Geschichten-
Max Dauthendey
Die acht Gesichter am Biwasee
Quellenangabe
Den
Abendschnee am
Hirayama sehen
Seite 2
Bei dem ersten Gespräch von dieser Art, das bei
Nacht
in der Meeresenge von Messina geführt wurde, sahen sich die beiden
nicht. Ihre
Deckstühle standen im Schatten von großen Rettungsbooten, und es war zu
der
späten Stunde, da die Deckbeleuchtung der gelben Glühbirnen halb
gelöscht ist.
Es fehlte diesem Gespräch das Echo der Gesichtsmienen und Bewegungen,
und da es
als erstes Gespräch nicht zu Ende geführt wurde, und da sie danach nur
immer
ihre Stimmen im Ohr und nicht ihre Gesichter gesehen hatten, so blieb
dieses
Gespräch wie ein ewig dunkler verborgener Keim, der auf dem beweglichen
Schiff
und auf der Bodenlosigkeit der Meerestiefe keine Wurzel fassen und
nicht ausgerissen
werden konnte, sondern mit ihnen schwamm und anwuchs wie ein
millionenfingriges
Seegewächs.
Als Ilse und Okuro die erste Landstation, die
lange,
weiße Molenmauer von Port Said, unter dem grünlichblauen Afrikahimmel
sahen, da
hingen die Gespräche über die verschiedene Denk- und Empfindungsweise
der
beiden wie der Schaum des Fahrwassers hinter ihrem Schiff.
Ihre Gedankenwelt schrumpfte aber sofort ein und
verflüchtigte sich zu einer angenehmen Gedankenlosigkeit, als die
beiden mit
Kutsuma und der Großmutter für ein paar Stunden in den langen
Bazarstraßen von
Port Said unter Ägyptern, Arabern, Abessiniern in den Straßencafés
saßen und
den Millionärstöchtern der Amerikaner zusahen, die, mit den üppigsten
Pelzen
bekleidet, hier in dem nächtlich kühlen Ägypten landeten und den
kleinen
Port Saider Bahnhof belagerten, um den Schnellzug nach Kairo und in das
Wüstenland nach Heluan zu besteigen.
Sowie sich Ilse von schwarzhäutigen Afrikanegern
in
langen weißen und blauen Leinwandhemdkleidern umgeben sah, von
schwarzen
Schultern und Gesichtern, die wie eine Schar lebendiggewordener
riesiger
Kaffeebohnen hier am Kai durcheinanderliefen, fühlte sie sich magdhaft,
fraulich und sehnte sich schutzsuchend neben ihrer Großmutter nach
ihrem Mann.
Wenn sie sich dann umsah und hinter ihr Okuro und Kutsuma gingen,
fühlte sie
keine Sicherheit, keine Ruhe, denn die zierlichen gelbhäutigen Japaner
waren
hier in Afrika noch weniger zu Hause als in Europa; und Okuros gelbe
Gesichtsfarbe erschien ihr lächerlich und leichenhaft neben der schönen
Pulverfarbe der Afrikaner.
Hier am Land waren es jetzt nicht nur die
Gedanken der
Europäerin, die gegen die Gedanken des Asiaten Wortgefechte führten. Es
war
noch schlimmer: es war der Körper selbst, der dem Herzen abtrünnig zu
werden
schien.
Als sie am Abend zum Schiff zurückkehren mußten,
ging
die junge Frau früher als sonst zu Bett. Sie schloß ihre Augen
hartnäckig und
stellte sich schlafend, als Okuro ihr Haar streichelte und ihr ein paar
zärtliche Worte zuflüsterte.
Ilse hütete sich wohl, der Großmutter am nächsten
Tag
von ihren wankenden Gedanken und Gefühlen zu erzählen. Auf dem Weg über
das
Mittelmeer nach Afrika hatte sie geglaubt, es sei der schwankende
Schiffsboden,
der sie selbstquälerisch und heimatlos stimme, und auf dem sie
sich
behaupten müsse. Aber der Spaziergang in Port Said hatte sie noch mehr
erschreckt, und sie konnte sich nicht der Überlegung erwehren, ob sie
von jetzt
an schweigen und asiatisch dulden oder sich auflehnen und europäisch
behaupten
müßte.
Trotzdem lachte sie äußerlich. Ihr rotgoldenes
Haar
strahlte schon allein ein reiches sommerliches Lächeln; Ilse war im
Grunde viel
zu genußsüchtig, als daß sie unter Gedanken lange hätte leiden mögen,
und es
schien, als ließe sie ihr rotes Haar immer gern wie zu einem täglichen
Lebensfest leuchten.
Die Deckbevölkerung hatte sich vermehrt und
verändert.
Reiche indische Kaufleute in europäischer Kleidung, aber mit sehr viel
Ringen
und goldenen Uhrketten geschmückt, standen wie die Schatten der weißen
Leute
auf den langen Schiffspromenaden herum, hatten die Augen von guten
Waldtieren
oder von eiteln Tropenvögeln. Die schmalen Messingstiegen, die vom
Promenadendeck der ersten Klasse in das tiefere Zwischendeck
hinunterführten,
waren drunten belagert wie von einer Maskerade. Mekkapilger mit
smaragdgrünen
Turbanen, buddhistische Mönche in senfgelben Mänteln, türkische
Hausierer in
dunkelblauen und violetten Kaftanen, nackte Fakire, in dicke Stricke
und
Muschelketten gekleidet, indische Handwerker in weißen Schleierhosen,
roten
Sammetwesten und goldgestickten Kappen und die braune indische
Schiffsbemannung
des englischen Dampfers in blauen Hosen und roten Schärpengürteln mit
tigerartig geschmeidigen nackten Oberkörpern, und die alle barfuß wie
die Tiere
auf dem Feld durcheinanderliefen, vervollständigten das Papageienbild
des
Zwischendecks.
Das Schiff wanderte und wanderte, beladen und
belastet
mit den hundert verschiedenen Ideenwelten von hundert verschiedenen
Rassen. Es
hatte die lange Sandwüstengasse des Suezkanals passiert, wo der Sand
auf Meilen
wie gelber Goldstaub lag, und wo weiße Salzlakenmoore gleich weißen
Eisflächen
glänzen. Auf die Öde und den Stillstand dieses Landes folgte die
höllische
Glutbrunst des Roten Meeres, wo das Meer nicht rot vor Korallen ist,
sondern
rot wird von der Hitze, mit der es deine Augen brennt, wo die Sonne wie
ein
Feuereimer das Tageslicht gleich rotem, flüssigem Metall ausgießt, wo
violette
Steingebirge in Nubien dastehen und gegenüber in Arabien solche, die
silbernen
Aschenhaufen gleichen, wo der Berg Sinai als Silhouette am Himmel vor
Hitze
zittert.
Die Arbeit der indischen Matrosen auf dem Schiff
besteht jetzt den ganzen Tag darin, die Segeldächer über den langen
Schiffspromenaden über den in Reihen hingestreckten und vor Hitze
aufgelösten
Passagieren zuzuziehen und je nach dem Stand der Sonne anders zu
stellen. Mit
Strohhüten und weißen Sommerkleidern liegen Herren und Damen wie am
Rand einer
Strandpromenade, vor Hitze aufgedunsen, als wäre das Blut von der Hitze
in den
Menschenkörpern zu Rotwein geworden, als wären die Reisenden vom
Alkohol
betäubt und blau gedunsen, – so liegen die Scharen der Reisenden wie in
einer
betrunkenen Schlafwelt auf der dreitägigen Fahrt durch das Rote Meer.
In den Schiffssälen bewegen sich an der Decke
lange
weiße Leinwandfächer, die gleich den Stoffen eines Bühnenhimmels quer
durch die
Räume gezogen sind und sich wie ein weißer Wellengang über die
Köpfe der
Speisenden bewegen, aber keine Kühlung geben und nur die brühwarme
Meeresluft
von einem Gesicht zum andern schicken.
Das große geheizte Schiff wandert und wandert.
Die
Fernrohre entdecken täglich wieder Afrika auf der einen Seite, Arabien
auf der
andern. Das glühende Schiff schleppt am Tage die Sonne wie einen
Riesenballast
mit. Am Abend scheint der Himmel zur Wüste ausgetrocknet zu sein und
wird
goldgelb wie Wüstensand. Dann stehen über Afrika lange schilfgrüne
Wolken,
gleich spukhaften Erscheinungen unwirklicher grüner Felder. Jetzt nach
Sonnenuntergang werden die Segeldächer gerafft. Die Reisenden, die vor
Hitze
nicht hatten sprechen können, und jeder Mund, der geglaubt hatte, es
würden ihm
Flammen aus der Lunge fahren, beginnen den Abend zu bewundern, der aber
immer
noch heißer bleibt als ein europäischer Julitag.
In diesen Hitzetagen, die alle Hirngespinste
wegbrannten, war Ilse nicht Europäerin, nicht werdende Asiatin, sie war
wie der
Klumpen Sonne selbst, der oben über dem Schiffsmast hing und mit dem
Schiff
weiterzog. Sie brauchte keine Nachsicht zu üben, sie brauchte keine
Behauptungen, um sich sicher zu stellen. Es war, als impfe die Sonne
mit ihrer
Glut Liebe ein. Und jeder Menschenkörper war heißes Metall geworden und
begriff
kaum mehr die Unterschiede von Tag und Nacht, von Jugend und Alter, von
Zeit
und Vergänglichkeit, von Gegenwart und Zukunft.
Die Hitze, die alles verschmolz, brachte in den
Tagen
des Roten Meeres Ilse und Okuro so eng und sinnlich zusammen wie
nie
vorher, wie nicht einmal die erste Hochzeitsnacht. Wenn sie auch den
Tag in der
Reihe der Hunderte von Deckstühlen Seite an Seite, wie in einem
Lazarett
aufgebahrt liegend, zubrachten, so war es, als schliefen sie in der
Hitze einen
gemeinsamen Schlaf. Die Hitze legte ihren Arm sicher um beide. Ohne daß
sie
ihre Arme ausstreckten und sich berührten, ohne daß ihre Lippen sich
fanden,
lagen sie mit dem Gefühl großer Innigkeit und Friedlichkeit unter der
langen
Reihe von Reisenden wie allein in ihrem eigenen Schlafzimmer und eng
vereinigt.
Niemals fiel es Ilse und Okuro ein, nach
Sonnenuntergang, wenn sie vom Tagesschlaf erwachten, sich andere Dinge
als
Herzlichkeiten zu sagen. Ilse lehnte in ihrem langen weißen Abendkleid
am
Schiffsgeländer, Okuro neben ihr im schwarzen Abendanzug. Er sagte ihr,
ihr
Hals sei schmal wie der afrikanische junge Mond. Und sie sagte, daß sie
seine Hände
so liebe, die nie einen Ring trügen, die Knöchel hätten, fein und stark
wie die
kräftigen Federposen elastischer Vogelflügel. Und sie sahen beide den
in weißen
elektrischen Kreisen leuchtenden Meertierchen zu, die gleich
metallischen
Kinderkreiseln auf den Wellen entlang tanzten.
Dann erschien das Spiegelbild des Mondes unten im
Wasser; das bergauf und bergab wogende Schiff, das Champagnerzischen
der
Kielwellen und das Geknister des elektrischen Wassers voll tagheller
Schaumwolken stellte den beiden, je länger sie sich über das Geländer
lehnten,
die Welt auf den Kopf. Und sie fanden sich beide erst wieder in dem
krausen
Weltallgetriebe und in dem spiegelfechtenden Meeresnachtleben auf ihren
zwei
Füßen zurecht, wenn sie, versteckt hinter einem Rettungsboot oder
hinter
einer Kabinentür, die Arme umeinander legten und, Wange an Wange, ihr
Blut
aneinander pochen ließen.
Dann rückte am vierten Tag am Ende des Roten
Meeres
ein mächtiger, dunkelbrauner, ausgedörrter Berg heran, zu seinen Füßen
lange,
rote Kasernendächer: die Festung Aden. Dieser Berg war wie der Pfosten
der Tür
in den Indischen Ozean; und im grüngelben Abendhimmel blieb das Meer
zurück,
und die Boote mit nackten schmalen Somalinegern, die das Dampfschiff
draußen
vor Aden wie eine Affenherde umwimmelt hatten, blieben zurück, und
zurück
blieben die Länder, wo der Halbmond regierte, und die graue arabische
Felsenküste, auf der weiße Minaretts am Nachmittag gleich weißen
Fahnenstangen
gestanden hatten, und dahinter man sich das Land voll Harems und Frauen
träumte. Alles das ging im Westen in dem friedlich ölgelben Himmel
unter, und
auf der straffgespannten Meeresfläche im Osten lag vor Ilse und Okuro
das noch
unsichtbare, aber sich stündlich nähernde Indische Reich, an dem sie
jetzt
vorbeiziehen sollten.
Mit der Weite des Indischen Ozeans kam auch
wieder die
Weite der Gedanken über Ilse und Okuro. Die Hitze, die mit ihren
Flammen im
Roten Meer alle Menschenkörper zu ihren Medien gemacht hatte, verlor an
Kraft,
und die Menschen wurden wieder selbständig und dachten wieder ihren
eigenen
Gedanken nach.
Eines Abends saß Ilses Großmutter allein am Ende
des
Promenadendecks. Große Sternbilder der fremden Südzone stiegen aus der
Meerestiefe auf und wanderten über die Masten des Schiffes fort.
In der Nähe der Dame saß nur Kutsuma und las. Das
Schiff war wie eine große indische Trommel, daran die Meereswellen ihre
Märsche
trommelten, und sein Gang war immer ein Wechsel von Begeisterung, wenn
es sich
in die Sterne hob, von Enttäuschung, wenn es wieder in die Leere sank.
«Wie viele Gedanken mögen an den Sternen hängen»,
dachte die alte Dame. «Wie viele Tausende von Seereisenden haben nachts
mit
offenen Augen hier unter den Sternen auf wandernden Schiffen gesessen.
Jeder
Stern ist wie eine eingepuppte Seidenraupe, von der man Gedanken wie
Seidenfäden abspinnt.»
«Sehen Sie, Herr Kutsuma», sagte die alte Dame,
«Sie
sagen immer, mein Haar sei so weiß wie der Abendschnee auf dem Hirayama
am
Biwasee in Ihrer Heimat Japan. Und so wahr mein Haar nie mehr dunkel
wird, so
wahr glaube ich, daß Ilse für ihr Herz keinen besseren Mann finden
konnte als
Okuro. Aber damit ist nicht gesagt, daß Okuro in Japan nicht eine
bessere Frau
als Ilse finden und ohne Ilse sehr glücklich werden könnte.»
Kutsuma hatte eine Landkarte auf seinem Schoß,
sah auf
und sagte:
«Ich bewundere immer, wie großartig die Europäer
die
Welt einteilen können, die Länder in flache Figuren, die Erdkugel in
Breitengrade und Längengrade; in alles Irdische bringen die Europäer
Zahlen und
Ordnung. Aber sie erfinden kein System für ihre Gefühle, wollen kein
System
anerkennen für das kleine, kurze Menschenleben, das doch aus nichts
anderem
besteht als aus Jugend, Reife und Alter, das also Grenzen hat und
nicht als
etwas Unbegrenztes, Unordentliches angesehen werden kann.»
«Aber, mein Herr», unterbrach die weißhaarige
Dame
ungeduldig Kutsuma, «Gefühle lassen sich doch nicht in Systeme bringen.
Gefühle
sind doch das Unbegrenzte am Leben! Liebesgefühl kann Unordnung und
Ordnung
zugleich geben: Liebesgefühl ist eine Hasardnummer, man setzt auf Rouge
oder
Noir. Aber es gibt kein sicheres System, in dem man beim Liebesgefühl
in
Ordnung mit sich selbst kommen könnte. Wer liebt, wünscht glücklich zu
machen,
aber das Leben muß erst beweisen, ob er einen Gewinn oder eine Niete
gezogen
hat.»
«Wo Liebe ist, ist ewiges Glück», sagte der
Asiate.
«Wo ein Wechsel eintreten kann, war die Liebe nicht vollständig. Ihr
Europäer
wünscht, daß der Mann sein Leben lang die Frau bediene und sie höher
halte als
sich selbst. Wir Asiaten verlangen von der Frau, daß sie den Mann
bediene und
sich ihm unterordne. Und wir finden: dieses bringt Ordnung in die Liebe
zwischen Mann und Frau.»
«Sehr weise gesprochen», sagte die alte Dame.
«Aber
lassen Sie jetzt auch den Abendschnee auf dem Hirayama zu Ihnen
sprechen; das
heißt: vertrauen Sie den Gedanken, die unter meinen weißen Haaren
entstanden.
Das Kostbare an der Liebe ist, daß sie ein ewiges
Abenteuer bleibt, und daß weder die Sicherheit der madonnenhaften
Unterordnung
einer asiatischen Frau, noch die olympische Selbstherrlichkeit einer
europäischen Liebe in ein System bringen kann. Die Liebe wird immer
etwas
verschwenderisch sein, immer ein Zuviel in das Blut der Menschen
bringen, das
Zuviel, das die Endlichkeit des seligen Augenblickes in eine
Unendlichkeit des
Genusses verwandeln kann. Wo das Zuviel zwischen zwei Menschen
fehlt, die
sich vorstellen, daß sie sich liebten, wird die Liebe immer nur ein
erbärmlicher chemischer Prozeß bleiben, der Kinder hervorbringt und
sich ruhig
in ein System fassen läßt.»
Der Asiate schwieg lange und ließ die Sternbilder
wandern. Dann sagte er und faltete seine Landkarte zusammen:
«Die Götter in Europa haben euch Europäer nicht
umsonst Mikroskope für eure Augen konstruieren lassen. Ihr könnt auch
eure Liebesaufregung
unter ein Mikroskop legen. Wie die Eisblumen an euren Fenstern, so seht
ihr die
Linien eurer Liebesleidenschaft. Und ihr Europäer könnt über Dinge
sprechen,
die uns Asiaten ewig unsichtbar bleiben.»
Die alte Dame antwortete:
«Ihr Asiaten könnt das auch, wenn ihr wollt. Nur
seid
ihr liebenswürdige und bescheidene Kinder eurer Götter, und wir sind
vorwitzig.
Wir müssen unsere Freuden belauschen und unsere Schmerzen. So wie
unsere
Anatomen den Blutkreislauf fanden, so suchen wir nach dem Kreislauf
unserer
Schmerzen und Freuden.»
Kutsuma spricht eifriger:
«Wir haben nur immer von den Indern den Kreislauf
der
Seele zu beobachten gelernt. Aber die Liebesleidenschaft haben wir
nicht als
Lebenswert untersucht und haben die Liebe nicht auf die Höhe gestellt
wie ihr
in Europa. Aber seit ich bei euch war, begreife ich, daß die
Zukunftswelt die
Liebesleidenschaft als Weltmittelpunkt erkennen wird. Nicht die
Weltruhe, nicht
das Nirwana, wie wir in Asien immer glaubten, und nicht den
Weltschmerz und
das Weltmitleid, wie euer vergehendes Christentum immer glaubte; die
Liebesleidenschaft ist für jeden, der sein Leben ernst nimmt, sein
Gott, der
ihm Leben und Tod gibt. So sagte auch gestern Okuro zu mir, als wir bei
Aden
das Rote Meer verließen, er sagte mir, er würde nie mehr mit Ilse über
die
Meinung streiten, die sie als Europäerin von der Ehe hat. Sie macht ihn
mit
jeder Meinung glücklich. Sein Blut ist so zufrieden von ihrem Blut, daß
er
nicht mehr nach Lebensgebräuchen und Lebenssitten fragt, daß er ihr
zuliebe ein
Europäer werden will auch in seiner Heimat. Seine Liebe ist jetzt so
groß, daß
er meinungslos geworden ist.»
Kutsuma wartete auf einen Freudenausbruch der
Dame.
Und als der junge Mann keinen Laut als Antwort erhielt, empfand er mit
einemmal
das Schweigen zwischen sich und der alten Dame wie einen Abgrund, als
wäre sie
über einen Ozean vor ihm und seinen Worten zurückgewichen.
Lächelnd suchte Kutsuma eine Verbindung
herzustellen
und sagte:
«Warum schweigt der Abendschnee am Hirayama? Er,
der
mir vorhin so schöne weite Gedanken gab?»
Da seufzte die alte Dame:
«O, wie unglücklich sind die gütigen Liebenden!
Güte
in der Liebe bringt Unglück. Liebe ist nie gütig, Liebe fordert,
mißhandelt,
vergewaltigt. Von zwei Liebenden muß einer der Stärkere werden. Der
Mann muß
die Frau unterjochen, er kann ihr ja den Wahn ihrer Selbstherrlichkeit
lassen,
wenn sie es noch nötig hat. Aber er darf nicht gütig meinungslos werden.
Sagen
Sie das zu Okuro! Das sei die Ansicht dieser weißen Haare. Und immer,
wenn er meine weißen
Haare sieht, die ihr Japaner mit dem Abendschnee von Hirayama
vergleichet, soll
er stark werden, soll nicht vor Ilse meinungslos werden. So wie der
Schnee am
Hirayama nie zu schmelzen ist, so soll sein Wille von keinem
Frauenwillen zu
schmelzen sein. Nur dann macht er Ilse glücklich.»
Kutsuma
betrachtete andächtig den weißen Kopf der
alten Dame, so andächtig, wie nur ein Japaner im Abend am Biwasee den
Schnee
von Hirayama betrachten kann. –