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04.3
Geschichten-
Max Dauthendey
Die acht Gesichter am Biwasee
Quellenangabe
Das Abendrot zu Seta - Seite 2
Im Abendrot wurde der Biwasee rotgoldig glitzernd und
wie von fünftausend goldenen Lanzenspitzen und goldenen Heiligenscheinen
bewegt. Die Diele und die Wände im Hause jener Frau wurden düsterrot, als wären
sie die uralten, düsterroten Balken des Genientempels in Kioto, als wäre in dem
Hause der Frau irgendwo die geheimnisvolle, rote Balkentreppe, wo sie in der
roten Tempeldunkelheit, auf der obersten Stufe, hinter dem hohen Geländer, Tag
für Tag den Mann treffen könnte, der sie wie das Feuer der Abendröte schnell
umarmte und nach der Umarmung wie die Abendröte in das Unbekannte wieder
versänke.
In den kältesten Wintertagen konnten die Bewohner von
Seta jene Frau zur Spätnachmittagstunde an dem geöffneten Fenster sehen, das
auf das flüchtige Winterabendrot hinaussah, – die Frau, die einen kleinen
Fächer schwang, als wäre es ihr heiß im Abendrot, trotzdem der Schnee auf dem
Geländer des Altans lag und auf den Dächern der Holzhäuser von Seta.
Auch wenn die Abendsonne im Winternebel keine Kraft
zum Röten des Himmels hatte und nur wie ein kleiner Tropfen roter Kirschsaft
das weiße Laken des Himmels betupfte, saß die Frau zwischen den
zurückgeschobenen Papierwänden ihres Teezimmers und fächelte sich, als müßte
sie das Abendrot mit jedem Fächerschlag anschüren.
Der Frühling kam, und die Frau fürchtete sich immer
noch vor einer Begegnung mit dem geliebten Mann und vor einer Enttäuschung. Sie
beschloß eine große Reise zu den Tempeln von Nikko zu machen, im Norden Japans,
um dort zu ihrem zweiten Sohn zu beten.
Die kurzweilige Bahnfahrt dorthin zerstreute sie, und
sie lachte sich unterwegs wegen aller ihrer Zweifel aus und war schon, ehe sie
nach Nikko kam, ganz im klaren, daß der Mann in Nara niemals der Mann von Kioto
sein könnte, daß sie sich einfach in der Ähnlichkeit getäuscht hätte. Und sie
nahm sich vor, so bald sie von ihrer Wallfahrt nach Nikko wieder zurückkäme,
wollte sie den Tempel der fünftausend Genien wieder aufsuchen und versuchen,
den Schützen zu treffen, der ihr versprochen hatte, sie fünftausendmal zu
umarmen.
Das Rasseln der Eisenbahnräder, das Vorüberfliegen
großer Plakatfiguren: gemalter Männer und Frauen, die an den Bahngeleisen
amerikanische Fahrräder, deutsches Bier, englische Grammophone anpriesen, das
eilige Leben in den eisernen Bahnhofhallen, alle die vorüberhastenden Eindrücke
gaben der entmutigten Frau neuen Wirklichkeitsmut, und sie begann sich
innerlich zu verspotten und bedauerte den langen Winter, der damit vergangen
war, daß sie sich nur vom Abendrot in Seta, aber nicht von ihrem Geliebten
hatte umarmen lassen.
Die schieferblaue Bergwelt von Nikko mit einer
Silbersonne über den silbernen Kiesbächen, mit blausteinigen Schluchten, deren
Ränder von schwarzen zerzausten Kryptomerien umstanden sind, tauchte auf. Das
liebliche Japan war verschwunden, und ein heroisches Japan lag hier, mit nasser
Felsenschlucht, mit senkrechten weißen Wasserfällen unter einer Sonne, die
einem weißen Metallspiegel glich. Wie kupferrote Wimpel hing das rotblättrige
Frühlingslaub der Ahornbäume über den Gebirgswegen. Hie und da blühten auch ein
paar rosige wilde Kirschbäume und an der Sonnenseite der Abhänge ganze Wälder
von rosigen Kamelienbäumen.
Das Bergwasser der Nikkoschlucht aber glitzerte, als
wäre es die eherne Kette eines Rosenkranzes, daran Tausende von Gebeten gebetet
werden.
Die Frau suchte die Tempel auf, die auf grünen,
dunkeln Waldterrassen mit blaubronzenen Dächern und rotem Gebälk wie verwunschene
Waldschlösser unter bärtigen, tausendjährigen Kryptomerienbäumen liegen.
Viele Tempelwände sind mit kopfgroßen
Chrysanthemumblumen aus erhabener Perlmutterarbeit geschmückt und leuchten
in sieben Regenbogenfarben. Auf andern Wänden sind aus goldenem Lack in Relief
erhabene goldene Löwen und goldene Tiger in springenden Stellungen gearbeitet.
Auf andern aus rotem Lack rote Fasanen, aus grünem und blauem Perlmutter
Pfauen, aus Elfenbein weiße Kaninchen und weiße Rehe und ganze Elfenbeinwände
voll von weißen und bläulichen Päonien, umgeben von Schmetterlingsscharen aus
Perlmutter.
Diese kostbaren Tempelwände unter grünen Waldbäumen,
unter blau und weißem Wolkenhimmel und umwandert von gelbem Sonnenschein,
scheinen mit ihrem irisierenden Perlmutter eine lebende Welt von immerblühenden
hochzeitlichen Blumen und eine unvergängliche Welt von sich tummelnden wilden
und zahmen Tieren zu sein.
Die Frau kam auf die erste Terrasse, wo die drei
berühmten Affen auf einem Tempeltor dargestellt sind, geschnitzt und bemalt.
Der erste Affe hält sich die Augen zu, der zweite Affe die Ohren, der dritte
Affe hält sich den Mund zu. Und ihre Bedeutung ist: Du sollst nichts Böses
sehen, du sollst nichts Böses hören, du sollst nichts Böses reden.
«Wie leicht ist das getan für den, der geliebt wird,
und wie schwer für den, der an der Liebe zweifeln muß», dachte die Frau und
ging an den drei Affen vorüber. Und sie kam zu dem schönsten aller Tempeltore.
Dessen weiße Säulen sind mit erhabenen Schnitzereien, mit Bäumen, Schilf, Kranichen,
Drachen und Wolken geschmückt. An den Friesen der Säulen entlang wandern
Scharen von winzigen kleinen Göttern. Dieses Tor ist so
vollkommen gearbeitet, daß es, als es fertig war, den Neid der Götter
erweckt hätte, wenn man nicht an einer der Säulen absichtlich einen
ungeschickten Fehler angebracht hätte, um die neidischen Götter zu versöhnen.
«So vollkommen wie dieses Tor wäre die Liebe zweier
Menschen auf Erden, und die Götter würden die Menschen beneiden müssen, wenn
sich nicht glücklich Liebende immer einen künstlichen Liebeszweifel erfänden»,
dachte die Frau und ging durch das kostbare Tor in den Tempelhof der zweiten
Terrasse.
Hier ist zur rechten Hand über einer Tempeltür von
einem Maler eine lebensgroße weiße Katze gemalt. Die scheint zu schlafen und
schläft schon Jahrhunderte. Aber wer sie lange ansieht und sich einen
Herzenswunsch dabei denkt, dem kann es, wenn sein Wunsch in Erfüllung gehen
darf, begegnen, daß die schlafende Katze ihre Augen öffnet und ihn anblinzelt.
«O, ihr Götter», wünschte die Frau, die Katze über dem
Tor betrachtend, «laßt eure Tempelkatze die Augen öffnen und mich ansehen, wenn
mein Geliebter in Kioto und jener Mann, den ich in Nara sah, zwei verschiedene
Männer sind.»
Die Frau starrte die schlafende Katze an, aber die
gemalte Katze hielt die Augen geschlossen und blinzelte nicht.
«Ist es möglich, daß ich recht gehabt haben sollte?
Die beiden Männer sind einer und derselbe gewesen! Und mein Geliebter hat eine
Familie und macht eine andere Frau außer mir glücklich? O, weiße Katze, schlage
doch die Augen auf und sage damit Nein! O, ich will dich ansehen, bis ich blind
werde!»
Die Katze hielt die Augen geschlossen, und die Frau
verzweifelte, und ihr Herz schmerzte, als würde es ihr ausgerenkt.
«Gut, o Götter, wenn ihr diesen Wunsch nicht erfüllt»,
sprach sie plötzlich entschlossen, «dann laßt mich dem Mann noch einmal
begegnen, um mich zu überzeugen; und zweifle ich dann nicht mehr, daß es
derselbe ist, dann laßt mich blind werden mein Leben lang. Schlafende Katze,
öffne jetzt deine Augen und sage Ja!»
Die Frau zitterte und hielt sich mit den Fingerspitzen
an einer roten Lackwand des Tempelhofes. Die großen Kryptomerienbäume über den
Tempeldächern bewegten sich schaukelnd für ein paar Sekunden und warfen Licht-
und Schattennetze über die Tempeldächer, über die Lackwände und über die
gemalte weiße Katze. Und im Licht- und Schattenspiel schien sich die weiße
Katze zu bewegen, sie blinzelte und zeigte für eine hundertstel Sekunde ihre
senkrechten Pupillen.
«Sie hat mich angesehen», seufzte die Frau, und
klapperte humpelnd auf ihren Holzschuhen, demütig mit gesenktem Kopf, als wäre
sie um viele Jahre gealtert, durch die schmale Vorkammer in den Seitentempel.
Da drinnen war ein langes Gemach, und hinter langen
Glaswänden lagen in seidenen Futteralen die Schwerter verstorbener japanischer
Helden und Könige, ihre Rüstungen und ihre Helme aus Lack, Kork und Holz
geschnitzt und mit Bronze beschlagen. Auch große Bogen und Köcher mit Pfeilen
standen da.
Die Frau blieb unwillkürlich vor einem großen
schwarzen Bogen stehen und legte ihre warme Stirn an die kühle Glasscheibe des
Glasschrankes. Es war ganz menschenleer hier, nur vorher hie und da waren
ihr Pilger begegnet auf den Treppen und den Terrassen der Tempel – Männer und
Frauen aus allen Teilen Japans, welche Nikko besuchen.
Wie sie jetzt an der Glasscheibe lehnt, sieht sie in
dem spiegelnden Glas durch dieselbe Tür, durch die sie in die lange Kammer
eingetreten ist, einen Mann kommen, der eine weißhaarige, gebeugte alte Frau
begleitet. Die kleine Alte stützt sich auf einen Stock und auf den Arm des
Mannes und sagt zu ihm: «Mein Sohn.»
Die Frau wendete ihren Kopf betroffen von der
Glasscheibe und warf nur einen Blick über ihre Schulter. Dann sah sie rasch
wieder in den Glasschrank zurück, als wollte sie ihr Gesicht im Glas verbergen.
Sie hielt den Atem an und ließ den Mann und die alte Frau an ihrem Rücken
vorübergehen.
Die Götter hatten ihr ihren Wunsch erfüllt! Sie hatte
ihren Geliebten noch einmal gesehen, und sie wußte nun auch, daß er eine Mutter
hatte wie andere Menschen, und daß er ein Menschensohn war, daß er nicht bloß
Vater und Gatte war, so wie sie ihn in Nara gesehen hatte, daß er auch
Kindespflichten kannte, seine alte Mutter an seinem Arm stützte, und daß er ihr
nun nie mehr der Gott der Abendröte sein könnte, der Gott des Unbekannten, des
Abenteuerlichen, der Gott der Inbrunst ohne Pflichten und ohne Schranken.
Und nun wollte sie blind werden und nicht mehr in der
Gegenwart und Wirklichkeit leben, sondern im Dunkeln sitzen, wie ein Herz in
der Brust, ohne Licht, nur vom dunkeln Blut umgeben.
Gealtert und bekümmert kehrte die Frau von ihrer Wallfahrt
nach Seta an den Biwasee zurück, ohne den Tempel der fünftausend Genien in
Kioto zu besuchen, wie sie sich vorgenommen hatte.
Ein brennender, feuriger Sonnensommer verwandelte den
Biwasee täglich in eine weißglühende Masse. Zwischen dem flammigen Spiegel des
Sees und dem flammigen Spiegel des Sonnenhimmels saß die Frau auf dem Altan
ihres Hauses oder in einem schaukelnden Boot und ließ sich die tausend
funkelnden Sonnenscheiben, die sich in den Wellen brachen, wie tausend
Brenngläser in ihre Augen stechen. Wenn sie vor Schmerzen die Augen schloß, saß
sie in einer feuerrot durchflammten Dunkelheit, als wäre sie mitten im Abendrot
von Seta, als wäre sie die rote untergehende Sonne selbst.
Sie wurde blind, wie sie gewollt hatte. Aber auch
erblindet sahen sie die Leute von Seta Sommer und Winter, Abend für Abend, mit
dem Fächer auf dem Altan sitzen, zu der Stunde, wo das Abendrot in Seta die
irdischen Landschaften zu roten Götterlandschaften verwandeln kann und die
irdischen gesetzmäßigen Menschengesichter in berauschte unirdische
Göttergesichter.
An einem Winternachmittag, als der Nebel des Sees so
dick lag, daß die Sonne schon am Mittag im Winterrauch wie eine papierne
Scheibe blaß verschwand und ein Hauch von Abendröte erschien, saß die Blinde
wieder mit begeistertem Ausdruck auf dem Altan und beschrieb der Dienerin, die
ihr den Tee brachte, daß sie rote Wolken sähe, rot wie das Tempelgebälk eines
Kiototempels, und daß fünftausend goldene Genien mit hunderttausend goldenen
Armen über die roten Wolken geschritten kämen, und daß ein Bogenschütze an der
Spitze der Fünftausend ginge. Er winke ihr auf der obersten Stufe einer
roten Treppe.
«So schön wie heute sah ich das Abendrot von Seta noch
nie», sagte die Blinde und lehnte den Kopf an das Altangeländer, von dem der
kalte Schnee abbröckelte. Ihre kleine Teetasse klirrte. Sie setzte sie mit
zitternden Fingern auf den Boden. Sie fächelte sich noch mit dem Fächer, indes
ihr Gesicht die Helle des Schnees annahm. Dann starb sie lächelnd.
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