Aufzeichnungen
aus Italien
Meine
erste Sorge bei der Ankunft in Mailand war, zur Post zu eilen. Die
Sonne, der Staub hatten uns durstig gemacht nach einem Brief von meinem
Sohn
und von Dir, und ich habe noch immer nichts vorgefunden, trotz der
sechs Tage
Reise-Verzögerung in Lyon und Turin. Ich werde Dir erst in einigen
Tagen von
jener Stadt berichten. Ein trauriges Herz verfinstert jede Schönheit.
Ich wage
augenblicklich nicht zu sagen, welchen Eindruck sie mir gemacht hat,
sondern
will es aufschieben, bis ich Eure ersten Nachrichten erhalten habe. Der
Bericht
würde heute ganz anders ausfallen.
Nach
der langen Fahrt auf völlig schattenloser Straße in glühender Hitze
waren wir von der Sonne verbrannt und glichen jeder einem lebendigen
Staubhaufen. – Die Direktoren erwarteten uns freundlicherweise am
Posthof und
luden uns ein, andere Wagen zu besteigen, die uns mit solcher
Schnelligkeit
mitten durch die Stadt führten, daß es mir war, als würde ich von einem
Traum
gefächelt.
Alle
Straßen sind mit blauen Quadern eingefaßt, die nur für Fußgänger
bestimmt sind, so daß man beim Spazierengehen die Häuserwände streift.
Die
Straßenmitte gehört den Wagen; deren Eleganz bemerkenswert ist, Viele
haben
vier Pferde, Wagenzier und reiches Zaumzeug. Die Damen sitzen zur Schau
wie in
den Logen, sehr würdevoll und mit viel Geschmack gekleidet. Vor allem
wissen
sie sich mit ihrem meist schönem Haar wundervoll zu schmücken: sie
lassen es
von der Schläfe bis zur Brust in langen Ringeln niederfallen, denen
sie, trotz
der ungewöhnlichen Hitze, der sie sich aussetzen, Haltbarkeit zu
verleihen
wissen. Ich habe viele entzückende Frauen gesehen . . . Ihr Blick ist
auf der
Promenade kalt und hochmütig, ihre Haltung aufrecht, frei und würdig.
Die
Bevölkerung scheint in zwei Gattungen zu zerfallen, die voneinander
sehr verschieden sind: die eine gesund, hochgewachsen, vollkommen; die
andere
verkrüppelt, elend, schleppend. Vor den Türen, auf den Wegen, in den
Kirchen –
überall mißgestaltete Zwerge, mit Kröpfen behaftet oder verkrüppelten
Gliedern,
die sie auf Krücken stützen. Es ist für alle, die nicht durch die
Gewohnheit
abgestumpft sind, ein trauriger Anblick. Unter der ärmeren Klasse sind
nur
wenige Familien von der Heimsuchung verschont. Zum Glück knüpft sich
daran ein
frommer Aberglaube; man hütet diese Unglücklichen als den guten Genius
der
Familie, der die bescheidene Gestalt angenommen hat, um das Haus vor
allem
Unheil zu bewahren.
. .
.
Unser Hausherr führte uns eines Abends zur Kirche San Ambrosio, die
so hohberühmt ist, daß wir sehr danach verlangten, sie zu sehen.
. .
.
Ich glaubte, wie damals von Santa Maria, gleich beim ersten Anblick
ergriffen und geblendet zu werden von dem leichten, aufstrebenden
Schwung des
Bauwerks – das ist aber nicht so. Alles ist streng und düster; man
glaubt in
die frühen Mysterien des Christentums einzutreten. Das Kloster, das die
Kirche
umgibt, die nackten Mauern, die Höfe, in denen das Unkraut wuchert, die
kaum
noch erkennbaren Freskomalereien, die gotischen massiven Tore – alles
zeugt von
den Kämpfen, denen die Religion in ihren Anfängen ausgesetzt war. Ich
glaubte
mich unter der Erde zu befinden, gleichsam erdrückt von den vierzehn
Jahrhunderten, die diese Kirche bedrängt haben, die sich dennoch
unerschütterlich zu halten weiß. Man berichtet, daß eine eherne
Schlange, hoch
oben auf einer Marmorsäule, sich aufgerichtet und die Geburt des
heiligen
Ambrosius verkündet habe. – Zwei eiserne Portale bieten alles, was
Menschenarbeit Wundersames leisten kann: Kunst, Ausdauer, glühende
Gottesverehrung sprechen aus jeder, mit unbeschreiblicher Feinheit
ziselierten
Gruppe. Man ist ein Nichts vor solchen Dingen. Ihre Besitzer kennen
ihren Wert
so gut, daß sie diese Wunder der Kunst hinter doppelten Gittern und
zweimal
verschlossenen Türen verwahren. Eins der Schlösser ist ein Löwenkopf,
und der
Schlüssel wird in sein Maul gesteckt . . .
Alles,
was ich an Musik in Mailand höre: abends im Theater, in den Schulen,
den Kirchen, bis hin zum Klang der Glocken, ist weit entfernt von
Träumerei und
sanftem Leid: alles hat den Charakter eines a cantate, einer
Bravour-Arie, und
es ist kein leichtsinniges Urteil, das ich da ausspreche. Die Stimmen
der
Leute, so ansprechend in Béarn, so feierlich in Deutschland, sind hier
fast
ebenso roh und kreischend wie in Lyon; das Land der Falschsinger und
Schreier –
bis auf einige schöne Ausnahmen. Wenn ich Dich hier hätte, so würde ich
Dich
vor allem in den Dom führen und rund um die Stadtmauern, von wo man
allerorten
diesen Dom wie eine köstliche Vision erblickt . . .
Ich
beginne stündlich ein paar Aufzeichnungen für Dich, und ich werde durch
tausend kleine Pflichten, die mich nicht aufatmen lassen, daran
gehindert. In
Paris war es die Hausglocke, die mich jeden Augenblick aufscheuchte, um
die oft
so öden, so anstrengenden Besuche über mich ergehen zu lassen, denen
ich mich
nicht entziehen konnte, weil mein Dienstmädchen ein zartes Gewissen
hatte und
ihr Seelenheil nicht mit der Lüge, ich sei nicht zu Hause, aufs Spiel
setzen
wollte. Hier bin ich davor geborgen, keine Seele sucht mich. Das Läuten
der
Glocken, das Krähen der Hähne, die Schüsse in den Trauerspielen des
Theaters –
aus dessen Wandelgängen man in dasselbe Gärtchen hinuntersieht, das
unten vor
meinem einzigen Fenster liegt -, das ist die ganze Begleitung zu dem
immer
eiligen Takt meines Herzens, das stets voll Liebe für Dich ist; aber
ich muß
mich oft bescheiden, an Dich zu denken, ohne zum Schreiben Zeit finden
zu
können. Wir haben keine Hilfe im Haushalt, und meine Tage erschöpfen
sich in
dieser Tätigkeit, die mir in ihrer vollen Schwere nicht leicht wird,
denn die
Hitze ist ungeheuer und der Mangel an Küchengeräten groß. Oft, wenn ich
durch
die Straßen irre, auf dem Wege zur Post oder sonstwohin, verweilt meine
Vorstellung bei der seltsamen Lage, in der ich mich mit meiner Familie
befinde.
Da vor allem mache ich von der traurigen Freiheit Gebrauch,
herumzulaufen, zu
reden, zu weinen, während ich durch verlassene Gassen eile, vorbei an
fremden
Häusern bis zu einer gastlichen Kirche, in die ich mich flüchte, als
suchte ich
durch eine Hintertür im Hause meines Vaters Zuflucht. Hier bin ich
gewiß, daß
man mich hört. Ich werfe mich auf die Kniee, schlage das Kreuz und
verweile
kummervoll auf diesen Marmorfliesen, von denen niemand mich vertreiben
darf –
das ist eine große Gnade, die ich mit Dir teile, denn Dein Herz ist in
mir. –
Würdest
Du die Kirche San Popolo sehen, Du würdest sie nie vergessen. Da
ist eine Darstellung der Szene, wie Jesus den Aposteln die Füße wäscht,
halbkreisförmig im Hintergrund eines Altars; dieser Hintergrund wirkt
wie ein
wirkliches Zimmer, worin die zwölf in Holz geschnittenen Gestalten in
Lebensgröße einen so packenden Eindruck machen, daß man zu sehen meint,
wie sie
sich bewegen. Die gegenüberliegende Kapelle zeigt Jesus vor den
Richtern. Ich
begreife die Macht solcher Darstellungen, aus denen die wahre Kunst uns
grüßt.
Ist nicht eine meiner unauslöschlichsten Erinnerungen an den
gegeißelten Heiland,
der hinter der verlassenen Kirche, in der ich sechs Jahre früher die
Taufe
empfangen hatte, im Grase lag? Und dann im Hofe eines
Franziskanerklosters, wo
wir Verstecken spielten, eine Mutter Gottes mit den sieben Schmerzen,
eine
Holzfigur, die hinter einem Gitter stand und mir so viel Leid erschien,
daß ich
ganze Stunden dort in Betrachtung verbrachte und in mir ihren Schmerz
nachzufühlen vermeinte . . .
Drei
Priester singen und tragen drei brennende Kerzen durch den Tag. Ein
Priester eröffnet den Zug mit einem goldenen Kruzifix. Ein Mann folgt,
mit
einer kleinen lackierten Kiste auf dem Rücken; sie ist von grüner
Farbe, und
ihre Form ist nicht so bedrückend wie jene, die wir in Frankreich
unsern Särgen
geben. Das war der Leichenzug eines armen Kindes aus dem Volke, dem wir
durch
die Straßen folgten, dem „Borgo di Porta Romana“. Das Volk drängte sich
in den Straßen,
sang, schrie und rannte durch Staub und Sonne, und die Menge, die Platz
machte,
um den Priester vorüber zu lassen, hatte kein Auge für den armen
kleinen Sarg.
Am
andern Tag zog an der nämlichen Stelle eine lange Reihe von Priestern
mit Fackeln vorüber, die mit trauriger Ohnmacht gegen die Strahlen der
vollen
Sonne ankämpften. Frauen, Männer, Kinder mit brennenden Totenkerzen in
den
Händen, überfluteten singend die Straße. Inmitten dieses Geleites und
unter
einem weißen Schleier, dessen Enden von acht kleinen Klagemädchen
getragen
wurden, schwebte ein leichter Sarg dahin, bedeckt von weißem
silberbestickten
Atlas und wundervollen Blumenkränzen. Die jungen Mädchen, die
Trägerinnen
dieser Last, lächelten und lachten; sie waren festlich gekleidet und
trugen
strahlend weiße, mit Perlen und Bändern verzierte Schleier. Diesmal war
es eine
reiche Mutter, die weinte. Wir beteten auch für dieses Leid, das für
jedes
Mutterherz gleichermaßen schmerzlich ist.
Gestern,
am 22. August, hat uns
Valmore spazieren geführt, und wie
stets, begannen wir den Weg mit einer Kirche, diesmal der
Passionskirche . . .
Was
in diesm düsteren und geheimnisvollen Bau am meisten fesselte, das ist
ein doppelter Sarkophag aus weißem Marmor, auf ungeheuren Löwenfüßen
ruhend,
der sich unter der dunklen Kuppek vor der Sakristei erhebt. Die ganze
Struktur
dieser beiden Zwillingssärge, die sich übereinander erheben, ruft den
Geist zur
Sammlung und schmerzlichen Bewunderung. Wir konnten uns nicht losreißen
. . .
Während die Arbeiter auf den Gesimsen und den Sockeln der hohen Statuen
standen
und die schwarzen, mit gelben Tressen umsäumten Draperieen
herunternahmen, die
auf den Hallenboden niederrauschten, ließen die Schüler der
musikalischen
Lehranstalt, die hier gewissermaßen der Kirche zugeteilt scheint, ihren
herrlichen Gesang ertönen, andere wieder spielten Geige oder Piano, und
die
Sonne ließ im Untergehen alle Engel der Hauptfront rosig erstrahlen,
und die
erzenen Gestalten, deren jede ein Werkzeug des Leidens Christi in
Händen hielt,
schienen sich schön und traumvoll hinwegschwingen zu wollen, fort von
den
Qualen Jesu Christi und seiner Mutter, die sie weinend umstanden. Es
erfüllt
mit beständiger Pein, daß man diese Szene für jene, die sie nicht mit
Augen
sehen können, mit dem Stift nicht festhalten kann. Und daß man
andererseits
keine Worte findet, um ihren Eindruck auf uns wiederzugeben, ist ein
anderer
großer Schmerz, der allzuspät ein trübes Licht wirft auf die
Unwissenheit,
derer man sich nie so sehr bewußt geworden war wie in diesem Augenblick
. . .
Das
Glockenläuten ist hier unerträglich. Es zerreißt die Luft und ist so
schrill wie die Stimmen der Frauen in Italien. Wenn sie sich
unterhalten, meint
man, sie seien zornwütend; ihre Stimme springt mit unglaublicher
Leichtigkeit
von den höchsten Tönen zum dröhnenden Kontra-Alt hinab, so daß man gar
nicht
fassen kann, die wegen ihrer Reize und ihres Adels berühmteste aller
Sprachen
zu vernehmen, es sei denn, daß man sie liest oder singen hört;
gesprochen aber
ist es, um davonzulaufen. War das der Grund, weshalb die sanfte und
reine
Stimme, der fließende Vortrag und die gefühlvolle Tongebung von
Mademoiselle
Mars, ihr perlendes Lachen, ihr ergreifendes Weinen hier ein Erstaunen
und eine
Begeisterung geweckt haben, die unbeschreilich ist? . . .
31.
August. Wir haben etwas
unendlich Trauriges gesehen – mir wenigstens erschien es so.
Wir haben Maria-Louise gesehen, über ihre Jahre hinaus gealtert, trotz
ihrer
reichen Kleidung und ihrer Jasminhaube – die rätselhafte Maria-Louise,
deren
Herz undurchdringlich bleibt, deren verschlossenes Antlitz keine
Bewegung
verrät. Ich aber war ergriffen, als ich in dem schmalen Gang, der ihre
und
unsere Loge verband, notgedrungen ganz nah an ihr vorüber mußte, so daß
ihr
Kleid mich streifte. Ich gestehe es, zum erstenmal im Leben suchte ich
einem
Menschen ins Gesicht zu sehen, der in einer recht bescheidenen und
dunklen Loge
verborgen sein wollte. Aber der Fürst Metternich – und vor allem seine
weiß und
goldene Uniform hatten sie verraten. Mademoiselle Mars, der ich eilends
mitteilte, daß der Arm, den sie soeben berührte, der Maria-Louisens
sei, tat
alles, was man nur tun kann, ohne den Anstand zu verletzen, um diese
reglose
Frau zu veranlassen, sich umzuschauen. Sie kam nicht zum Ziel. Als ich
sah, daß
sie sich erhob und fortging, fand ich mich wie unwillkürlich neben ihr.
Sie
schritt vorgebeugt, als suche sie die schlecht erhellten Treppenstufen
zu
erkennen. Ihr sehr leichtes und sehr weites weißes Gewand berührte
mich. Ihr
Antlitz erschien mir auffällig schmal und gerötet, doch sanft und
ruhig. In
diesem ergreifenden Moment hatte ich fast eine Vision ich sah den
Kaiser tot
und den König von Rom, gleichfalls wie einen Schatten, die in diesem
frostigen
Korridor hinter ihr herschritten, und es wurde mir schwer, das Ende von
„Jeanne
de Naples“ abzuwarten, dessen schrecklichen Schluß sie wahrscheinlich
nicht
hatte mitansehen wollen . . .
19.
September. Ich denke und
schreibe an Dich beim dumpfen Lärm des Rades, das drunten
im Hofe gedreht wird, um Sorbett zu bereiten; dies ständig brausende
Geräusch
macht meine Gedanken, wie mir scheint,
zu summenden Fliegen, die sich nicht aufschwingen können. Meine
Gedanken
kriechen am Boden und summen und beschweren mir das Herz. Drüben in der
italienischen Schule singen die Kinder mit absichtlich kreischender
Stimme ihre
Choräle. Auf den umliegenden Dächern, in gleicher Höhe mit unserem
Fenster,
klatscht der Regen in Strömen, und das Zimmer ist so feucht, daß die
untapezierten Wände Tränen weinen. – Italien! Sage mir, lehre mich, was
dein
schöner Himmel den Elenden bietet, wenn Wolken ihn verhüllen! Und es
gibt viele
Elende um uns her, viel Unglück außer unserm Unglück. –
Mailand,
immer noch Mailand! Ist es nicht in Italien, wo Tasso den Verstand
verloren hat? . . . Diese anscheinend so öde Stadt birgt in einem
Hospiz
zweitausend Kranke und Sieche.
Ein
Traum
Aus
„L’atelier d’un peintre“, 1833
. .
.
In letzter Nacht ward mein Schlummer von einer Vision gewiegt und
erschüttert:
Ich
durcheilte ein einsames riesiges
Haus, dessen Türen alle weit offen standen. Der Engel des Todes
verfolgte mich,
er kam durch die unbewohnten Gemächer, und ich vernahm das Rauschen
seiner
Schwingen in der Luft, durch die ich selber hinglitt, ohne den Boden zu
berühren; ich litt, ich betete, ich war atemlos und fast von ihm
ereilt. Das
offene Fenster bot mir den einzigen Ausweg, den ich mit den Augen
suchte und
mit einem Herzen, das meine Brust zu sprengen drohte: ich reckte die
Arme, ich
gab mich der Luft ganz hin, ich schwebte, zu meiner großen Freude, daß
ich
erwachte und mich nieend in meinem Bette fand, in einer Finsternis, die
der
Mond tröstlich erhellte. Es war, als sähe er mich an und spräche: „Hab
keine
Angst!“ Ich schlief auch wieder ein, bis in den hellen Tag . . .