Geschichten-
Max Dauthendey
Die acht Gesichter am Biwasee
Quellenangabe
Den
Abendschnee am
Hirayama sehen
Seite 3
Ceylon mit seinen wolkenblauen, glänzenden Bergen, die
voll Amethysten und Mondsteinen liegen, wurde von dem wandernden Schiff
für
einen Tag berührt. Dann zog die magnetische Ferne das Schiff weiter
nach Osten.
Und Ilse träumte sich Palmenwälder aufs Meer, denn sie wußte: rings
waren
Küsten mit heiligen indischen Wäldern und heiligen indischen Tempeln.
Und
ringsum an den Küsten lebten Völker, die so gut waren, daß sie den
Schlaf eines
Tieres heilig hielten, – den Schlaf des geringsten Straßenhundes, dem
es
einfiel, mitten in den verkehrsreichsten Städten sich in die Sonne zu
legen und
zu träumen. Kein Fußtritt verjagt den Träumenden, denn jeder Traum,
auch der
Traum eines Hundes, ist ein Paradies, das sich für Augenblicke auf die
Erde
senkt. Darum wird auch der Schlaf der Tiere mit Ehrfurcht behandelt.
Keine
Peitschen knallen, nur Silberglocken am Kutschbock treiben die Pferde
an. Über
alles das dachte sie oft mit Scheu nach.
«Wie seltsam», meinten die beiden Japaner und die
beiden Europäerinnen, «daß Europa und Asien nebeneinander auf derselben
Erde
liegen, sie, die weniger zusammengehören als Erde und Mond. Europa
gibt
seinem Leben das Sprichwort: Zeit ist Geld. Und Asien beachtet weder
die Zeit
noch das Geld. Es ist erstaunlich, daß die einfache Schiffsschraube,
die nichts
tut, als sich drehen, uns aus der Welt der Begriffe von Zeit und Geld
in die
Welt der entgegengesetzten Begriffe befördern kann, ohne daß wir dabei
daran
zugrunde gehen oder erst sterben müssen.»
«Am seltsamsten», sagte die alte Dame, «ist es für
mich, die ich schneeweiß aus Europa komme. Ich glaubte mich schon am
Ende
meines Lebens; und ohne daß ich eine neue Inkarnation eingehen muß,
verjüngen
und erwärmen sich hier in Asien meine Gedanken. Wenn ich morgens in den
Spiegel
sehe, wundere ich mich, daß ich immer noch den Schnee auf meinem Kopf
trage.» –
Das Schiff hatte Hinterindien, Penang und Singapore
passiert und drang in das Chinesische Meer.
In Singapore aber war Ilse aus ihren indischen Träumen
gerissen worden. Dort, wo die Chinesen wie der Sand am Meere sind, wo
die gelbe
Rasse die braune Rasse verdrängt, wo Ilse noch gelbere Menschen als die
gelben
Japaner sah, während ihr das Reisen schon wie das Wandern des Blutes in
ihrem
Körper zur Gewohnheit geworden war, – überfiel sie ein Schrecken und
eine Angst
vor der Zukunft. Die schlitzäugigen Menschen entsetzten sie. Die
geschlitzten
Augen, die hervorstehenden Backenknochen schienen ihr die Gesichter zu
verkrüppeln.
Am Abend, als sie mit ihrer Großmutter aus Singapore
an Bord des Schiffes zurückkam und der Himmel voll gelber Abendwolken
gleich
tausend gelben Chinesengesichtern war, ging sie nicht in ihre Kabine zu
ihrem Mann. Sie eilte in die Kabine ihrer Großmutter, drückte ihr
Gesicht
in die Hände der alten Dame und schluchzte.
«Kind, Kind, ich weiß es», sagte die alte Dame. «Ich
habe dasselbe gedacht wie du heute. Aber laß die Zeit verstreichen. Die
Zeit
bringt Gewohnheit, und Gewohnheit kann dich wieder glücklich machen.
Wenn die
Erde hier auch fremder ist als ein fremder Planet, wir stehen doch noch
mit den
Füßen auf derselben Erde, und wir werden auch mit der gelben Rasse gut
Freund
werden.»
«Ich nicht», sagte Ilse. «Sieh mein rotes Haar an,
sieh meine weiße Haut an. Ich habe nicht daran gedacht, daß ich unter
eine
ganze Welt von gelben Menschen komme. Okuro war mir lieber, als er,
allein,
eine Kuriosität in Europa war. Aber jetzt ging er heute vor mir unter
in der
Flut der gelben Gesichter, als wäre er im Chinesischen Meer ertrunken.
Ich will
heute nacht nicht in seiner Kabine schlafen. Ich werde bei dir bleiben,
Großmutter, und im nächsten Hafen fliehen wir und kehren um nach
Europa. Es ist
mir, als ginge ich bis zum Hals im gelben Lehm und erstickte, wenn ich
unter
den gelben Menschen bleiben muß.»
«Kehre nicht um, Kind! Die Gewohnheit wird dich
glücklich machen», wiederholte die alte Dame.
«Großer Gott, welch ödes Glück dann! Gewohnheit ist das
Glück der Dienstboten, nicht das der Herrschaft, hast du immer weise
gesagt,
Großmutter. Und jetzt gibst du deine Weisheit auf, nur um mich zu
trösten!
Neulich sagtest du noch, daß das Liebesglück ein Zuviel im Blut haben
müsse,
einen Überschwang. Dieses Zuviel wird unter diesen gelben Menschen nie
mehr zu
mir zurückkommen.»
Die beiden Frauen umarmten sich leidvoll und saßen
miteinander auf dem Rand des Kabinenbettes in dem kleinen
weißlackierten Raum,
und saßen eine Stunde still, ohne sich zu rühren, und waren beide weit
fort aus
dem Schiff. Beide gingen durch die Straßen von Europa, beide verstummt
vor
Sehnsucht nach der Heimat und beide von neuem aufschluchzend, als sie
sich
ansahen und sich vom Schiff weitergeschleppt fühlten. Sie wunderten
sich im
stillen, daß das im Wasserdruck knisternde Schiff vom Heimweh zweier
Menschen
nicht zum Sinken gebracht würde.
Die Nacht kam, und Ilse blieb in der Kabine ihrer
Großmutter und ließ sich durch die alte Dame bei Okuro entschuldigen.
Was dann in dieser Nacht geschah, weiß kaum ein
einziger, der sich im Schiff befand, mit Genauigkeit zu erzählen.
Die alte Dame fühlte sich plötzlich durch einen Stoß
mitten im Schlaf aus dem Bett geschleudert. Sie schrie nach Ilse. Alle
Leute im
Schiff schienen mit ihr zu schreien. Alle Lampen waren erloschen. Das
Schiff
schien mitten im Meer still zu liegen. Statt der taktmäßig arbeitenden
Maschinenschraube herrschte Todesstille. Und als die alte Dame sich von
einem
Koffer aufrichtete, auf den sie gefallen war, faßten sie zwei
Männerhände,
zogen sie wie eine Maschine durch die Dunkelheit, wo kniehohes Wasser
ihr
entgegenschoß, schäumendes und gurgelndes Wasser, schreiendes und sich
windendes Wasser, das mit Menschenleibern angefüllt zu sein schien.
Statt der Schiffstreppen fühlte sie Menschenkörper
unter ihren nackten Füßen. Die Männerhände und das sich türmende
Wasser
hoben sie wie mit Hebeln über tausend Hindernisse, bis sie auf ein
Schiffsdeck
hinfiel, auf einen andern Dampfer, der wie ein dunkler Berg in der
mondhellen
Nacht neben dem taumelnden und untergehenden Schiffsdeck stand, von dem
sie
kam. Sie erkannte jetzt Okuros Gesicht im Getümmel der sich Rettenden,
Okuro,
der ihre Hände hielt und sie fortschleifte und sie auf den roten
Teppich eines
erleuchteten Schiffssaales niederlegte. Dann schrien beide zugleich:
«Ilse!»,
und Okuro verschwand.
Die alte Dame sah sich unter halb bekleideten Frauen
und Männern, die wie in einem Tollhaus weinten, lachten, gleich
Menschen, die
zu Hunden und Affen geworden wären, sich stießen, übereinandersprangen,
in dem
Schiffssaal unter die langen Speisetische krochen, sich hinter Stühle
verbarrikadierten, sich die Augen zuhielten, fortgesetzt «Hilfe!»
riefen,
trotzdem sie gerettet waren, und fortgesetzt die Namen von Angehörigen
schrien,
trotzdem sie diese gerettet im Arm hielten.
«Ilse, Ilse!» rief die alte Dame immer wieder, als
könnte sie mit dem gerufenen Namen einen Menschen erschaffen.
Das vom Meerwasser durchtränkte Nachtkleid hing ihr
wie eine schleppende schwere Haut um den zitternden Körper. Aber sie
rutschte
noch mit den letzten Kräften von den Knäueln der Menschen fort, die mit
den
Armen um sich schlugen, fort von diesen Skelett-Menschen, welchen die
Sekunden
des Todesschreckens den jungen Leib in den Leib von Greisen verwandelt
hatten.
Ein paar wahnsinnig gewordene Männer wurden neben ihr
von Matrosen gefesselt. Ein paar andere strengten sich an, einen
der
Glühlichtkronenleuchter von der Decke zu reißen, und zerschlugen mit
den
Fäusten die gläsernen Birnen und schrien: «Wir wollen kein Licht! Wir
wollen
nichts sehen.»
Ein Mann biß sich in den Arm einer Frau fest. Die
Augen quollen ihm aus dem Kopf, und die Frau lachte und schrie: «Mein
Lieber!
Mein Lieber!» Das Blut rann ihr vom Arm auf die Diele, und die Augen
quollen
ihr vor Verzückung aus den Höhlen.
Die alte Dame kroch zu einer Kabinentür, die weit
offen stand. Da sprang ein wahnsinnig gewordener Malaye mit zwei
Messern in den
Händen über sie weg, hinein in den Saal, stach nach den Weibern, die
unter den
Tischen schrieen, stach nach den Männern, die unter dem Kronleuchter
hingen,
und kniete sich dann auf den Rücken des Mannes, der sich in den Arm der
Frau
hineingebissen hatte. Die Frau lachte noch verzückter als der
wahnsinnige gelbe
Malaye, der den weißen Rücken ihres Mannes mit den blutigen Messern
bearbeitete.
Neue Matrosen stürzten herein und rissen die Leute
auseinander. Und unter der Türe sah die alte gerettete Dame die Flügel
einer
riesigen silbernen Windmühle; es waren die elektrischen Scheinwerfer
des
Dampfers, die mit ihren steilen weißen Strahlen die Nachtluft
zertrennten.
Am Schiffsgeländer neben ihr erkannte sie im
weißblauen Licht des Scheinwerfers zwei Männer, wie aus Schnee geformt,
die
miteinander rangen. Die Dame schrie mit ihren letzten Kräften: «Okuro!
Kutsuma!
Ilse! Ilse!» Dann sah sie, wie der eine Mann den andern mit dem Kopf an
das
Messinggeländer schlug und dann den niedergeschlagenen zärtlich
aufhob und
auf den Ruf: «Ilse, Ilse», sich nach der alten Dame umsah, den
Ohnmächtigen aus
dem weißen Lichtschein forttrug, hin zu der alten Dame. Als der
Schleppende und
der Geschleppte im gelben Lichtschein des Schiffssaales erschienen,
fielen
beide Männer wie tot an der Türschwelle nieder. Es waren Okuro und
Kutsuma.
«Ilse», keuchte die alte Frau noch einmal und fiel
neben den beiden Japanern ohnmächtig hin. –
Die Geretteten hörten am nächsten Tag, daß im
Mondnebel ein Zusammenstoß zwischen ihrem und dem Schiff, auf welchem
sie sich
jetzt befanden, stattgefunden und ihren Dampfer zum Sinken gebracht
hatte.
Unter den Ertrunkenen, die ringsum aus der glatten See gefischt wurden,
wurde
auch Ilses Leiche an Bord gebracht.
Kutsuma aber hielt Okuro in der Kabine zurück und
belog ihn und sagte ihm, Ilse wäre mit ihrer Großmutter gerettet. Denn
er
fürchtete, daß sein Freund sich nochmals ins Wasser stürzen würde, wie
er es beim
Untergang des Schiffes versucht hatte, als er Ilse nicht fand.
Aber Okuro war bei der Lüge seines Freundes ungläubig,
schüttelte den Kopf und sagte:
«Ich weiß, daß Ilse ertrunken ist. Ihre Seele war für
mich schon nach Europa zurückgekehrt, und sie war für mich schon tot,
ehe das
Schiffsunglück eintrat. Ilse lebt nicht mehr, sonst würde sie vor mir
stehen.
Sonst wäre sie in der letzten Nacht in meiner Kabine geblieben. Ilse
kehrt
nicht wieder.»
Nach den wahnwitzigen Kämpfen und Aufregungen der
Unglücksnacht blieb Okuro von nun an bis zur Landung in Japan
teilnahmlos. Er
betrachtete nur stundenlang seine Hände, welche Ilse immer geliebt
hatte.
– Er, die weißhaarige Großmutter und sein Freund Kutsuma saßen wie
Wandbilder
schweigend nebeneinander auf den Deckstühlen des nach Japan wandernden
Schiffes, und Ilses Name wurde nicht mehr ausgesprochen.
Aber Kutsuma war immer bereit aufzuspringen, um die
alte Dame und Okuro vom Schiffsgeländer zurückzuhalten, denn das Wasser
unten
schien magnetische Kraft zu haben für alle die Schiffbrüchigen, welche
Angehörige in der Unglücksnacht verloren hatten. Einige sprangen auf
der Fahrt
plötzlich ins Wasser, Männer, welche ihre Kinder suchten, Frauen, die
zu ihren
Männern wollten.
Dann erschienen eines Morgens die stillen, zwerghaften
Inseln Japans im Frühnebel, die Silhouetten der vielfach gekrümmten
uralten
Bäume, die zierlichen Hügel mit den winzigen Terrassen winziger
Reisfelder.
Die beiden Japaner erwachten aus der Totenstille, und
nur die weißhaarige Dame blieb stumm, und ihre Augen sagten müde: Seit
Ilse tot
ist, ist die Erde für mich ein Sargdeckel geworden. Ich möchte mich
auch in den
Sarg legen.
Als die Schiffsbrücke in Nagasaki herabgelassen wurde
und unten Motorboote voll von Angehörigen der japanischen Reisenden
beim Schiff
anlegten, sahen die Leute, welche Okuro und seine junge Frau
erwarteten, zu
ihrem Erstaunen den berühmten Schauspieler die Schiffstreppe
herabsteigen, mit
seinem Arm eine alte, weißhaarige Dame stützend.
«Ist Okuro deswegen nach Deutschland gereist, um sich
eine alte Dame, die weiß ist wie der Abendschnee am Hirayama, zur
Frau zu
holen?» fragten sich seine Freunde verwundert. Aber niemand
lachte. –
Unter Okuros Freunden war ein japanischer
Schriftsteller, welcher den Eindruck nicht vergessen konnte, welchen
die weiße
alte deutsche Dame auf ihn gemacht hatte, die als vermeintliche Frau
des Okuro
am Arm des jungen Japaners ans japanische Land gestiegen war. Dieser
Schriftsteller schrieb ein Drama; und nachdem Monate vergangen waren
und die alte
Großmutter von deutschen Freunden nach Europa zurückgebracht worden
war, las er
sein Drama Kutsuma und Okuro vor.
Kutsuma, welcher in Japan Frauenrollen spielte, war
sehr begeistert von der Rolle der Ilse, und Okuro sollte die Rolle der
weißhaarigen Großmutter spielen. Der Schriftsteller hatte das Stück den
«Abendschnee auf dem Hirayama» genannt.
Der Abend der Vorstellung kam, und Okuro trug eine
Perücke aus weißer Seidenwatte. Nie hatten die Zuschauer eines
japanischen
Theaters ein lebhafteres und atemloseres Spiel gesehen. Nur einige
murmelten
und wunderten sich, daß der junge Ehemann das Drama spielen wollte, das
sich
erst vor Monaten ereignet hatte. Und viele nannten ihn herzlos und
gefühllos,
weil er den Tod seiner jungen Frau nicht ernster nahm als ein Drama.
Der letzte Akt kam und die Szene, wo die gerettete
Großmutter aus der Kabinentür kriecht und während des Schiffsunglücks
nach Ilse
schreit. Sie tastet sich vorwärts. Aber statt dessen richtet sich der
die
Großmutter spielende Okuro auf und springt an die Theaterrampe vor,
streckt die
Arme ins Publikum, und statt in Wehklagen über die Ertrunkene
auszubrechen,
ruft er:
«Seht mich aus dem Schrecken neugeboren und weise und
kühl geworden, wie der Abendschnee am Hirayama! Klatscht in die Hände,
klatscht
Beifall dem Größten, dem Gott des Unglücks, der die Herzen erlöst, der
männlicher ist als das Glück, der einen Willen hat, wenn das Glück
keinen mehr
hat. Gedankenvoller, als der Schnee am Hirayama über dem Biwasee im
Abend
scheint, ist der Blick des Unglücks, wenn er sich auf uns richtet,
feierlicher
und gigantischer ist die Weisheit des Unglücks und ragt über alles
Wissen. Ich
beweine sie, die Ertrunkene, nicht, und ihr sollt auch mich nicht
beweinen, der
ich die Gunst des größten Gottes genoß, die Gunst des Unglücks, das
heiliger
ist als der Augenblick des Glückes.»
«Klatscht Beifall!» rief Okuro noch einmal; und dann
kam Kutsuma, der, als Ilse verkleidet, jetzt ertrunken sein sollte und
nicht
mehr zu erscheinen hatte, und fing den wahnsinnig gewordenen Freund in
seinen
Armen auf.
Die Zuschauer sahen noch, wie Kutsuma dem Okuro die
weiße Perücke vom Kopfe riß, um ihm Luft zu machen und sein Gehirn zu
kühlen.
Da – mit einem einzigen Ausruf des Schreckens erhob sich das ganze
Theaterpublikum; denn Okuros Haar war unter dem Spiel vor Schmerz so
weiß
geworden wie die Watte der weißen Perücke. Einer im Theater wies es dem
andern
und wurde ehrfürchtig vor der Seele des Liebenden, die hier größer als
die
Kunst des Schauspielers gespielt hatte.
Alle im Theater weinten; und keiner, der je zum
Biwasee kommt und den Abendschnee am Hirayama bewundert, vergißt der
Geschichte
des Liebenden zu gedenken, den das Unglück weiß wie Schnee machte.