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Literatur


04.3


Geschichten
Marceline Desbordes-Valmore

Das Lebensbild einer Dichterin

Vierter Teil: Briefe





Briefe 8


Alltag und Elend
 
Die unaufhörliche Heimsuchung, der mit hinreißender Kraft des Herzens ertragene Jammer ihres Lebens wird aus den folgenden Briefen offenbar. Sie zeigen die Verzweiflung der ewig vom Schicksal Gehetzten und gleichzeitig das Wunderbare, wie inmitten ihres eigenen Leidens Marceline Desbordes-Valmore allem fremden Leiden hilfreich zur Seite stand. Es wäre leicht gewesen, solche Beispiele sowohl ihrer Not als ihrer Nothilfe noch zu vermehren, doch schildert sich in diesen wohl schon sichtbaren die große erduldete und zu reinster Humanität erhobene Tragik ihres heroischen Dasein.

 


An ihren Bruder
5. September 1816
 
Ich müßte Dich täuschen, mein teurer Freund, wenn ich Dir sagte, daß dieses arme gebrochene Herz imstande sei, sich wieder an diese, nun für mich so traurige Welt zu binden. Nein nichts, nichts wird diese Leere ausfüllen, für die es gar keinen Ausdruck gibt, so groß ist die Niedergeschlagenheit, die sie mir bereitet. Nur dünkt mir, als ob meine Vernunft nicht mehr in Gefahr sei, sich gänzlich zu verwirren, wie man und ich selbst es fürchtete. Das Leben erscheint mir jetzt so lang, war es doch so grausam für mich! . . . Nein, ich kann in Worten nicht wiedergeben, was mich schmerzt oder vielmehr den einzigen Schmerz, der Tag und Nacht auf meiner Brust und meinem zerrissenen Herzen lastet . . .

Papa befindet sich wohler . . . Wie wahr ist es doch, daß ich nur für ihn mich entschließen konnte, weiter beim Theater zu bleiben! Es ist das größte Opfer, das ich um der Vernunft willen jemals gebracht habe.




2. Jänner (lies 1817)

Ist es zu spät, mein teurer Felix, Dich mit aller Zärtlichkeit einer Schwester, einer Freundin zu umarmen? Alle Tage, alle Monate sind gleich für diejenigen, die einander lieben, und Du weißt, daß ich Dich von ganzem Herzen liebe. Gedulde Dich noch wegen meines Porträts, mein Freund, Du wirst es nunmehr bald besitzen. Wenn das Bildnis einer Schwester, eines unglücklichen Wesens, Deine Freundschaft befriedigen kann, wirst Du zufrieden sein. Dein Brief hat mich entzückt, Du scheinst über Dein Schicksal unbesorgt, und dies beruhigt ein wenig mein trauriges Herz, und ich hätte Dich dafür umarmen mögen, daß Du mir ein Gefühl vermittelt hast, das der Freude gleicht. Wenn das Gebet einer Seele, die nichts mehr für sich selbst zu verlangen hat, von Gott erhört wird, werden alle meine Verwandten, die ich mit so viel Innigkeit liebe, von den schmerzlichen und tiefen Leiden, die ich empfinde, frei sein. Es scheint mir, mein lieber Bruder, daß ich genug für mehrere leide . . . Welch ein Jahr ist eben für Deine arme Marceline hingegangen! – Und das, was es mir geraubt hat, wird mir niemals wiedergegeben sein, nein, niemals in dieser Welt. Ich muß das Ende einer für mich recht langen Reise abwarten! Mein armer Sohn, mein liebreizendes Kind hat mir allen Kummer leichter gemacht. Kein Kind hat es mehr verdient, von seiner unglücklichen Mutter zu jeder Stunde beweint zu werden. Erinnerst Du Dich seiner? Wie schön war er doch! Wie gut!




An Duthilloeul

- Zuerst Friedensrichter, dann Bibliothekar der Stadt Dourai, hat sich, sovielmal er konnte, der unglücklichen Lage des Felix Desbordes angenommen. -
 
Bordeaux, den 24. Mai 1826

Sie kennen jetzt einen meiner tiefsten Schmerzen. Das Los meines Bruders ist seit fünfzehn Jahren eine geheime und unheilbare Wunde für mich. Alle meine Anstrengungen, alle meine Tränen haben die verderblichen Folgen seines entscheidenden Schrittes ins Leben nicht abwenden können. Er hat sich mit vierzehn Jahren, um seinen bedürftigen Vater zu unterstützen, anwerben lassen und hat seine ganze Jugend im Kriege und in der Gefangenschaft auf den schottischen Pontons verbracht, und alle diese Dinge haben seine geistige und leibliche Gesundheit erschüttert. Wenngleich er mir einer der liebsten Menschen auf Erden ist, nicht nur weil ich ihn als Kind geliebt habe, sondern weil er gut und unglücklich ist, so wage ich doch nur mit Zagen, ihn dem Erbarmen braver Leute zu empfehlen. Er ist von langem Leiden geschwächt und unbeständig, die Erinnerung an so viel verlorene Hoffnungen, an die Demütigungen, denen er unterworfen gewesen, ergreifen ihn zuweilen mit solcher Heftigkeit, daß er in Verzweiflung erstickt und ziellos und schutzlos umherirrt. Monate lang weiß ich nicht, was aus ihm geworden ist, schreibe überallhin, verzehre mich in Unruhe, und schließlich erhalte ich einen Brief von ihm, in welchem er mich als seine einzige Freundin um Hilfe angeht. Das bin ich in Wahrheit, mein Herr, solange ich denken kann; aber ich bin machtlos, ihm das verlorene Glück zu ersetzen, das Glück, das oft gar nicht von uns selbst abhängt, sondern von einer völlig gegebenen Lage, die den Kindern von ihren Eltern vorbereitet wird.

. . . Ich, die ich selbst heimatlos bin und als Mutter von drei kleinen Kindern meinen Unterhalt der Arbeit meines Gatten verdanke, der wiederum für einen alten Vater, unseren ständigen Begleiter auf unsern Wanderreisen, zu sorgen hat, – Sie werden begreifen, mein Herr, daß mir nicht das Glück zuteil geworden ist, meinen armen Verwandten viel zukommen zu lassen. Ich sende meinem Bruder zwanzig Franken im Monat, was ihm, wie ich wenigstens hoffe, den Aufenthalt in einem Krankenhaus oder militärischen Hospiz ermöglichen könnte, bis meine Bemühungen, ihn im Hôtel des Invalides in Paris unterzubringen, einigen Erfolg haben. Nun scheint er das Hospiz verlassen zu haben, ohne weiteres abzuwarten, und ich bin von neuem in lebhafter Unruhe . . .

Man sagt, ich hätte eine Pension. Ich erhielt vom Minister einen Brief, der mir das anzeigte, man hat es sogar in den Zeitungen angezeigt; doch bis jetzt ist es nichts damit. Ich verdiene sie so wenig, habe sie weder erwünscht noch erbeten, so daß ich ihr Ausbleiben kaum beklagen kann. Ich erzähle Ihnen davon, mein Herr, damit Sie meine traurige Vermögenslage genau überblicken können. Vor vier Jahren bereits bin ich von jener Liste Pensionsberechtigter (in die das heimliche Wohlwollen irgendeines Mächtigen mich eingetragen) gestrichen worden, weil niemand vom Theater einer solchen Gunst teilhaftig werden kann.
 
Kurz und gut, mein Herr, wenn Sie durch Ihre gütige Unterstützung meinem unglücklichen Bruder einen kleinen Posten verschaffen könnten, den er in seinem fast gebrechlichen Zustand auszufüllen imstande wäre, so würden Sie mir einen unsagbaren Dienst erweisen, der mir eine große, dauernde Beruhigung wäre.

 


An Caroline Branchu
Lyon, 4. März 1830

 

Wie albern und martervoll ist doch die Politik! Er brauchte nur seine prinzliche Nase zu zeigen, und alles wäre gut gegangen. Nein! Die Diplomatie und der Geist des Mißverstehens haben das Wort und machen Winkelzüge – natürlich falsche! Jetzt werden sich auch noch die Parteien erheben und sich in diesen Brotstreit mischen. Gott weiß, in welchem Ofen das Brot der Hungernden gebacken wird.




Paris, 30. Oktober 1831

Das Fieber verläßt mich nicht. Dennoch habe ich es heute durch Schnee und Regen geschleppt, des armen Sträflings willen, dessen Traurigkeit allerdings nicht unerträglicher sein kann als die meine.




Châlons, 14. November 1832

In meinem Zimmer habe ich eine junge Taubstumme, die vom Taubstummeninstitut mit einem Herrn zu ihrer Familie nach Hause fährt. Dieser hat mir sie für diese Nacht anvertraut, denn er hat bemerkt, mit welcher Sorge ich mich ihrer während der Fahrt angenommen habe. Morgen werden wir wieder zusammen wegfahren.




An A. Gergerès

- Advokat im königlichen Gericht in Bordeaux und vertrauter Freund der Familie Valmore. -

Lyon, den 29. November 1831

Ihre Blicke, lieber Gergerès, sind jetzt auf Lyon gerichtet. Das Interesse, das Sie an der ganzen Menschheit nehmen, wird Ihr Herz mitfühlend und ergriffen gestimmt haben. Ich würde vergeblich versuchen, die furchtbaren Einzelheiten zu schildern; ich hätte nicht die Kraft zu vollenden. Sie werden auch aus wenigen Worten alles begreifen. Wir haben eine Wiederholung des blutigen Panoramas vom Juli erlebt, ein schreckliches Gegenbeispiel der drei Seiten im Buche der Geschichte, die von Kugeln geschrieben worden sind. Wie viel unschuldige Tote! Meine ganze Familie ist gerettet. Doch, lieber Gott! man kauft gegenwärtig so viel Trauerkleider, daß wir in die Kniee sinken vor Überraschung, nicht selbst auch welche tragen zu müssen! An diesem ungeheuren Aufstand hatte die Politik keinen Anteil. Es war Empörung des Herzens . . . Die Weiber warfen sich dem Feuer entgegen und schrieen: »Tötet uns, dann haben wir keinen Hunger mehr!« Zwei-, dreimal vernahm man den Ruf: »Es lebe die Republik!« Doch die Arbeiter erwiderten – und das ganze Volk mit ihnen –: »Nein, nein! Wir wollen Brot und Arbeit!«

Seit fünf Tagen sind die Aufständischen die Herren von Lyon, und es herrscht eine musterhafte Ordnung. Inmitten von Sturmgeläut, Trommelwirbel und Kugelregen, den Jammerrufen der Sterbenden und der Frauen machten wir uns auf Plünderung und Brandstiftung gefaßt, falls jene Sieger werden sollten. Nichts derartiges! Nicht ein kaltblütiges Verbrechen nach dem Kampf! Ihr Zorn hat sich daran erschöpft, in zwei, drei Häusern reicher Fabrikanten – man hatte dort unklugerweise aus den Fenstern in die Menge gefeuert –, Möbel und Uhren zu zerschlagen und Vorhänge und Teppiche zu verbrennen. Den Soldaten ist auf ihrem Rückzüge, bei dem sie trotz allem das Gewehr übergehängt hatten, grausam mitgespielt worden. Die Bevölkerung der Vorstädte hielt diese schöne Menschlichkeit für eine Falle, und man metzelte die Soldaten nieder; dreihundert sind gefallen. Die Rhone war rot! Diese arme Garde hatte sich zuerst geweigert, auf die Arbeiter, die nur mit stürmischen Rufen Brot verlangten, zu schießen. Dann aber begannen zehn oder zwanzig Hitzköpfe doch zu feuern . . . Da gab es ein großes Kampfgemenge, ein Durcheinander von Weibern, Kindern und schließlich der ganzen Bevölkerung, die sich auf die Seite der Arbeiter stellte. – Der Mut dieser Armen ist um so erstaunlicher, als sie von Hunger erschöpft und nur mit Lumpen bedeckt waren.

Welch ein Anblick! auch beim Schreiben muß ich die Zähne aufeinander pressen. Vor einem Monat, am nämlichen Tage, hatte dieselbe aufrührerische Unruhe ohne Waffen, ohne Schreie in friedlichem Strom die ganze Stadt durchflutet. Man empfängt sie, hört sie an; man gewährt ihr die kleine Lohnerhöhung, die sie erbittet. Freudenrufe ertönen. Am Abend veranstalten diese armen Leute aus Dankbarkeit eine Illumination. Den Beamten und Kaufmannsvorständen werden Ständchen gebracht. Acht Tage später verweigert man ihnen den bewilligten Tarif. Man verhöhnt sie. Ein Geschäftsmann begeht die Dummheit, einem Beschwerdeführer die Pistole vorzuhalten, mit den Worten: »Hier unser Tarif!« Da ist den bedauernswerten Armen von Lyon der Zorn zu Herz und Kopf gestiegen, und die Folge war der Aufstand.

Das Theater hat gestern wieder begonnen. Ich wage nicht, Ihnen angesichts all des Elends von unserer eigenen Not zu sprechen. Man erwartet den Herzog von Orleans, doch seit gestern ist er in der Nähe von Lyon, ohne hereinzukommen. Was hat man nur vor? Worauf wartet man, da ja alles still und friedlich ist? . . . Es heißt, man will mit starkem Aufgebot einziehen; doch ist das nicht überflüssig, wenn man alles verzeihen will? . . . Und wenn man strafen will – mein Gott! Ich möchte lieber sterben, als neue Opfer fallen sehen! . . .




An Frédéric Lepeytre

- Oberstadtsekretär von Marseille, verheiratet mit einer jungen Bekannten der Marceline, korrespondierte er jahrelang mit der Dichterin, ohne sie zu kennen. Später entwickelte sich eine tiefe und treue Freundschaft zwischen den beiden. -

Lyon, 15. Februar 1832

Sie möchten wissen, ob ich von Natur schwermütig bin, oder warum sonst ich es bin? Es ist nicht leicht, so viel Dunkles, Rätselhaftes in wenigen Worten zu entwirren. Ein jeder von uns trägt sein Geheimbuch in sich, voller Widersprüche. Tag um Tag findet sich darin ein neuer, anderer Satz, der uns selbst erstaunlich ist. Ich spreche im Bilde, denn Ihre Frage anders zu beantworten, würde mich zu traurig stimmen. Wenn meine Gedanken sich nach innen neigen, so weinen sie. In Gesprächen bin ich anders. Da gehöre ich dem momentanen Eindruck, ich sympathisiere mit dem, der zu mir redet, und ich lasse sein Wesen auf mich einwirken. Sie würden mich sehr heiter sehen, wenn Sie es selber auch wären. Bin ich allein, so gehöre ich der Vergangenheit; je mehr Kummer sie mir zugefügt hat, um so mehr hält sie mich fest. Und dann wieder habe ich leichte, strahlende, unschuldig frohe Tage, wie eine glücklich wiedergefundene Kindheit, froh über ein Nichts, von nichts betrübt. Doch selbst im Glück konnte ich mich fremdem Leid nicht verschließen – und werde es niemals können. Ich löse mich dann unwillkürlich vom eigenen Schicksal los, um das des Unglücklichen mit ihm zu teilen, seine Not mit ihm zu tragen. Mein Herz ist wie durchbohrt von stechendem Mitleid. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was ich mit anderen gelitten habe, mein üppiges Haar ist lange vor der Zeit daran ergraut.




An A. M. Duthilloeul
Lyon, 29. März 1832

 

Ist es möglich, mein Herr! Diese Stiege, die ich, als ich klein war, so oft mit Schauer von Furcht und Neugier herabgestiegen bin, diese Stiege der Rue du Guve d'Or hat einem zu Tode Verurteilten das Leben gerettet! Mein Gott, wie glücklich war ich, als ich das las! . . . Es ist unmöglich, daß die Todesstrafe nicht etwas im höchsten Maße und schrecklich Gottloses ist, da man so sehr von Freude erfüllt ist, wenn man von einem Opfer vernimmt, das sich zu retten vermochte. Wie gerne würde man sich auf die Kniee werfen, um ihm (Gott) zu danken, und man küßt tränenden Auges die herrlichen Seiten in »Der letzte Tag eines Gerichteten«! Wird der König das niemals lesen? Wird jemals nur ein einziger Kopf fallen, wenn er das gelesen haben wird? Denken Sie nicht so? Ich glaube, daß ich vergehen werde, aus Dankbarkeit für Gott, wenn man eines Tages ausrufen wird: »Keine Todesstrafe mehr!« Das ist der heiße Wunsch meines ganzen Lebens. Bedenken Sie doch, mein Herr, einen Menschen lebendig in seinen Sarg schleudern! . . . Sich zum Gott aufzuwerfen! . . . Bringen Sie es oft zur Sprache, ich bitte Sie darum! Es ist ausgeschlossen, daß die Stimmen ehrlicher Menschen nicht schließlich gehört werden. Es ist das ein großes Verbrechen, das auf uns lastet und nicht ein einziges verhütet. Im übrigen stimmen die ehrenwertesten Männer in dieser Hinsicht nicht überein, ihre Unbestechlichkeit hat nicht dieselben Gesichtspunkte, und ich verstoße vielleicht gegen Ihre Grundsätze. Gleichfalls finde ich Ihre Tribunale von betrübender Strenge, und ich habe mehr als einmal aufgeweint: »Fünf Jahre Zuchthaus, öffentlich kundgegeben!« . . . Und für was für Delikte! Es gibt so große Übeltäter, die auf Daunen schlafen! Ich bin krank an dem Leben, so wie es nun ist. Und Sie, mein Herr?




An Valmore
Paris, 2. Februar 1834

. . . Wohin jetzt fliehen, um sich zu sammeln und dieser Sucht, uns zu besuchen, zu entgehen. Mein Gott, ändern wir unseren Namen, denn Du siehst wohl, daß wir selbst in Lyon weder Ruhe noch Einsamkeit haben werden ... Die Leute und die Verpflichtung, sie zu sprechen, gehen mir auf die Nerven. Deine krankhafte Scheu hat sich so sehr auf mich übertragen, daß das Schellen der Türglocke in mir schon nervösen Aufruhr verursacht.

. . . Wann werde ich eine Gelegenheit finden, Dir die Rolle des Faliero zu senden? Mit der Post – das würde ungeheuer viel kosten.




Paris, 25. Februar 1834

Was die Aufstände betrifft, sei unbesorgt. Du weißt, daß ich vorsichtig bin und so leicht zu beunruhigen, daß ich alles schließe, nur um die Schreie nicht zu hören . . . Wo werden wir nur ein wenig friedlich leben können? Aber fürchte für mich nichts anderes, als den Schmerz mitansehen zu müssen, wie die Menschen einander Leides tun.




An Fräulein Mars
Lyon, den 6. Mai 1834


Daß Sie während dieser blutigen Woche mit zärtlicher Sorge meiner gedachten, will ich nie vergessen. Ihr Brief hat mich tief ergriffen. Ich habe Sie immer lieb gehabt, und wenn ich, wie eigentlich anzunehmen war, umgekommen wäre, so hätten Sie ein Herz verloren, das wie kein zweites erfüllt war von Ihnen und Ihrem Zauber. Auch weiß ich besser als jeder andere, daß Sie gut und aufrichtig sind, und Ihre Besorgnis überrascht mich nicht. Hier war es entsetzlich. Über sechs Tage lang tobten Sturmglocke, Feuersbrunst, sinnlose Metzeleien (Frauen, Greise und Kinder wurden erwürgt); und sechs noch grauenhaftere Nächte lang, in denen wir alles mitansahen, was man ohne zu sterben ertragen kann, erwarteten wir, mit unserem Haus in die Luft zu fliegen. Aber schließlich fanden wir uns am Leben und fast bekümmert darüber, der großen Todesgeißel entronnen zu sein; es wäre so schnell zu Ende gewesen: das Stürmen der Glocken, der Flintenkugeln und Kanonen warf ohnedies alles Leben in tiefe Ohnmacht. Ich habe wohl dreimal das unbezwingliche Verlangen nach einem Schuß ins Herz gehabt, um diese Schlächterei nicht länger miterleben zu müssen . . . Es wird noch lange nachbluten, meine liebe Hippolyte! Ich habe so etwas nur in Büchern gefunden. Doch ich glaube, ich bin dazu bestimmt, viel Trauriges mitanzusehen; denn ich muß Ihnen sagen, daß der Tod mich mehrmals an der Hand hielt, aber wieder laufen ließ. Ich sah Gott vor mir, wie ich Ihr liebes Antlitz vor mir sehe, aber ich danke ihm noch immer, daß er mich fast gewaltsam nach Lyon getrieben hat. Ich tat meine Pflicht, meinem Gatten zur Seite, umgeben von meinen Kindern: man hätte sich kein besseres Ende wünschen können. Es muß also noch einmal durchgemacht werden, und ich bedaure das; aber wir haben alle eine Aufgabe zu erfüllen, Sie wissen, daß ich versuche, sie mit Ergebung zu tragen.








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