Briefe
8
Alltag und Elend
Die
unaufhörliche
Heimsuchung, der mit hinreißender Kraft des Herzens ertragene Jammer
ihres
Lebens wird aus den folgenden Briefen offenbar. Sie zeigen die
Verzweiflung der
ewig vom Schicksal Gehetzten und gleichzeitig das Wunderbare, wie
inmitten
ihres eigenen Leidens Marceline Desbordes-Valmore allem fremden Leiden
hilfreich zur Seite stand. Es wäre leicht gewesen, solche Beispiele
sowohl
ihrer Not als ihrer Nothilfe noch zu vermehren, doch schildert sich in
diesen
wohl schon sichtbaren die große erduldete und zu reinster Humanität
erhobene
Tragik ihres heroischen Dasein.
An ihren Bruder
5.
September 1816
Ich
müßte Dich täuschen,
mein teurer Freund, wenn ich Dir sagte, daß dieses arme gebrochene Herz
imstande sei, sich wieder an diese, nun für mich so traurige Welt zu
binden.
Nein nichts, nichts wird diese Leere ausfüllen, für die es gar keinen
Ausdruck
gibt, so groß ist die Niedergeschlagenheit, die sie mir bereitet. Nur
dünkt
mir, als ob meine Vernunft nicht mehr in Gefahr sei, sich gänzlich zu
verwirren,
wie man und ich selbst es fürchtete. Das Leben erscheint mir jetzt so
lang, war
es doch so grausam für mich! . . . Nein, ich kann in Worten nicht
wiedergeben,
was mich schmerzt oder vielmehr den einzigen Schmerz, der Tag und Nacht
auf
meiner Brust und meinem zerrissenen Herzen lastet . . .
Papa
befindet sich wohler
. . . Wie wahr ist es doch, daß ich nur für ihn mich entschließen
konnte,
weiter beim Theater zu bleiben! Es ist das größte Opfer,
das ich um der Vernunft willen jemals gebracht habe.
2.
Jänner (lies 1817)
Ist
es zu spät, mein teurer
Felix, Dich mit aller Zärtlichkeit einer Schwester, einer Freundin zu
umarmen?
Alle Tage, alle Monate sind gleich für diejenigen, die einander lieben,
und Du
weißt, daß ich Dich von ganzem Herzen liebe. Gedulde Dich noch wegen
meines
Porträts, mein Freund, Du wirst es nunmehr bald besitzen. Wenn das
Bildnis
einer Schwester, eines unglücklichen Wesens, Deine Freundschaft
befriedigen
kann, wirst Du zufrieden sein. Dein Brief hat mich entzückt, Du
scheinst über
Dein Schicksal unbesorgt, und dies beruhigt ein wenig mein trauriges
Herz, und
ich hätte Dich dafür umarmen mögen, daß Du mir ein Gefühl vermittelt
hast, das
der Freude gleicht. Wenn das Gebet einer Seele, die nichts mehr für
sich selbst
zu verlangen hat, von Gott erhört wird, werden alle meine Verwandten,
die ich
mit so viel Innigkeit liebe, von den schmerzlichen und tiefen Leiden,
die ich
empfinde, frei sein. Es scheint mir, mein lieber Bruder, daß ich genug
für
mehrere leide . . . Welch ein Jahr ist eben für Deine arme Marceline
hingegangen!
– Und das, was es mir geraubt hat, wird mir niemals wiedergegeben sein,
nein,
niemals in dieser Welt. Ich muß das Ende einer für mich recht langen
Reise
abwarten! Mein armer Sohn, mein liebreizendes Kind hat mir allen Kummer
leichter
gemacht. Kein Kind hat es mehr verdient, von seiner unglücklichen
Mutter zu
jeder Stunde beweint zu werden. Erinnerst Du Dich seiner? Wie schön war
er doch! Wie gut!
An
Duthilloeul
-
Zuerst Friedensrichter, dann Bibliothekar der Stadt Dourai, hat sich,
sovielmal er konnte, der unglücklichen Lage des Felix Desbordes
angenommen. -
Bordeaux,
den 24.
Mai 1826
Sie
kennen jetzt einen
meiner tiefsten Schmerzen. Das Los meines Bruders ist seit fünfzehn
Jahren eine
geheime und unheilbare Wunde für mich. Alle meine Anstrengungen, alle
meine
Tränen haben die verderblichen Folgen seines entscheidenden Schrittes
ins Leben
nicht abwenden können. Er hat sich mit vierzehn Jahren, um seinen
bedürftigen
Vater zu unterstützen, anwerben lassen und hat seine ganze Jugend im
Kriege und
in der Gefangenschaft auf den schottischen Pontons verbracht, und alle
diese
Dinge haben seine geistige und leibliche Gesundheit erschüttert.
Wenngleich er
mir einer der liebsten Menschen auf Erden ist, nicht nur weil ich ihn
als Kind
geliebt habe, sondern weil er gut und unglücklich ist, so wage ich doch
nur mit
Zagen, ihn dem Erbarmen braver Leute zu empfehlen. Er ist von langem
Leiden
geschwächt und unbeständig, die Erinnerung an so viel verlorene
Hoffnungen, an
die Demütigungen, denen er unterworfen gewesen, ergreifen ihn zuweilen
mit
solcher Heftigkeit, daß er in Verzweiflung erstickt und ziellos und
schutzlos
umherirrt. Monate lang weiß ich nicht, was aus ihm geworden ist,
schreibe
überallhin, verzehre mich in Unruhe, und schließlich erhalte ich einen
Brief
von ihm, in welchem er mich als seine einzige Freundin um Hilfe angeht.
Das bin
ich in Wahrheit, mein Herr, solange ich denken kann; aber ich bin
machtlos, ihm
das verlorene Glück zu ersetzen, das Glück, das oft gar nicht von uns
selbst
abhängt, sondern von einer völlig gegebenen Lage, die den Kindern von
ihren
Eltern vorbereitet wird.
. .
.
Ich, die ich selbst
heimatlos bin und als Mutter von drei kleinen Kindern meinen Unterhalt
der
Arbeit meines Gatten verdanke, der wiederum für einen alten Vater,
unseren
ständigen Begleiter auf unsern Wanderreisen, zu sorgen hat, – Sie
werden
begreifen, mein Herr, daß mir nicht das Glück zuteil geworden ist,
meinen armen
Verwandten viel zukommen zu lassen. Ich sende meinem Bruder zwanzig
Franken im
Monat, was ihm, wie ich wenigstens hoffe, den Aufenthalt in einem
Krankenhaus
oder militärischen Hospiz ermöglichen könnte, bis meine Bemühungen, ihn
im
Hôtel des Invalides in Paris unterzubringen, einigen Erfolg haben. Nun
scheint
er das Hospiz verlassen zu haben, ohne weiteres abzuwarten, und ich bin
von
neuem in lebhafter Unruhe . . .
Man
sagt, ich hätte eine
Pension. Ich erhielt vom Minister einen Brief, der mir das anzeigte,
man hat es
sogar in den Zeitungen angezeigt; doch bis jetzt ist es nichts damit.
Ich
verdiene sie so wenig, habe sie weder erwünscht noch erbeten, so daß
ich ihr
Ausbleiben kaum beklagen kann. Ich erzähle Ihnen davon, mein Herr,
damit Sie
meine traurige Vermögenslage genau überblicken können. Vor vier Jahren
bereits
bin ich von jener Liste Pensionsberechtigter (in die das heimliche
Wohlwollen
irgendeines Mächtigen mich eingetragen) gestrichen worden, weil niemand
vom
Theater einer solchen Gunst teilhaftig werden kann.
Kurz
und gut, mein Herr,
wenn Sie durch Ihre gütige Unterstützung meinem unglücklichen Bruder
einen
kleinen Posten verschaffen könnten, den er in seinem fast gebrechlichen
Zustand
auszufüllen imstande wäre, so würden Sie mir einen unsagbaren Dienst
erweisen,
der mir eine große, dauernde Beruhigung wäre.
An Caroline Branchu
Lyon,
4. März 1830
Wie
albern und martervoll
ist doch die Politik! Er brauchte nur seine prinzliche Nase zu zeigen,
und alles wäre gut gegangen. Nein! Die Diplomatie und der Geist
des Mißverstehens haben das Wort und machen Winkelzüge – natürlich
falsche!
Jetzt werden sich auch noch die Parteien erheben und sich in diesen
Brotstreit
mischen. Gott weiß, in welchem Ofen das Brot der Hungernden gebacken
wird.
Paris, 30. Oktober
1831
Das
Fieber verläßt mich
nicht. Dennoch habe ich es heute durch Schnee und Regen geschleppt, des
armen
Sträflings willen, dessen Traurigkeit allerdings nicht unerträglicher
sein kann
als die meine.
Châlons,
14.
November 1832
In
meinem Zimmer habe ich
eine junge Taubstumme, die vom Taubstummeninstitut mit einem Herrn zu
ihrer
Familie nach Hause fährt. Dieser hat mir sie für diese Nacht
anvertraut, denn
er hat bemerkt, mit welcher Sorge ich mich ihrer während der Fahrt
angenommen
habe. Morgen werden wir wieder zusammen wegfahren.
An
A. Gergerès
-
Advokat im königlichen Gericht in Bordeaux und vertrauter Freund der
Familie Valmore. -
Lyon,
den 29.
November 1831
Ihre
Blicke, lieber
Gergerès, sind jetzt auf Lyon gerichtet. Das Interesse, das Sie an der
ganzen Menschheit
nehmen, wird Ihr Herz mitfühlend und ergriffen gestimmt haben. Ich
würde vergeblich versuchen,
die furchtbaren Einzelheiten zu schildern; ich hätte nicht die Kraft zu
vollenden. Sie werden auch aus wenigen Worten alles begreifen. Wir
haben eine Wiederholung
des blutigen Panoramas vom Juli erlebt, ein schreckliches Gegenbeispiel
der
drei Seiten im Buche der Geschichte, die von Kugeln geschrieben worden
sind.
Wie viel unschuldige Tote! Meine ganze Familie ist gerettet. Doch,
lieber Gott!
man kauft gegenwärtig so viel Trauerkleider, daß wir in die Kniee
sinken vor
Überraschung, nicht selbst auch welche tragen zu müssen! An diesem
ungeheuren
Aufstand hatte die Politik keinen Anteil. Es war Empörung des Herzens
. . . Die
Weiber warfen sich dem Feuer entgegen und schrieen: »Tötet uns, dann
haben wir
keinen Hunger mehr!« Zwei-, dreimal vernahm man den Ruf: »Es lebe die
Republik!« Doch die Arbeiter erwiderten – und das ganze Volk mit ihnen
–:
»Nein, nein! Wir wollen Brot und Arbeit!«
Seit
fünf Tagen sind die
Aufständischen die Herren von Lyon, und es herrscht eine musterhafte
Ordnung.
Inmitten von Sturmgeläut, Trommelwirbel und Kugelregen, den Jammerrufen
der
Sterbenden und der Frauen machten wir uns auf Plünderung und
Brandstiftung
gefaßt, falls jene Sieger werden sollten. Nichts derartiges! Nicht ein
kaltblütiges Verbrechen nach dem Kampf! Ihr Zorn hat sich daran
erschöpft, in
zwei, drei Häusern reicher Fabrikanten – man hatte dort unklugerweise
aus den
Fenstern in die Menge gefeuert –, Möbel und Uhren zu zerschlagen und
Vorhänge
und Teppiche zu verbrennen. Den Soldaten ist auf ihrem Rückzüge, bei
dem sie
trotz allem das Gewehr übergehängt hatten, grausam mitgespielt worden.
Die
Bevölkerung der Vorstädte hielt diese schöne Menschlichkeit für eine
Falle, und
man metzelte die Soldaten nieder; dreihundert sind
gefallen. Die Rhone war rot! Diese arme Garde hatte sich zuerst
geweigert, auf
die Arbeiter, die nur mit stürmischen Rufen Brot verlangten, zu
schießen. Dann
aber begannen zehn oder zwanzig Hitzköpfe doch zu feuern . . . Da gab
es
ein
großes Kampfgemenge, ein Durcheinander von Weibern, Kindern und
schließlich der
ganzen Bevölkerung, die sich auf die Seite der Arbeiter stellte. – Der
Mut
dieser
Armen ist um so erstaunlicher, als sie von Hunger erschöpft und nur mit
Lumpen
bedeckt waren.
Welch
ein Anblick! auch
beim Schreiben muß ich die Zähne aufeinander pressen. Vor einem Monat,
am
nämlichen Tage, hatte dieselbe aufrührerische Unruhe ohne Waffen, ohne
Schreie
in friedlichem Strom die ganze Stadt durchflutet. Man empfängt sie,
hört sie
an; man gewährt ihr die kleine Lohnerhöhung, die sie erbittet.
Freudenrufe
ertönen. Am Abend veranstalten diese armen Leute aus Dankbarkeit eine
Illumination. Den Beamten und Kaufmannsvorständen werden Ständchen
gebracht.
Acht Tage später verweigert man ihnen den bewilligten Tarif. Man
verhöhnt sie.
Ein Geschäftsmann begeht die Dummheit, einem Beschwerdeführer die
Pistole
vorzuhalten, mit den Worten: »Hier unser Tarif!« Da ist den
bedauernswerten
Armen von Lyon der Zorn zu Herz und Kopf gestiegen, und die Folge war
der
Aufstand.
Das
Theater hat gestern
wieder begonnen. Ich wage nicht, Ihnen angesichts all des Elends von
unserer
eigenen Not zu sprechen. Man erwartet den Herzog von Orleans, doch seit
gestern
ist er in der Nähe von Lyon, ohne hereinzukommen. Was hat man nur vor?
Worauf
wartet man, da ja alles still und friedlich ist? . . . Es heißt, man
will
mit
starkem Aufgebot einziehen; doch ist das nicht überflüssig, wenn man
alles
verzeihen will? . . . Und wenn man strafen will – mein Gott! Ich möchte
lieber sterben, als neue
Opfer fallen sehen! . . .
An
Frédéric Lepeytre
- Oberstadtsekretär
von Marseille, verheiratet mit einer jungen Bekannten der Marceline,
korrespondierte er jahrelang mit der Dichterin, ohne sie zu kennen.
Später entwickelte sich eine tiefe und treue Freundschaft zwischen den
beiden. -
Lyon,
15. Februar 1832
Sie
möchten wissen, ob ich
von Natur schwermütig bin, oder warum sonst ich es bin? Es ist nicht
leicht, so
viel Dunkles, Rätselhaftes in wenigen Worten zu entwirren. Ein jeder
von uns
trägt sein Geheimbuch in sich, voller Widersprüche. Tag um Tag findet
sich
darin ein neuer, anderer Satz, der uns selbst erstaunlich ist. Ich
spreche im
Bilde, denn Ihre Frage anders zu beantworten, würde mich zu traurig
stimmen.
Wenn meine Gedanken sich nach innen neigen, so weinen sie. In
Gesprächen bin
ich anders. Da gehöre ich dem momentanen Eindruck, ich sympathisiere
mit dem,
der zu mir redet, und ich lasse sein Wesen auf mich einwirken. Sie
würden mich
sehr heiter sehen, wenn Sie es selber auch wären. Bin ich allein, so
gehöre ich
der Vergangenheit; je mehr Kummer sie mir zugefügt hat, um so mehr hält
sie
mich fest. Und dann wieder habe ich leichte, strahlende, unschuldig
frohe Tage,
wie eine glücklich wiedergefundene Kindheit, froh über ein Nichts, von
nichts
betrübt. Doch selbst im Glück konnte ich mich fremdem Leid nicht
verschließen –
und werde es niemals können. Ich löse mich dann unwillkürlich vom
eigenen
Schicksal los, um das des Unglücklichen mit ihm zu teilen, seine Not
mit ihm zu
tragen. Mein Herz ist wie durchbohrt von stechendem Mitleid. Ich
kann Ihnen gar nicht sagen, was ich mit anderen gelitten habe, mein
üppiges
Haar ist lange vor der Zeit daran ergraut.
An A. M. Duthilloeul
Lyon,
29. März 1832
Ist
es möglich, mein Herr!
Diese Stiege, die ich, als ich klein war, so oft mit Schauer von Furcht
und
Neugier herabgestiegen bin, diese Stiege der Rue du Guve d'Or hat einem
zu Tode
Verurteilten das Leben gerettet! Mein Gott, wie glücklich war ich, als
ich das
las! . . . Es ist unmöglich, daß die Todesstrafe nicht etwas im
höchsten
Maße und
schrecklich Gottloses ist, da man so sehr von Freude erfüllt ist, wenn
man von
einem Opfer vernimmt, das sich zu retten vermochte. Wie gerne würde man
sich
auf die Kniee werfen, um ihm (Gott) zu danken, und man küßt tränenden
Auges die
herrlichen Seiten in »Der letzte Tag eines Gerichteten«! Wird der König
das
niemals lesen? Wird jemals nur ein einziger Kopf fallen, wenn er das
gelesen
haben wird? Denken Sie nicht so? Ich glaube, daß ich vergehen werde,
aus
Dankbarkeit für Gott, wenn man eines Tages ausrufen wird: »Keine
Todesstrafe
mehr!« Das ist der heiße Wunsch meines ganzen Lebens. Bedenken Sie
doch, mein
Herr, einen Menschen lebendig in seinen Sarg schleudern! . . . Sich zum
Gott
aufzuwerfen! . . . Bringen Sie es oft zur Sprache, ich bitte Sie darum!
Es ist
ausgeschlossen, daß die Stimmen ehrlicher Menschen nicht schließlich
gehört
werden. Es ist das ein großes Verbrechen, das auf uns lastet und nicht
ein
einziges verhütet. Im übrigen stimmen die ehrenwertesten Männer in
dieser
Hinsicht nicht überein, ihre Unbestechlichkeit hat nicht dieselben
Gesichtspunkte, und ich verstoße
vielleicht gegen Ihre Grundsätze. Gleichfalls finde ich Ihre Tribunale
von
betrübender Strenge, und ich habe mehr als einmal aufgeweint: »Fünf
Jahre
Zuchthaus, öffentlich kundgegeben!« . . . Und für was für Delikte! Es
gibt so
große Übeltäter, die auf Daunen schlafen! Ich bin krank an dem Leben,
so wie es
nun ist. Und Sie, mein Herr?
An
Valmore
Paris,
2. Februar
1834
. . .
Wohin
jetzt fliehen, um
sich zu sammeln und dieser Sucht, uns zu besuchen, zu entgehen. Mein
Gott,
ändern wir unseren Namen, denn Du siehst wohl, daß wir selbst in Lyon
weder
Ruhe noch Einsamkeit haben werden ... Die Leute und die Verpflichtung,
sie zu
sprechen, gehen mir auf die Nerven. Deine krankhafte Scheu hat sich so
sehr auf
mich übertragen, daß das Schellen der Türglocke in mir schon nervösen
Aufruhr
verursacht.
. .
.
Wann werde ich eine
Gelegenheit finden, Dir die Rolle des Faliero zu senden? Mit der Post –
das
würde ungeheuer viel kosten.
Paris, 25. Februar
1834
Was
die Aufstände betrifft,
sei unbesorgt. Du weißt, daß ich vorsichtig bin und so leicht zu
beunruhigen,
daß ich alles schließe, nur um die Schreie nicht zu hören . . . Wo
werden
wir nur
ein wenig friedlich leben können? Aber fürchte für mich nichts anderes,
als den
Schmerz mitansehen zu müssen, wie die Menschen einander Leides tun.
An
Fräulein Mars
Lyon,
den 6. Mai
1834
Daß
Sie während dieser
blutigen Woche mit zärtlicher Sorge meiner gedachten, will ich nie
vergessen.
Ihr Brief hat mich tief ergriffen. Ich habe Sie immer lieb gehabt, und
wenn
ich, wie eigentlich anzunehmen war, umgekommen wäre, so hätten Sie ein
Herz
verloren, das wie kein zweites erfüllt war von Ihnen und Ihrem Zauber.
Auch
weiß ich besser als jeder andere, daß Sie gut und aufrichtig sind, und
Ihre
Besorgnis überrascht mich nicht. Hier war es entsetzlich. Über sechs
Tage lang
tobten Sturmglocke, Feuersbrunst, sinnlose Metzeleien (Frauen, Greise
und
Kinder wurden erwürgt); und sechs noch grauenhaftere Nächte lang, in
denen wir
alles mitansahen, was man ohne zu sterben ertragen kann, erwarteten
wir, mit
unserem Haus in die Luft zu fliegen. Aber schließlich fanden wir uns am
Leben
und fast bekümmert darüber, der großen Todesgeißel entronnen zu sein;
es wäre
so schnell zu Ende gewesen: das Stürmen der Glocken, der Flintenkugeln
und
Kanonen warf ohnedies alles Leben in tiefe Ohnmacht. Ich habe wohl
dreimal das
unbezwingliche Verlangen nach einem Schuß ins Herz gehabt, um diese
Schlächterei nicht länger miterleben zu müssen . . . Es wird noch lange
nachbluten, meine liebe Hippolyte! Ich habe so etwas nur in Büchern
gefunden.
Doch ich glaube, ich bin dazu bestimmt, viel Trauriges mitanzusehen;
denn ich
muß Ihnen sagen, daß der Tod mich mehrmals an der Hand hielt, aber
wieder
laufen ließ. Ich sah Gott vor mir, wie ich Ihr liebes Antlitz vor mir
sehe,
aber ich danke ihm noch immer, daß er mich fast gewaltsam nach Lyon
getrieben
hat. Ich tat meine Pflicht, meinem Gatten zur Seite, umgeben von meinen
Kindern: man hätte sich kein besseres Ende wünschen können. Es muß also
noch
einmal durchgemacht werden, und ich bedaure das; aber wir haben alle
eine Aufgabe zu
erfüllen, Sie wissen, daß ich versuche, sie mit Ergebung zu tragen.