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04.3
Geschichten
Marceline
Desbordes-Valmore
Das
Lebensbild einer Dichterin
Vierter
Teil: Briefe

Briefe
2
Briefe über Henri de Latouche
Sollte,
wie
die französische Forschung immer eindringlicher behauptet (ohne
jedoch vollgültigen Beweis erbringen zu können), tatsächlich Henri de
Latouche
der Verführer Marcelinens und der Vater ihres unehelichen Kindes
gewesen sein,
derjenige, dem diese „Zettelgen“ galten, so sind die folgenden Briefe
psychologisch von besonderem Reiz. Denn sie sind (die beiden ersten)
dreißig
Jahre nach jener Episode an ihren Mann gerichtet, als Latouche der
Tochter
Marcelinens nachstellte, und atmen die äußere Verachtung und
Erbitterung gegen
ihn.
Un
so
großartiger kontrastiert dagegen der Brief nach seinem Tode an
Sainte-Beuve. Der in allen Privatverhältnissen unbändig neugierige
Kritiker,
dieser Voyeur in psychologicis hatte sofort nach Latouches Tod an
Marceline
einen Brief gerichtet, sie möchte ihm Latouches Charakter schildern
(als ob er
ihn selbst nicht genug gekannt hätte). Er hoffte, ihr bei diesem Anlaß
einen
verräterischen Aufschrei zu entreißen. Und tatsächlich ist dieser Brief
eine
erschütternde Fürbitte um Verzeihung für einen geworden, der sie selbst
maßlos
gekränkt und gequält: das gütige, großmütige Herz wirft sich schützend
über den
längst verhaßten Toten, um ihm für den Nachruf etwas Milde zu retten.
Ob die
darin erwähnte Kränkung durch Latouche jene erste war, die Verführung
und das
brüske Verlassen, ob die zweite gemeint ist, die Nachstellung gegen die
Tochter
– dies verhüllt sich in diesem Brief, der ganz nur die Güte des
Verzeihens
offenbart und eines der wichtigsten Dokumente ihrer Lebenstragödie
bildet.
An
ihren Gatten
6.
Mai 1839
Mit
Herrn Latouche bin ich mehr denn je in Verlegenheit, was mir, wie ich
glaube, eine Art Kälte
gibt, die ich nicht überwinden kann, obwohl ich ihn sehr liebe. Aber zu
den
Befürchtungen, die mir schon sein Charakter einflößte, mengen sich nun
auch die
schrecklichen Geständnisse jener unglücklichen Dame, und mein
Aufenthalt auf
diesem Landsitz versetzt mich in große Unruhe. Ich suche einen Weg zu
finden,
wie ich weder die eine noch die andere Person beleidige. Es gibt uns
Beweise
von Anhänglichkeit, die mich zu Dank verpflichten, und wenn ich mich
ihrer zu
erwehren versuche, so sagt er, Du seiest es, der es ihm für die Zeit
Deines
Fernseins zur Pflicht gemacht hätte. Ich weiß jetzt, daß es meine
Aufgabe ist,
mich nicht zwischen zwei Herzen zu stellen, die sich einander nähern
wollen,
und daß ich um keinen Preis dorthin zurückkehren darf.
23. Juli 1839
Was,
Herr von
L. … schreibt Dir noch? und er ist nicht im Berry?
und
beklagt sich über meine Härte! Mein guter Engel, das sähe wirklich wie
ein Scherz aus, wenn ich ihn nicht für einen sehr bösen Menschen
hielte. Bei
Gott, ich habe ihn ganz und gar anständig und mit Sanftmut empfangen,
mit dem
Vorsatz, all die Verachtung, die er mir einflößt, zu verbergen. Er kam,
um uns vor
einer Geschäftsreise einen Abschiedsbesuch zu machen . . .
Vorläufig habe ich Dir genug gesagt, um Dir
die gerechte Abwehr gegen einen Charaker verständlich zu machen, der
mit dem
Haß aller Welt beladen ist. Überall, wohin er gekommen ist, hat er nur
Unruhe
und Verzweiflung gebracht. Glaub an meine instinktive Abscheu und
erinnere
Dich, daß meine Schuld nur darin bestanden hat, daß ich gegen Böse zu
nachsichtig war. Schonen wir ihn durch den Anschein von Achtung, denn
es ist
ihm besonders darum zu tun, geehrt zu sein. Aber Vertraulichkeit mit
diesem
Menschen! Gefälligkeiten von ihm annehmen! Lieber Gott, da möchte ich
lieber
betteln gehen. Branchu ist unschuldig wie ein neugeborenes Kind und
Pauline.
Ich sage das nur Dir, durch den ich ihn kenne.

An
Sainte-Beuve nach dem Tode
von A. M. H. Latouche
18.
März 1851
Eine
große
Erschöpfung hat mich gehindert, Ihnen zu antworten. Verzeihen
Sie mir, ich habe es mehrere Male versucht; aber in welchem
Schlupfwinkel meines
arbeitsreichen Daseins soll ich Ruhe finden, mich zu sammeln?
Bedenken
Sie, diesmal muß ich beinahe auf einem Grabe meinem
niedergeschlagenen Geiste sich zu ordnen gebieten. Wie könnte ich von
da aus
wagen, über einen anderen Geist zu urteilen. Was für ein Urteil kann
man mit
Tränen in den Augen niederschreiben! Ja, Sie haben recht, es könnte,
ohne daß
ich dessen mir bewußt würde, wie durch einen Blitz „Und wer kann mir
besser von
ihm sprechen als Sie und mir eine Idee von ihm geben, blitzartig ihn
beleuchten“, hatte Sainte-Beuve ihr geschrieben, geschehen, daß Sie die
Eindrücke meines Gedächtnisses erfaßten, die Summe der Erinnerungen an
diesen
unverständlichen Geist, der Sie beschäftigt. Aber wir begegnen einander
nicht.
Wie soll man es da beginnen? Ihre Stimme würde mich aufrichten, und ich
fände
Worte, Ihnen zu antworten. Hier bin ich zu sehr in mich
zurückgeflüchtet, und
dies ist wahrlich eine traurige Zuflucht, und ich möchte doch nicht ein
Wort
von persönlicher Traurigkeit diesem Briefe beigeben. Aber ich bin durch
so
viele unersetzliche Verluste zu Boden geschlagen! Diese dumpfen Schreie
erreichen mich von überallher wie eine schreckliche Elektrizität, und
ich fühle
wohl, daß mir diesen letzten Blitzschlag niemand in Anrechnung bringt
als
vielleicht Gott, der alles weiß, für alles Mitleid hat! Ich war bereits
in
Trauer: kaum habe ich den Schleier emporgeschlagen, so muß ich ihn
schon wieder
auf meine Seele herabsenken, und ich kann nicht mehr weiter.
Außerdem
habe ich für dieses glänzende und geheimnisvolle Rätsel mir weder
eine Erklärung gesucht, noch es erraten. Es wirkte auf mich blendend
und
beängstigend, zuweilen war es dunkel wie Schmiedefeuer im Walde, bald
leicht,
hell wie ein Kinderfest. Aufrichtigkeit, die er liebte, ein
unschuldiges Wort,
konnte in ihm das Lachen einer wiedergefundenen Freudigkeit, einer
wiedergewonnenen Hoffnung zum Ausbruch bringen.
So
lebhaft malte sich da Dankbarkeit in diesem Blick, daß Ängstliche sich
wieder sicher fühlten. Da lebte in seinem gequälten, recht
mißtrauischen
Herzen, das, wie mir dünkt, sehr nach menschlicher Vollkommenheit, an
die er
noch glauben wollte, verlangte, der gute Geist wieder auf.
Oft
schien es, als wäre es ihm lästig, zu leben; welche Bitterkeit breitete
sich da über dies flüchtige Fest, wenn er der schönen Hoffnungen müde
wurde! Bewunderung
war, glaube ich, leidenschaftlichstes Bedürfnis seiner kranken Natur,
denn
krank war er sehr oft und sehr unglücklich! Nein, er war kein Böser,
sondern
ein Kranker, denn wenn an seinen Idolen ein einziger Fehler in
Erscheinung
trat, so war er schon in tiefe Verzweiflung versetzt, und das ist nicht
zu viel
gesagt. In einer solchen befand er sich, als wir ihn kennen lernten.
Offen
sprach er nie davon während unserer Gespräche, die er scheinbar suchte,
um die
Erinnerung einer sehr stürmischen Vergangenheit zu verscheuchen. Welche
innere
Verfassung war je geheimnisvoller als die seine? Dennoch hielt ihn mein
Onkel,
den er ganz und gar liebte, mein Onkel, der einen aufgeschlossenen,
romantischen und dabei religiösen Charakter besaß, seines reizvollen
Wesens,
seiner aufrichtigen Sanftmut willen, für schlicht, kindlich, rein und
warmherzig. Er war es auch! Er war es! Und glücklich und getröstet,
ermutigt,
so sein zu können durch diese ungetrübte Zuneigung.
Man
hielt ihn im engen Sinn des Wortes für neidisch. Er ist es niemals
gewesen. Aber ungerecht, voreingenommen, dies – ja! Sein Zorn, seine
Verachtung
waren so groß, wenn ihn ein Talent, etwas Wertvolles, Schönes
enttäuschte,
dessen Entdeckung ihn mit Freude erfüllt hatte. Wie ironisch war er
dann gegen
seine eigene Einfältigkeit! Wie schmerzlich berührt war er nach seinem
eigenen
Wort durch sich selbst bestohlen worden zu sein! Er litt viel, glauben
Sie es
und vergessen Sie es nie. Er konnte über eine Blume gerührt sein und
grüßte sie
mit frommer Ehrfurcht. Dann regte er sich darüber auf, daß er ihre
Vergänglichkeit vergessen konnte. Er zuckte die Achseln und warf sie
ins Feuer.
Dies ist wirklich geschehen?
Hat
nicht auch sein heftiger politischer Standpunkt die natürliche Anmut,
die sich seiner Tatkraft gesellte, vertrübt? Ich habe mir das oft
gedacht. Eine
unbeeinflußbare Selbstlosigkeit, die ihn Elend und Klagen hätte
ertragen
lassen, machte ihn mitleidlos gegen die Schwächen des Ehrgeizes oder
die
Indolenz, die er im patriotischen Gefühl ein Verbrechen nannte. Hier
mag das
Geheimnis seiner großen Vereinsamung liegen.
Die
sorgfältige Beharrlichkeit bei der Arbeit trieb er bis zum Exzeß, der
seine Gesundheit, wie seine Erfolge gefährdete. Er band sich wie ein
Märtyrer
an sie. Man hätte sagen mögen (ich weiß das von anderen), daß sein Herz
und
sein Kopf sich langsam mit Rauch erfüllten und dieser manchmal den
Schwung, die
Hingabe, das Fluidum, die Eingebung erstickte, so daß es sich wie bei
einer
Lampe verhielt, die keine Luft hat. Wenn ich mich, wie mir scheint,
schlecht
ausdrücke, so werden Sie den tieferen Sinn dennoch verstehen. Ich
schreibe ja
da nicht Kritik, mein Gott: ich beklage sein Unglück und seine Qual!
Seine
Begeisterung für die deutsche Literatur und für die Wandlung der
unseren hat ihn sehr beherrscht. Seither war ich so kühn, Erstaunen zu
empfinden, daß seine Dichtung, obwohl elegant wenn auch feierlich, sich
kaum
von Abhängigkeit frei gemacht hatte, die er doch verabscheute; ein
Beweis dafür
waren seine Bewunderungsausbrüche für die ritterlichen Kühnheiten des
Herrn von
Musset und die neue Art von Ihnen allen, die ihn mit Hoffnung
beglückte.
Seitdem
weiß ich nichts Genaues mehr, noch vermochte ich dieses Genie, das
so bitter geworden war, aus der Nähe zu betrachten. Durch entfernten,
seltenen
und auch traurigen Widerhall nur, suchte er uns zu begegnen. Sein Buch
über
Clemens XIV. hat uns die reizendsten Gespräche mit unserem Onkel in
Erinnerung
gebracht, der ihn dazu angestachelt hatte; Fragoletta hat mich mit
Erstaunen
und Schrecken erfüllt; seither hat uns Grangeneuve auf unsere
Instinkte, für ihn zu hoffen, ihn zu
bemitleiden, hingewiesen. Und von jener Zeit ab hat er vielleicht, weil
er
seine Phantasie und sein geschriebenes Wort im Zaume hielt, deren
Freiheit und
Glanz um so mehr verraten. Seine letzten Bücher habe ich nicht mehr zu
lesen
gewagt . . . Vielleicht wiederhole ich Ihnen etwas da
übrflüssigerweise: aber
sein Geist, wenn er sprach, war unwiderstehlich, wußte er, daß man ihm
gut
zuhörte und ihn verstand und er von seinem schwarzen Übel aufatmen
konnte. Nur,
daß er zu viel an das Publikum dachte, das kalt urteilte, diesen
mächtigen
Richter, gegen den es keinen Einspruch gibt! Die Flamme war dann durch
eine zu
lang andauernde Träumerei beeinträchtigt. Furcht vor Lächerlichkeit
lähmte ihm
jene Kühnheit, der er bei anderen Beifall zollte. Er war nicht der
Mann,
irdische Demütigungen zu ertragen, und aus Furcht, zu stürzen, wagte er
nicht
mehr, sich emporzuschwingen . . .
Lieber
wollte er ohne eine Hand zu rühren untergehen, als Lachen durch
seine Tätigkeit hervorzurufen, jenes Lachen, das er anderen nicht immer
ersparte und über das er sich oft Vorwürfe machte! Glauben Sie das
nicht auch?
Sie haben es ja selber sehr frei beobachtet, daß er weit entfernt war,
„das
Böse getan zu haben, das er tun hätte können“? Was Sie in dieser
Hinsicht
sagten, ist von tiefer Warmherzigkeit.
Welch
großen Sieg muß er doch über seine Zornausbrüche errungen haben!
Welche stillschweigende Größe, daß er sich nicht gerächt hatte, er,
dessen
brennender Stolz sich so oft für tödlich beleidigt hielt, denn ihn
fürchten
hieß ihn beschimpfen! In diesem, seinem stummen und einsamen Mut, muß
man das
finden, was die Tränen aufwiegt, die er fließen ließ! Der Meinung sind
Sie doch
auch? Oh! seien Sie es, sprechen Sie es um der Gerichtigkeit willen
aus, wie
Sie alles auszudrücken vermögen. Es gibt ja Dinge, die zwischen Himmel
und Erde
gehört werden, die überallhin Trost bringen können.
Entscheiden
Sie, ob diese argwöhnische Seele nicht selber ihren Aufschwung,
ob die körperlichen Leiden nicht diesen Ruhm, der sich so hoch
ankündigte,
verdunkelt haben!
Dies
ist alles, was ich für Sie aus meinen Gedanken formen kann . . .,
mögen sie doch den Ihren dienlich sein! Zumindest bin ich bereit, sie
Ihnen in
dieser Welt und überall immer wieder in dieser Weise zu vermitteln,
weil ich an
Sie glaube, an Ihre nachsichtige Freundschaft für mich und meinen
geringen
Verstand.
Marceline
Desbordes-Valmore
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