Wald bei den rotbraunen
senkrechten Zedernstämmen stehen, dichtgedrängt wie Grabdenkmäler in
einem
Kirchhof, Steinlaternen in Gruppen und Gassen und begleiten alle
Waldwege,
dichtgedrängt wie versteinerte Völker. Schwarzbronzene Hirsche, von
Künstlern
als Statuen gegossen, ruhen auf Steinsockeln. Aber auch Hunderte von
lebenden
Rehen und Hirschen gehen in großen Rudeln zahm auf allen Wegen, zahmer
als
Hühner in einem Hühnerhof.
Als jene Frau mit dem
Bahnzug nach Nara kam, stand ein
großes Gewitter über dem Wald. Aber sie fürchtete sich nicht, nahm am
Bahnhof
einen Rikschawagen, fuhr bis zum Eingang des Waldes und schickte den
Wagen
zurück.
Hier in Nara betete die
Frau meist zu ihrem ältesten
Sohn und kniete viele Stunden in der Halle des großen Daibutsu, welches
eines
der riesenhaftesten Buddhabilder Japans ist.
In einem roten mächtigen
Holzbalkenhaus sitzt der
haushohe Buddha, alt und schwerfällig geschnitzt, bräunlich vergoldet
auf einer
ungeheuern Lotosblume. Sein runder Kopf reicht bis unter das Dach des
Tempels.
Drei haushohe Flügeltüren stehen offen. Aber das Licht von den Wiesen
draußen
kann den mächtigen Kopf, der bis in die Dämmerung des Dachstuhles
reicht, kaum
erhellen.
Die Frau war in den
Tempel getreten, kniete auf den
Strohmatten nieder und vertiefte sich in ein stilles Gespräch mit ihrem
verstorbenen ältesten Sohn. Da rollte der ferne Donner und war wie die
näherkommende Stimme eines Gottes über ihr. Die schwüle Gewitterluft
machte die
große, dunkle Tempelholzhalle noch dumpfer, und der Geruch des
Räucherwerkes
und der Geruch der alten sonnengewärmten Holzbalken wurden der knienden
Frau
wie eine Last, als ob sich der schwere mächtige Buddha über sie böge.
Und sie
mußte an den Mann denken, der sie Tag für Tag in Kioto im Tempel der
fünftausend Genien umarmt hatte.
Der Regen prasselte
jetzt draußen auf das Tempeldach
und auf die ungeheure Holzgalerie vor dem Tempel. Ein Blitz flog
herein, und
der große goldene Buddha erschien für den tausendsten Teil einer
Sekunde hell
bis unter das Dach.
«Ist es wahr, Gott»,
dachte die Frau, «daß die Wollust
den Tempel nicht schändet, so laß den Mann aus Kioto eintreten und
mich in
Nara hier bei dir wiederfinden.»
Über die Holzgalerien
draußen kamen jetzt Hunderte von
Schritten, Schritte über die Wiesenwege, Menschenstimmen aus den
Wäldern,
Männer, Frauen und Kinder, lachend und kreischend, die, vor dem
Gewitter
flüchtend, in die Halle des großen Daibutsubildes eindrangen.
Die kniende Frau wollte
wieder zu ihrem Sohn beten.
Aber der Lärm des Regens, der vielen humpelnden Füße von Wallfahrern
und der
Menschenstimmen zerstreute sie, so daß sie unter die Gruppen der Leute
an eine
der offenen Türen trat und dem Sturzregen zusah, der die Landschaft in
einen
weißen Nebel hüllte.
Blitz um Blitz blendete
sie, daß sie sich von der Türe
weg gegen die Gesichter der Menschen wenden mußte, von denen einzelne
Gruppen,
weiß im finstern Tempel, bei jedem Blitz aufleuchteten.
Neben einer kleinen Frau
und umgeben von einer Schar
von Kindern, entdeckte sie plötzlich einen Mann, der ihrem Sohn, zu dem
sie
eben gebetet hatte, ähnlich sah. So müßte ihr Sohn jetzt aussehen, so
seine
Frau und seine Kinder, wenn er jetzt lebte und glücklich wäre.
Bei dem zweiten Blitz
aber erschrak sie. Es war nicht
mehr das Gesicht ihres Sohnes. Es war jener Mann aus Kioto mit seiner
Familie,
die hier vor dem Gewitter in den Tempel geflüchtet waren. Bei dem
dritten und
vierten Blitz erkannte sie ihn deutlich und sah weg.
Sie schlug rasch ihren
kleinen Fächer auf, versteckte
ihr Gesicht dahinter, drängte sich aus dem Tempel hinaus und eilte
mitten in
den prasselnden Regen den Hügelweg hinunter in die graue, dampfende
Sommerlandschaft. Weit weg stellte sie sich unter einen
Zedernbaum,
versteckt hinter einer Steinlaterne. Ihr Haar war vom Regen aufgelöst,
ihr
Fächer aufgeweicht. Sie hatte ihre Schmucknadeln aus dem Haar verloren,
ihr
seidenes Festkleid klebte an ihr wie eine Fischhaut. Sie weinte und
weinte. Sie
hatte doch nicht wissen wollen, ob der geliebte Mann verheiratet wäre,
ob er
eine Familie hätte. Sie hatte diesen Geliebten zu einem Gott, zu einer
Erscheinung machen wollen, zu einer wollüstig gruseligen Tempelvision.
Sie
hätte sich gern blind geweint, um das Bild aus ihren Augen auszulöschen
und den
Schützen aus dem Tempel der fünftausend Genien nicht als Gatten und
Familienvater sehen zu müssen.
Der Platzregen ließ
nach, und die Spitze der roten
sechseckigen Pagode, über den noch regendampfenden Wiesen, schien im
Abendrot
Feuer zu fangen. Das Abendrot ging durch die Wiesendämpfe, färbte die
Zedernstämme rot, die Scharen der grauen, moosigen Steinlaternen braun
wie
Kupfer.
Das Abendrot beruhigte
die Frau und gab ihr wieder den
Glauben an inbrünstige Ungeheuerlichkeiten. Sie lächelte und fühlte
sich rot
durchtränkt von dem abenteuerlichen Licht und sagte ganz einfach:
«Die Blitze haben
gelogen. Der Mann im Daibutsutempel
eben war nicht der Mann aus dem Tempel der fünftausend Genien, den ich
wie die
Abendröte mit Inbrunst liebe. Er kann nicht zugleich hier und in Kioto
sein, wo
ich ihn gestern verließ, ohne ihm etwas von meiner Reise nach Nara zu
sagen.»
Aber sie getraute sich doch nicht, noch einmal zum Daibutsutempel
zurückzugehen; und sich zu überzeugen, fehlte ihr der Mut.
Die Frau warf ihren
zerknitterten Fächer fort, strich
ihre Frisur glatt, schob ihren Gürtel zurecht und machte sich gesittet
auf den
Heimweg zum Bahnhof von Nara.
Sie reiste durch Kioto,
ohne den Tempel der
fünftausend Genien aufzusuchen, und ging nach Seta in ihr Haus zurück,
tagsüber
gepeinigt von dem Gedanken, daß der Mann, den sie in Kioto liebte, Frau
und
Kinder hätte. Sie wurde nur am Abend erlöst von dem fantastischen
Abendrot, das
sich über Seta in den wunderbarsten Blutlinienwellen hinzieht, so daß
alles
Unwahrscheinliche wahrscheinlich wird, so daß die Bäume blutrot wie
Korallenwälder werden und die Hügel wie die Brüste und Körperlinien
hingelagerter Männer und Frauen, als sei die Erde hier am Abend zu
Menschenfleisch und Menschenblut geworden und kenne nichts als
umarmende
Wollust und Liebe. Die untergehende Sonne am Himmel ist dann in ihrer
Röte nur
wie eine kleine Kerze in einem roten Gemach, in dem sich zwei umarmt
halten, wo
das Licht keinen Sinn hat und keinen Wert, weil die zwei, von
Leidenschaft
entbrannt, sich mit geschlossenen Augen ohne Licht sehen.