Geschichten-
Max Dauthendey
Die acht Gesichter am Biwasee
Den Abendschnee am
Hirayama sehen
An
großen Masten ragen ein Dutzend weiße elektrische
Bogenlampen in die Nacht. Sie beleuchten einen Landungskai im Hafen von
Marseille. Wie ein langer weißer Kreideblock liegt dort ein weißer
eiserner
Orientdampfer mit Hunderten von runden, gelbleuchtenden
Kabinenfenstern. Rot,
gelb und weiß beschienene Gesichter und viele beleuchtete Hände und
Arme
hantieren in der Nacht auf der Plankenbrücke und um die klirrenden
Ketten der
Verladungskähne, wo Haufen von Koffern, Reisekörben und Reisekisten
verstaut
werden.
Durch
die langen, schneeweißen Korridore drinnen im
Dampfer eilen schneeweiß gekleidete Inder mit schwarzen Gesichtern und
schwarzen Händen, aus prächtigen Küchen, in denen üppiges Kupfer
leuchtet, in
die prächtigen Speisesäle, die von rotem Mahagoniholz und blanken
Messingsäulen, von Prunk und Gediegenheit strotzen, darinnen alles
seltsam
stille steht, indessen die bittere, bewegliche Seeluft durch die
glühlampenhellen Räume und durch die Korridortüren wie ein unruhiges
Fluidum
streicht. Diese Seeluft, die in dem Schiffspalast, auch wenn er am Kai
still
steht, immer noch allen Räumen quecksilberhafte Ungeduld gibt, wie der
Saft
einer Pflanze, die man vom Wald ins Zimmer geholt hat. Ein ruhiges
Schiff ist
kein stillstehender Gegenstand, denn die Wanderluft, die auch im Hafen
noch um
seine Räume streicht, läßt es nicht schlafend und nicht tot
erscheinen.
Die Offiziere, Matrosen und Bedienungsmannschaften behalten auf dem
ruhigen
Schiff immer noch das bittere Fieber der Seeluft in der Brust, und
allen erscheint
Ruhe als ein Unglück und Wandern als das alleinige Glück.
Das
Schiff legt nachts in Marseille an und soll morgen
um neun Uhr früh seine Weiterfahrt nach Asien und Japan antreten. Die
meisten
Passagiere haben für ein paar Nachtstunden das Schiff, das schon aus
London
kommt, zu einem kurzen Aufenthalt in Marseille verlassen, um wieder
einmal
Abendbrot an Land zu essen, denn das Schiff ist schon seit mehreren
Tagen
unterwegs und hat seit London keinen Hafen angelaufen.
Jetzt
neigt sich die Nacht ihrem Ende zu. Die
elektrischen Lampen brennen noch, aber der Himmel wird schon blau, und
Scharen
von lachenden und etwas kindisch heiteren Passagieren kehren aus den
Nachttheatern und Nachtcafés der Stadt zurück. Junge Leute haben rote
und blaue
Kinderluftballons an ihre Hüte gebunden. Damen haben sich Arme voll
Blumen
gekauft, Winterveilchen von der Riviera; und alle Gesichter sehen
belustigt
aus, als kehrten diese Menschen von einem Volksfest heim. Alle haben
sie nur
für ein paar Stunden mit ihren Füßen die Erde besucht, die schöne,
ruhige,
stillstehende Erde mit ihrem irdischen Staubgeruch, und die hat die
Passagiere
im Herzen so überschwenglich und warm gestimmt.
Jetzt
müssen alle wieder auf die schwankenden
Schiffsbretter, zurück auf das buckelige Meer, in die staublose,
unirdische
Seeluft, in der ihnen die Sonne noch treu bleibt, wo aber die Erde
meilentief
in das Wasser sinkt.
Ein
blauer, lauer Januarmorgen brach an. Die Lampen am
Kai und im Schiffsinnern verloschen. Dafür zündete die Morgensonne
tausend
Lampen in den tausend Wellenspiegeln an, und die Messinggeländer des
schneeweißen Schiffes, seine roten Schornsteine und zinnoberroten
Ventilatoren
leuchteten wie die künstliche Kulissenwelt eines Theaters, aufgebaut
unter dem
indigoblauen Mittelmeerhimmel.
Am
Kai standen Verkäufer von Bergen von hölzernen
Segeltuchstühlen, die sie an die Passagiere für die weite Seereise nach
Asien
verkauften. An der Abfahrtshalle vor der Telegraphenoffice drängten
sich die
Reisenden, schrieben auf umgestülpten Koffern, Tonnen und Kisten
Telegramme, –
die letzten Abschiedsgrüße aus dem letzten europäischen Hafen nach den
Heimatorten.
An
den langen Geländern des Promenadendecks standen
Kopf bei Kopf, Ellenbogen bei Ellenbogen. Viele kleine Kodaks knipsten
und
fingen das Hafenbild.
Auf
der nassen Kaimauer vor der Reihe der Packträger
und Verlader hatte ein Athlet einen braunen Teppichfetzen ausgebreitet.
An dem
einen Ende des Teppichs tanzte in gelbem Trikot und rosa Tüllröckchen
seine
zehnjährige Tochter und klapperte mit Kastagnetten, armselig und
ungeschickt.
Auf
der andern Ecke des Teppichs stand der Sohn des
Athleten in blauem Trikot und spielte auf einer dünnen Violine. Auf der
dritten
Ecke lagen Gewichtsteine und Kugeln, und auf der vierten Ecke des
Teppichs
stand der Athlet selbst in schmutzig weißem Trikot und stemmte die
Gewichtkugeln, Kanonenrohre und eisernen Wagenräder.
Die
Schiffssirene hat bereits mehrmals ihre gellenden
Abfahrtssignale gegeben. Der Athlet, die kleine Tänzerin und der kleine
Geiger
rauften sich mit den Packträgern um die Kupfersousstücke, die wie ein
brauner
Hagel vom Schiff auf den Kai regneten. Scharen englischer Clerks, die
nach
Indien reisen wollten und rote, whiskytrunkene Gesichter aus dem
Nachtleben von
Marseille mitgebracht hatten, brüllten im Chor hundert «Cheers for Old
England».
Dann
bewegte sich wie eine Drehbühne das mächtige
Schiff vom Ufer weg. Die sich balgenden Leute am Ufer, die
Landungshallen
verkleinerten sich, als schrumpften sie in irgendeine Tasche hinein.
Erdbilder,
Felsenufer, weiße Kalksteingebirge, graue Dächerreihen drehten sich wie
Bilder,
gemalt auf einen Riesenkreisel, vorüber. Das Schiff schien still zu
stehen,
aber die Erde wurde zu einer ungeheuren Kugel, die sich unter dem
Schiff
drehte.
Allmählich
liefen die Bilder immer kleiner, ferner und
farbloser wie Nebelwische vorüber, und nun nahm der gewaltige Rausch
der
Seeluft das Schiff in sich auf, und das Ungeheuer, der endlose Himmel,
machte
die lauten Passagiere still, löste nicht nur die Erde unter den Füßen,
sondern
nahm auch den Gedanken jede Festigkeit und Sicherheit, machte das Blut
argwöhnisch, die Füße schwankend, die Gehirne ohnmächtig.
Hunderte
von Deckstühlen wurden an die Geländer
gebunden, daß sie nicht von dem Seegang hin und her rutschten. Unter
riesigen
Reisekappen, in ungeheure Reisemäntel und in vielfarbige und karierte
Schals
gewickelt, lagen die Passagiere, ausgestreckt in endlosen Reihen, auf
dem
weißen Promenadendeck. Die weißgetünchten Eisenwände, die
sachlichen
Eisengeländer, die alle gerade und senkrechte Linien zeigten, flößten
Sicherheit, aber auch Nüchternheit ein, als wäre das Schiff ein
riesiger,
physikalischer Apparat in einem Laboratorium, als wären die Menschen
Präparate,
die da künstlich aufbewahrt würden, bis zur Landung an einem andern
Kontinent.
Unter
den Schiffspassagieren, die da in Reih und Glied
in Liegestühlen auf den langen Decks lagen, als wären die
Deckpromenaden
Lazarette, fielen zwei Japaner auf, die von zwei deutschen Damen, einer
jungen
rotblonden und einer alten weißhaarigen, begleitet waren. Es waren die
beiden
Schauspieler Kutsuma und Okuro, die mit der Sada-Yakko-Truppe eine
Europa-Tournee unternommen hatten und jetzt, getrennt von der Truppe,
nach Japan
zurückkehrten.
Okuro
hatte sich eben erst mit einer deutschen Dame
verheiratet, und diese, welche immer mit ihrer Großmutter
zusammengelebt hatte,
wollte sich auch nicht in der Ehe von ihr trennen. Darum begleitete die
achtzigjährige weißhaarige Alte das junge Ehepaar nach Japan.
Die
beiden Japaner waren europäisch gekleidet; nur
ihre gelben Gesichter und ihre kleinen Figuren fielen unter den langen,
rosahäutigen Engländern auf.
Ilse,
Okuros junge und schöne Frau, hatte
Goldglanzhaare, goldrot, wie der rote Metallglanz der Goldfische.
Sie
trug ein smaragdgrünes Reisekleid und war unter
allen den braunen, grauen und schwarzkarierten Engländerinnen und
Engländern
wie ein Sonnenprisma. Ihre gute Laune gab ihrem Wesen die Fülle eines
freigebigen Sommers.
Die
Großmutter neben ihr mit dem weißen Haar,
das wie ein alter Silberschmuck den Kopf umgab, lachte ebenso wie
ihre
Enkelin immer mit blauen Augen, und ihr Gesicht war wie ein sonniger
Wintertag,
frisch und lautlos.
Nie
sind zwei Menschen fröhlicher und sorgloser in die
Zukunft gereist als diese beiden Damen. Okuro hatte sich ein Vermögen
durch
seine Tournee verdient. Ilse wußte nicht, was sie mehr an ihrem Mann
schätzen
sollte: die ausgesuchte Fürsorge, mit der er sie umgab, die große
Anspruchslosigkeit, mit der er auftrat, oder die große Leichtigkeit,
mit der er
alle Schwierigkeiten lächelnd aufnahm.
Nur
eines machte ihr Unruhe: sie verstand allmählich,
daß ein Asiate nicht ist: wie fünf und fünf ist zehn, sondern daß bei
ihm fünf
und fünf einmal Tausend und einmal Null sein kann. Sie ahnte, daß sie
noch
nicht den hundertsten Teil von dem Gehirn ihres Mannes kannte, und
manchmal
merkte sie, daß seine kleinen asiatischen Augen, die eben noch
rosinensüß und
lächelnd ausgesehen hatten, plötzlich schwarz und bitter wie
Gallapfelsaft
werden, oder sogar tödlich, vernichtend wirken konnten wie schwarze,
funkelnde
Tollkirschen.
Aber
gerade, daß sie seiner nicht sicher war, daß sie
seine Weltallruhe und sein göttliches Aufgehen im Verstehen des
Kleinsten
bewundern und dann wieder plötzlich erschrecken mußte vor tierischen
Kehllauten, die er ausstoßen konnte, und die bestialische
Leidenschaftlichkeiten vermuten ließen, – dieses machte Ilses Seele
sanft wie
ein Kaninchen, das man mit einer Klapperschlange zusammengesperrt hat.
Und sie
war ihm in die Ehe gefolgt, weil sie sich nach einer Welt von
Abenteuern
sehnte, nach exotischen Geheimnissen.
Als
der rauchende und erhitzte Dampfer zwischen dem
blauen Äther des Mittelmeerhimmels und dem gasblauen Wasser des
Mittelmeeres
sich jetzt von Europa trennte, um Afrika und Asien zu erreichen,
erschien Ilse
das weiße, blendende Schiffsgerüst in der Bläue ringsum wie der weiße
Silberkörper eines Riesenfisches, der viele Meilen in die Bläue
untergetaucht
wäre und unter den Meeren mit ihr fortschwämme. Nur das gelbe Stück
Sonne oben
war wie ein Stück Land, das in die Bläue herabschiene. Und sie hoffte,
so
verzaubernd wie das Meer, so von Grund aus sollte sich jetzt ihr Leben
in der
Zukunft verändern, daß alle Begriffe sich umstülpten.
Aber
als in der zweiten Nacht die elektrischen
Kailampen von Messina, das damals noch nicht untergegangen war, in
langer Reihe
vorüberzogen, nahm Ilse ihrem Mann Okuro, der neben ihr im Deckstuhl
saß und in
der Dunkelheit nur am roten Punkt seiner Zigarette ihr erkenntlich war,
die
Zigarette aus dem Mund, warf sie über Bord und sagte, schmollend in
ihrer
Flitterwochenstimmung:
«Geliebter,
wie kannst du rauchen und dich mit deiner
Zigarette lautlos unterhalten?
Ich
bin eifersüchtig auf deine Zigarette und deine
Ruhe bei ihr. Ich bin noch keine so alte, ruhige Frau wie meine
Großmutter,
welche einschläft, wenn du stundenlang schweigend rauchst. Ich möchte
lieber,
daß du mich erwürgst, ins Meer wirfst, oder irgend etwas Böses mit mir
tust,
aber ich mag nicht, daß du so ruhig und gleichgültig neben mir rauchst.
Wir
kennen uns noch nicht auswendig. Nur ist das, als wärest du mir untreu,
wenn du
die Zigarette mehr liebst als mich.»
Darauf
antwortete der junge asiatische Ehemann:
«Wenn
ich Diener brauche, die dich und mich bedienen,
so bin ich deshalb nicht ein schwacher Mann, der sich nicht selbst
bedienen
könnte. Wenn ich eine Zigarette brauche, die mir Ruhe gibt, so habe ich
deshalb
dich nicht aus meinem Herzen verstoßen, denn dich brauche ich natürlich
erst
recht zu meiner Ruhe. Die Zigarette allein würde mich nicht genügend
mit Ruhe
bedienen.»
Ilse
fuhr schnell und heftig auf:
«Wenn
du vielleicht statt der Zigarette eines Tages
eine andere Frau brauchst, die dich mit Ruhe bedienen müßte, dann
dürfte ich
auch nicht unruhig werden, Okuro?»
Dieser
lächelte und sagte noch ruhiger:
«In
Japan liebt ein Mann seine Frau immer, so lange er
sie nicht fortschickt. Und Frauen fragen bei uns nicht nach den Wegen,
die ein
Mann gehen muß, und die ihn zum Manne machen.»
Ilse
wurde noch heftiger:
«Du
darfst also viele Frauen lieben, wenn es dich zum
Manne macht? Und ich soll keinen Schmerz empfinden, wenn du deine
Nächte mit
anderen Frauen teilst und deine Umarmungen, deinen Leib und dein Herz
anderen
Frauen gibst, wo ich doch dachte, daß der Tag der Hochzeit dich mir
ganz und
gar geschenkt hätte?»
«Nicht ich bin dein,
sondern du bist mein geworden», antwortete ruhig
der
Japaner.
«Ich bin ich geblieben
und bin nur
durch dich mehr geworden. Aber du bist seit dem Tag unserer Hochzeit
nach
unseren asiatischen Begriffen verschwunden und bist nicht mehr.»
«Ich
bin also schon», lachte Ilse, «an dem Tag
unserer Hochzeit ins Nirwana eingegangen und gehöre jetzt zu den
Toten?»
«Ja,
Ilse, größtes Glück ist Nirwana. Und die Frau,
die sich nicht um das wirkliche Leben zu kümmern braucht, um
Geldverdienen und
Staatsgeschäfte, kann deshalb schon am Tag ihrer Hochzeit ins Nirwana
eingehen,
der Mann erst am Tage seines Todes.»
«Aber
ich will gar nicht im Nirwana sein, wenn du
nicht darin bist», rief die junge Frau eigensinnig. «Und so lange du im
gewöhnlichen Leben bist, will ich auch eine gewöhnliche Lebende sein.»
Okuro
sagte ruhig: «Die Götter haben euch Frauen keine
Knochen gegeben, um im gewöhnlichen Leben so fest zu stehen wie der
Mann.»
Dieses
war das erste von hundert ähnlichen Gesprächen,
welche Ilse und Okuro, in ihren Deckstühlen liegend oder um die
Schiffsschornsteine promenierend, morgens, mittags und abends führten.
Seit
Europa verschwunden war und das nach Asien schweifende Meer vor ihnen
lag,
bauten sich die Gedankenwelten der beiden Neuvermählten in der Leere
des Meeres
wie die Ufer von zwei einander gegenüberliegenden Ländern voreinander
auf.
Nie
hatten die beiden in den lebendigen Alltagstunden
des zerstückelten Tageslebens von Berlin, wo sie sich kennen gelernt
hatten,
Muße gefunden, mehr voneinander zu sehen als nur leichte Beleuchtungen,
unterhaltende Augenblicksbilder ihres Herzens.
Jetzt aber, unter der unendlichen Weite, auf
der Reise
über die halbe Erdkugel, die vor ihnen lag, unter der Riesenruhe des
körperlosen Himmels und des unbegrenzten Wassers und in der Ruhe der
unendlichen Einförmigkeit des kasernenhaften Schiffslebens,
wuchsen die
Betrachtungen der beiden wie meilenlange Seeschlangen, die unterirdisch
dem
Schiff folgten und hie und da in großen Wellenlinien an die Oberfläche
kämen.