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Literatur


04.3


Geschichten
Marceline Desbordes-Valmore

Das Lebensbild einer Dichterin

Vierter Teil: Briefe





Briefe 6


An ihre Kinder
Brüssel, 1. November 1840, 10 Uhr abends
 
Meine geliebten Seelen, ich schreibe Euch, und alle Glocken Brüssels läuten dazu. Es ist ein einiges Geläut für die Heiligen und die Toten. Kein Pariser kann sich eine Vorstellung von diesen Feierlichkeiten machten, die hier Himmel und Erde in Bewegung setzen. Die Kirchen, die wir uns angesehen haben, waren voller Frauen mit flandrischem Kopfputz, jenem Seidentuch, das bis auf die Füße fällt. Die Kirchen wirken so ganz italienisch, daß ich gar zu gerne wünschte, ihr könntet sie sehen. Hippolyte wäre begeistert. Wir haben heute die Mutter Gottes und das Jesuskind schwarz verhüllt gesehen. Diese Gebräuche bestürmen mein Herz mit tausend Erinnerungen. Sie sind ganz kunstlos, aber das Andenken an meinen ersten süßen Glauben macht, daß ich die starren rosenbestickten Schleier und die steifen Blumenkränze, denen selbst der heftigste Sturmwind kein Blättchen entreißen könnte, anbeten muß.
 
Ich muß euch von einer Gemäldesammlung berichten, die wir gestern beim Herzog von Arenberg gesehen haben. Welch schweigende Pracht! Welch strahlende feierliche Einsamkeit! Eine Fülle von Rubens, seine beiden Frauen, die sein Pinsel lebenswarm gestaltet hat, er selbst, von eigener Hand gemalt; man meint, die Lippen bewegten sich! Wahrhaftig, hier ist das Refugium der Malerei, man spürt, daß sie wie eine tiefe Religion verehrt wird, ohne viele Worte. Doch was werdet ihr sagen, wenn ihr hört, daß wir den wahren Kopf des Laokoon gesehen haben, den der Herzog von Arenberg für hundertsechzigtausend Franken gekauft hat? Wenn ich tausend Jahre lebte, könnte ich dies Wunderwerk nicht vergessen, das mich nicht mehr losläßt. Dieses von Schmerz und bittern Selbstvorwürfen wie überströmte Haupt! Die Venezianer haben es bei ihren Ausgrabungen gefunden, lange nach der Entdeckung der wundervollen Gruppe, deren eigentlicher Kopf nie gefunden worden war. Sein Anblick ist herzzerreißend, und man erwartet, den in Seelenqual weit aufgerissenen Mund aufschreien zu hören. Der Anblick der freiliegenden Zahnreihen, ganz ohne Verzerrung, trägt viel zu dem martervollen Eindruck bei. Es ist kein Greis, wie bei der Gruppe, sondern ein Mann in der Kraft und Schönheit seiner Jahre. Er weint, wie ich nie Marmor weinen sah, wie man fühlt, daß nur ein Vater weinen kann, der seine Kinder rettungslos verloren sieht. Hippolyte hat einmal die Beobachtung gemacht, daß diese recht jung aussehen, als Kinder eines solchen Greises. Er würde hier mit Begeisterung sehen, wie gut ihre Jugend zu seinen Jahren paßt. Sie dürften fünfzehn Jahre alt sein. – Doch was erzähle ich da! Alles, was ich darüber sage, ist so blaß, daß es mehr Sinn hat, zu unserer Wirklichkeit zurückzukehren.

 
 
 
An Valmore
Douai, 9. November 1840
 
Es gelang mir nicht, das Fenster der Wagentüre herabzulassen, die uns trennte, um Dir noch einmal die Hand zu drücken. Ich gestehe Dir, daß es mir ein trautes Gefühl war, Dich mit einer Person zu wissen, die ich nicht mehr als Fremden betrachten kann. Es war wenigstens kein kaltes Herz, das neben dem Deinen schlug, mein lieber Mann.
 
Mit großer Bewegung habe ich die Glocken läuten hören, die einst für meinen Vater und meine Mutter die Stunden geschlagen. Von weitem sehe ich den Eingang zu unserer Gasse . . . Innige Erinnerung ist der unfehlbare Garant der Unsterblichkeit. Wie werden doch wir beide Seite an Seite durch sie schreiten! Wir haben so viel in dieser Sparkasse angelegt! Ich umarme Dich, mein guter Engel, und ich trenne mich nicht mehr von Dir, als ob Du im Nebenzimmer wärest.

 

 
15. Dezember 1840
 
Du glaubst es wohl, daß ich zu jeder Stunde ein zartes und trauriges Entbehren empfinde, Dich nicht zu jeder Zeit um mich zu haben; selbst um mich anzukleiden, was Du oft mit einer Güte tatest, die mich rührt und mir durch und durch geht,  Du!
 
 

 
An ihre Tochter Ondine
Paris, 26. August 1841
 
Ich will Dir nicht sagen, was ich empfand, als ich Dich wegfahren sah, und am folgenden Tag, mein guter Engel. Dein Brief hat mir so viel Glück gebracht, daß ich mich nicht beklagen darf, es mir erkauft zu haben . . . Line, ich hab Dich lieb, ich liebe alles, was Dich glücklich macht . . . Das Meer bedeutet Dir dasselbe, was es mir gewesen ist. Du hast es wiedererkannt, weil Du es mit meinen Augen gesehen hast, als ich ungefähr in Deinem Alter war. Bist Du denn nicht seit damals in einem Winkel meines Selbst verborgen? Ich habe viele Jahre gebraucht, um Dich in die Welt zu setzen. Wir sind ja nur eins, mein Kind, zwei geworden durch Gottes Willen. Deshalb beklage ich es immer, Dich nicht nahe genug zu fühlen. Wie glücklich aber bin ich, daß Du dies Meer liebst. Es wird Dir die Gesundheit wiedergeben, dessen bin ich gewiß . . .

 
 

An Valmore
Orléans, 16. Jänner 1842
 
. . . Ich habe die Kathedrale wieder gesehen. Überall, wo es etwas Schönes gibt, umschweben mich Deine Gedanken. Du hast  meine Bewunderung für all das sehr entwickelt. Italien hat mir einen Schleier vom Auge genommen. Ich erbitte von Gott immer dies: leben zu können, um Dich zu lieben und seine Werke zu bewundern.

 

 
16. Mai 1846
 
Warum liest Du die Künsteleien, die ich geschrieben habe. Solange dieses Ärgernis währt, von dem ich Dich so gerne heilte, ist das weder klug noch gesund. Nein, ich habe nicht all das gelitten, was diese Seiten erzählen. Ich werde Dir Briefe von unserer armen Pauline zeigen, die mir als Text zu den Elegieen gedient haben, deren Grundempfinden allerdings in meiner Veranlagung vorhanden waren. Die Gemütsbewegungen, von denen sie mir erzählte, formte ich zu Versen; auch ich habe solche erlebt, aber bedaure mich nicht wegen all dieser, die Du mit Rührung liest; und dann, mein Vielgeliebter, diese traurigen Vögel haben sanftem Seelenfrieden den Platz geräumt. Ernsteres Mißgeschick hat aus Dir und mir eine Beute gemacht, die sich weniger harmonisch ausnimmt. Wenn ich aber von dem Schrecken des Elends, das wir seit einem Jahr erleiden, absehe, würde ich mich als die glücklichste aller Frauen fühlen.

 
 

Paris, 17. Juni 1846
 
Niemals habe ich mehr in Erwartung gelebt – zu leben. Es ist, als ob ich mich in einer Herberge befände, an irgendeiner großen Landstraße, und ausschaute, ob die Pferde kommen. Zumindest erhellt die Sonne das Warten. Du weißt, für mich ist sie die Lampe des Paradieses, und ich sehe Dich durch dieses schöne Licht, das alle Schatten meines Lebens schwinden läßt.
 
 
 

Paris, den 12. September 1846
 
Ich erhalte Deinen lieben Brief vom 10. Ich möchte sogleich auf alle Deine Fragen Antwort geben, um Dein Herz zu beruhigen. Die immer wesentliche Frage ist wohl die, von Paris fortzuziehen, dessen ich zehntausendmal müder bin als Du. Du hast mich in dieser Hinsicht nicht richtig beurteilt; ich habe es immer verabscheut. So kann Wahrheit nie den ersten falschen Eindruck auslöschen? Ich habe aus Pflichtbewußtsein, aus Mutterliebe, aus Liebe für Dich diese Stadt den abenteuerlichen Reisen, den Fehlschlägen in der Provinz vorgezogen. Doch ein sicheres Heim – wo immer es sei und fern von Intrigen und Mißverständnissen, dem falschen Schein, dem grauenhaften Antichambrieren – einen Blumentopf am Fenster und Dich zufrieden im bescheidensten Häuschen, - das allein würde mir allzeit zu meinem inneren Glück genügen. – Ich habe nicht fälschlich, noch leichthin, noch um des Reimes willen gesagt: „Ich bin nicht für die laute Welt.“ Ich habe die Wahrheit gesagt. Paris wäre mir nur dann erträglich gewesen, wenn ich euch alle zufrieden gesehen hätte. Das sage ich vor Gott.

 

 
Paris, 29. Oktober 1846
 
Ich würde mir große Vorwürfe machen, wenn ich Dich wissen ließe, welche Martern mich hier Tag und Nach zerreißen; doch hast Du nicht alles erraten? Weißt Du es nicht, daß ich wirklich und seit langem nur darum noch Hoffnung habe für dieses geliebte Kind, weil Gott groß ist und sich zuweilen von glühenden Gebeten erweichen läßt? Aber weder die Ärzte, die ich befrage, noch sonst etwas auf Erden könnte mich blind machen gegen die ungeheure Gefahr dieser verhängnisvollen Krankheit. Erwäge nun, welche Schrecken meine einsamen Nächte mir gebracht haben, und Du wirst entsetzt sein oder doch überzeugt von meinem wahren Mut und meiner tiefen Liebe zu euch allen, denen ich meine Verzweiflung fern zu halten suche, wirst überzeugt sein von meinem heiligen Bestreben, meine zugleich geliebte und schreckliche Mission zu erfüllen, ohne von euch zu verlangen, daß ihr allzusehr die Qualen mit mir teilt. Darum habe ich Dein Fernsein mit mehr als Entsagung ertragen, darum Ondine zu Dir gesandt; sie ist zu zart für solche Prüfungen. Du weißt alles. Ich verlange also nichts von unserm prächtigen Doktor Veyne, als was er mir geben kann und gerne gibt: seine Gegenwart. Er tut in jeder Weise seine Pflicht: wenn er ohne Hoffnung ist, so sagt er es mir nicht. Er kommt! Dafür segne ich ihn. Du weißt, daß ich mich über die Wissenschaft der Ärzte keiner tröstlichen Täuschung hingebe. Ich glaube an Gott. Wenn er mich schlägt, so weiß ich dennoch, daß es Gott ist, und ich preise ihn dafür. Ich habe Dich unsagbar lieb! Das Verlangen Deines oft so traurigen Herzens nach der glühenden Zuneigung des meinigen ist mir immer gegenwärtig. Ich gebe um Deinetwillen treulich acht auf meine Gesundheit, und ich küsse Dich! Hundertmal am Tag!




Paris, den 18. November 1846
 
Ich küsse Dich von ganzer Seele. Mitten durch die Winterdunkelheit komme ich zu Dir, um Deine Einsamkeit zu trösten und aufzuatmen von dieser harten Trennung, die so entsetzlich ist, daß ich sie ertrage, ohne mir doch vorstellen zu können, daß es möglich sei, sie zu ertragen.
 
Es wollte heute gar nicht Tag werden. Alle Zimmer waren voll schwerer giftiger Nebel, denn die nachbarlichen Kamine speien ihre Rauchfluten über uns aus. Man hat nicht einmal das Behagen einer warmen Kaminecke, denn man muß Fenster und Türen aufreißen. Ich  spreche Dir von all diesen häuslichen Kleinigkeiten, weil ich mich nicht entschließen kann, Dein Herz mit den Einzelheiten einer Krankheit zu betrüben, die uns alle wie angebunden hält und unter dem beständigen Druck der unerwartetsten Ereignisse. Der häufige Schlaf, der oft gewaltige Appetit vermögen nicht die verschiedenen Leiden des lieben Kindes zu lindern. Ihr Widerstreben gegen den so guten Arzt, gegen die Mittel, die er verordnet, zeigt sich von betrübender Heftigkeit. Sie entwickelt dann eine Kraft und Willensstärke, die mich geradezu verwirrt. Wir haben den Vormittag dazu benutzt, ihr Zimmer durch meinen Schreibsekretär zu verschönen, nebst einem Fauteuil, den sie sich schon seit Tagen mit glühender Freude wünschte. Was ihr aber aufs heftigste mißfällt, das ist das Bett Ondinens, darin ich nun bei ihr Nachtwache halte. Armes eifersüchtiges Kind, sie läßt sich ganz hinreißen von ihrer Abneigung gegen die Schwester. Herr Veyne sagte mir gestern, wenn die gegenwärtige Krisis überstanden sei, so werde sie wieder vernünftig werden. Sonderbare Sache! Diese Krankheit ist so eigentümlich veränderlich! Oft spricht sie mit ihrer natürlichen Stimme und ißt, als sei sie ganz wohl; überdies schläft sie besser, als seit drei Jahren. Gott ist so groß, so mächtig, daß ich alle diese Dinge mitansehe, als lebte ich zur Zeit des Lazarus. Doch ich würde mich gern in Deine Arme schmiegen, die mich so oft  beschützt haben, mein lieber, mein geliebter Mann! Du herrlicher Vater eines herrlichen Sohnes! Segne mit mir dieses unsägliche Glück, diesen unwiderleglichen Beweis von der Liebe Gottes. Er ist wie ein Freudenfeuer zwischen uns, um die schlimmen Wege zu erhellen.
 
. . . Herr Balzac hat gestern einen sehr herzlichen Brief an unsere kleine Kranke geschrieben, hat ihr Früchte, Wein und Blumen gesandt und ihr mitgeteilt, daß er alles daransetzen werde, um Dich ganz ernstlich uns wieder zuzuführen. Möge der Himmel ihm beistehen!

 
 

1847
 
Meine armen, nach Dir ausgespannten Schwingen müssen sich jeden Augenblick rückwärts wenden. Ich finde nur dann Ruhe und Aufatmen, wenn dies liebe kleine Mädchen mich aufatmen läßt. Gestern ist sie mit unbeschreiblichem Entzücken von ein Uhr bis halb neun Uhr aufgewesen. Herr Veyne ist verblüfft. Sie schläft und ißt gut. Ich sage Dir, für den Zuschauer ist es wie ein Wunder. Herr Blanchet, gesprächiger als unser Arzt, hat mir über die Phänomene dieser Krankheit Dinge gesagt, die den Verstand verwirren können. Was mich betrifft, so wandle ich mit geschlossenen Augen unter einem Willen, der stärker ist als der meine!
 
Ich habe heute keine Neuigkeiten für Dich. Die schlechten – daran hast Du nur allzu viele! Die guten sind aber selten.








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