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Literatur


04.3


Geschichten
Marceline Desbordes-Valmore

Das Lebensbild einer Dichterin

Vierter Teil: Briefe





Briefe 9


An A.Gergerès
Lyon, 17. Februar 1835

. . . Nun hören Sie mein äußeres Leben: ich werde krank, ich sinne und liebe und hetze mich innerlich ab mit dem Gedanken an alles das, was ich tun möchte, um mein Haus instand zu halten, und ich bitte Gott, daß er mich am Leben läßt. Dann verbringe ich acht Tage der Rekonvaleszenz und versuche, mich ruhig zu zeigen; dann weitere acht Tage völliger Gesundheit, tätig wie ein munteres Vögelchen. Tage, in denen ich den Schaden wieder gutzumachen suche, daß ich so lange wie abwesend war von dieser Welt. Endlich ist alles in Ordnung, alles wieder aufgerichtet und hergerichtet, die Kleider der Kinder, des Gatten, der Frau! Morgen, morgen kann ich ausgehen: Bewegung im Freien ist mir so nötig! Ich werde in dem Nebel nach einer Unze Luft suchen. Da plötzlich ergreift mich eine unsägliche Ermattung, mein Herz schlägt, daß es mir den Atem raubt, und ich falle wehrlos wieder in die Hände eines Feindes, dessen Allmacht sich nur in Lyon so recht dartut, dieser Stadt, die alle Leiden birgt, ein ungangbarer Sumpf für schwache Füße. Da haben Sie mein Schicksal, Gergerès! . . .

Meine Kinder gehen zur Schule. Ich bin immer allein, es sei denn, daß eins krank ist. Meine kleine Inès hat die Masern gehabt, und es war mir eine unsägliche Wohltat, sie zu pflegen, bei ihr zu wachen. Eine verzweifelte Schlaflosigkeit ist diesen tätigen Nachtwachen gefolgt. Mir wäre ein Leben gemäß wie das der ersten Christen: Wallfahrten, Nachtwachen, Wüste und vielleicht der Märtyrertod. – Was hat er verbrochen, jener Mann, den man dort hinter Eisenstäbe sperrt? . . .

Was für ein Grauen habe ich vor den Gefängnissen! Ist nicht schon die Erde selbst ein solches? Wenn ich an den Schildwachen unserer Kerker vorbeikomme, so blinzle ich ihnen zu, damit sie auch mich niederschießen; doch man erlaubt ihnen jetzt nur noch nachts zu töten.




Saint-Jean-le Vieux, 25. Juli 1835

Nie in meinem Reiseleben habe ich eine solche Nacht verlebt wie diejenige, die mich hierher gebracht hat. Ich glaubte umzukommen. Wir waren acht Personen im geschlossenen Wagen, Ines und meine beiden Körbe auf meinen Knieen, eine Frau aus dem Volk schlief an meiner Schulter, Gießkannen, Seifenballen . . . Beine von Riesen, 15 Personen auf dem Dach. Schließlich war ich genötigt auszusteigen, um nicht zu ersticken . . . Auf dem Rückwege werde ich die Sparsamkeit beiseite lassen, für Inès einen halben Platz zu nehmen; das Kind hat mich durch seinen schweren und friedlichen Schlaf fast erdrückt.



An Antoine de Latour

- Der Dichter und Übersetzer Silvio Pellicos, beabsichtigte eine Studie über die von ihm verehrte Dichterin herauszugeben. -

Lyon, 15. Februar 1836

. . . Der Einzelheiten, die Sie über ein so rastloses und doch so verborgenes Leben zu hören wünschen, sind nicht gar viele zu berichten. Ich habe immer Fieber, und ich reise immer. Mein Leben siecht hin, wie und wo es Gott gefällig ist. Ich wandere dem andern Leben zu, indem ich mich bemühe, meine Kinder auf dem rechten Weg dorthin zu führen. Ich würde mich mit Begeisterung dem Studium der Dichter und der Dichtung hingegeben haben: ich mußte mich begnügen, davon zu träumen, wie von allen den Gütern dieser Welt. In einigen Monaten werde ich mit meiner ganzen Familie Lyon verlassen, ohne noch zu wissen, wohin ich ihr Dasein und das meine flüchten werde – das meine, das so viel Stürmen gar nicht gewachsen schien, und dennoch standhält. Dieses gebrechliche Dasein, mein Herr, ist nur mit Widerstreben ins Leben getreten, beim Sturmläuten einer Revolution, die es in ihren Wirbel ziehen sollte. Ich bin an den Toren eines Kirchhofs geboren zu Füßen einer Kirche, deren Heiligenfiguren man zerschmettert hatte; jene zwischen den Gräbern lagernden Steingestalten wurden meine ersten stillen Gefährten. Um nicht zu lange bei Erinnerungen zu verweilen, die mir süß und wertvoll, für Sie aber sicher belanglos sind, erwähne ich hier nur mein Elternhaus, das mein Herz mit all dem schwermütigen Zauber der leidenschaftlichen Heimatliebe umgeben hat – einer Heimat, die ich mit zehn Jahren ganz unerwartet verlassen mußte, um sie nie wiederzusehen . . . Nun fürchtete ich mich davor.

Sie könnten also, so wohlwollend Sie auch gesinnt sein mögen, mein Herr, von mir kaum berichten, ohne darzutun, welch unwissendes und unnützes Geschöpf ich bin. Sind meine Gedichte es wert, daß man sich mit mir beschäftigt und mich in die Literaturgeschichte aufnimmt? Mein Herr, ich bin unwissend. Ich habe nichts gelernt. Seit meinem sechzehnten Jahr habe ich das Fieber, und Menschen, die mir nahestehen, haben mich schon mehr als einmal für tot beweint, so wenig lebensfähig bin ich ihnen erschienen. Lange Zeit war ich überrascht und bekümmert, so leiden zu müssen, denn da ich, trotz eines anscheinend frivolen Berufs, sehr einsam lebte, hielt ich alle anderen für glücklich und konnte mich nicht bescheiden, es selber nicht zu sein. Jetzt weiß ich, daß die andern auch leiden. Das hat mich noch trauriger gemacht, aber es hat mich entsagen gelehrt. Mein Mitleid hat den Gegenstand, mein Wunsch sein Ziel gewechselt. Dieses ist ein höheres geworden; ich versuche, es zu erreichen.

 
 

An Frédéric Lepeytre
Lyon, 14. Juli 1836

 

. . . Eine Hoffnung war es, die meine in Demut und Verlassensein verbrachten Tage durchzog: die Abschaffung der Todesstrafe. Ich hatte Gott mit solcher Inbrunst darum gefleht und so willigen Herzens mein Leben zur Erlangung dieser Gunst geboten, daß es mir immer schien, ich müsse eines Tages die Erfüllung dieses jahrelang gehegten Wunsches erfahren. Aber dies ist nicht zur Wahrheit geworden, wird nicht Wahrheit werden. Es gibt keine Barmherzigkeit, kein aufrichtiges Mitgefühl, es gibt nur Köpfe, die fallen, Mütter, die vergeblich ihre Verzweiflung ausschreien. Ich wollte, ich wäre tot, um sie nicht mehr zu hören. Wenn ich einen Galgen sehe, vergrabe ich mich und kann weder essen, noch schlafen. Die Galeeren, mein Gott! Um sechs Franken, um zehn Franken, für einen Zornausbruch, für eine hitzige, eine eigensinnige Meinungsäußerung . . . Und sie! die Reichen, die Mächtigen, die Richter! Sie gehen ins Theater, nachdem sie eben: »Zu Tode verurteilt!« haben. Mein Herr, ich bin unglücklich. So ist es mit meinem Herzen bestellt, und dabei wohne ich einem Gefängnis gegenüber, auf einem Platz, auf dem man Menschen an einen Pfahl hängt, der trauriger ist als ein Sarg!
 
 
 

An Caroline Branchu
Lyon, 6. September 1836


Es gibt Empfindungen, die man nicht niederschreibt, Caroline!

Einen Brief wie den Deinigen mit einem Briefe zu beantworten, ist etwas so Unvollkommenes, daß Du nie so ganz wissen kannst, wie er mich ergriffen hat, was er mir an Freude und Traurigkeit gegeben. Um dem Antrieb meines Herzens zu genügen, müßte ich zu Dir eilen, Deine Hände nehmen und Dich ansehen! Das allein hätte unsern beiden Herzen wohlgetan, dem meinen in seiner tiefen Dankbarkeit, dem Deinen in seinem unerschöpflichen Mitgefühl.

Caroline! Eine Frau wie Du ist nur zufrieden, wenn sie die, der sie Trost geben will, sich nahe weiß . . . Sieh! Ich verstehe Dich, weil ich mich verstehe, und niemand kann Dich besser kennen als ich, die Dich so geliebt hat! Ein Wort wird Dir alles sagen, warum ich nicht abreise und warum ich in einer qualvollen Lage verharre. Ich bin nicht frei.

Mein Mann, den Dein Brief zu Tränen gerührt hat, ist ein Mann im vollen Sinne, starr in seinen Abneigungen. Er verabscheut Paris; nichts könnte ihn umstimmen. Und denke Dir, ich bin es, die ihm Trost sprechen muß in seiner Manie, die uns zugrunde richtet. Denn im geheimen gesteht er sich, daß er sich und uns die ganze Zukunft zerstört –, aber seine Scheu reißt ihn fort, und er soll mir nicht anmerken, daß ich darunter leide. Jeder Mann ist im Grunde unerklärlich, Caroline. Fügen wir uns für dieses Leben, und klammern wir uns an die Aussicht auf eine Zukunft, wo nichts uns im Wege steht.
 
 
 

An Pauline Duchambge
Lyon, den 24. Dezember 1836


Du bist traurig! Sei nicht traurig, mein Gutes, oder wenigstens erhebe Dich wieder unter dieser Leidenslast, die ich verstehe, die ich teile. Alle Demütigungen, die der Frau auf Erden zugedacht sind, ich habe sie erduldet. Meine Kniee wanken noch immer, und mein Haupt ist oft gebeugt wie das Deine unter der Last noch immer bitterer Tränen! Doch Pauline, höre! Wir haben dennoch etwas, was von allen diesen Wunden unabhängig ist. Zunächst das Verzeihen. Es ist eine ungeheure Erleichterung für ein Herz voller Bitternis – und dann die ewige Hoffnung, die ununterbrochen vom Himmel zu uns und von uns zum Himmel fliegt . . .

Was aus uns werden wird, ist gar nicht vorauszusehen. Ich wage manchmal nicht mehr, schlafen zu gehen, denn ich fürchte die Gedanken, wenn ich unbeschäftigt bin. Bei Tage ersticke ich sie in Haushaltungssorgen, in der Beschäftigung mit den Kindern oder meiner Schreiberei. Des Nachts – du weißt es, da entflieht man ihnen nicht. Dann versinke ich in Leid und erliege meinem wilden Herzklopfen. Ich erhalte nichts, ich weiß nichts. Ich setze mehr Furcht als Hoffnung auf dieses gefährliche Datum des 1. Januar. Das ist ein Abgrund, der alle meine Erfindungsgabe, uns über unser Elend hinwegzuhelfen, zunichte macht. Und dann, stelle Dir Lyon vor in Schnee und Regen! Lyon ohne Arbeit, und dreißigtausend Arbeiter, die kein Brot und kein Feuer haben, denen man mit vielem Geschrei 50 0000 Franken Almosen sendet, vom Thron herab sendet – also von der Vorsehung dieser Armen! – Ach! das sind keine zwei Franken, die auf die Not des einzelnen entfallen. So steigen die Bettler bis unter unser finsteres Dach. Und man muß geben, Pauline, geben, oder an Mitleid zugrunde gehen . . .

Ist es wahr, was Du mir von Herrn de Vigny sagst und wie er über diese »so flandrischen« Verse denkt? Ich weiß nicht, wie ich beschaffen bin, aber solche Überraschungen machen mich weinen und erinnern mich an Dinge, die ich vergessen möchte. Das einzige Herz, das ich mir von Gott erbeten hätte, hat das meine nicht gewollt. Welch furchtbares Herzweh bis zum Tode! – Du weißt das, Du!
 
 
 

An Antoine de Latour
Lyon, 7. Februar 1837


O mein Gott! Wie voll Güte und Mitleid sind Sie! Wie verstehen Sie es, die Fehler zu begütigen, zu entschuldigen, und ich habe vor Dank geweint, denn alles, was ich schreibe, muß wirklich furchtbar unzusammenhängend sein, die Worte unvollkommen und falsch gesetzt. Ich würde mich schämen, wenn ich sie wichtig nehmen wollte. Aber, mein Herr, hätte ich Zeit dazu? Ich sehe keine Seele aus jener literarischen Welt, die den Geschmack bildet und die Sprache läutert. Ich bin mein eigener Kritiker, und da ich nichts gelernt habe, wie soll ich mir helfen? Einmal in meinem Leben, aber nicht für lange, hat ein Mann von ungeheurer Begabung mich ein wenig lieb gehabt, so daß er mir in meinen Strophen die Unkorrektheiten und Waghalsigkeiten, von denen ich keine Ahnung hatte, aufwies. Doch diese scharfsichtige und kühne Zuneigung hat mein Leben nur kurz gestreift. Ich habe nichts hinzugelernt und – soll ich es Ihnen sagen, mein Herr? – nichts hinzulernen wollen. Ich klimme weiter und suche so gut ich kann ein Dasein zu Ende zu führen, das weit mehr zu Gott als zu den Menschen spricht . . .
 
 
 
 

An Melanie Waldor
Lyon, den 9. März 1837

 

Ganz Lyon krümmt sich unter schwerer Düsternis . . . Welch ein Jahr! Dreißigtausend Arbeiter ohne Brot, die abends durch Frost und Straßenschlamm daherziehen, den Kopf in Lumpen gehüllt, und ihrem Hunger Lieder singen! . . . Ich kann Ihnen nicht schildern, wie das mein Herz zerreißt – urteilen Sie selbst! Nein, nein, Paris kennt keinen solchen Anblick, solche Szenen, solche anhaltende nackte Verzweiflung.– Nein! die Machthaber sollten es nicht wagen, so viele Arbeiterfamilien am Hunger zugrunde gehen zu lassen. – Ach! die Leute von Lyon, die man als schlecht und gewalttätig hinstellt, sind von erhabenem Glauben! Es hat sich tatsächlich hier zugetragen – und kann sich nur hier zutragen –, daß eine armselige Madonna auf einer Felsenhöhe dreißigtausend Löwen bändigt, die Hunger und Kälte leiden und den Haß im Herzen tragen . . . und sie singen wie unterwürfige Kinder! Das ist das Wunderbare. Ich muß in dieser Stadt irrsinnig oder heilig gut werden . . . Melanie, wenn man dieses Elend mitansieht, wagt man weder zu essen noch sich zu wärmen.
 
 
 

An Valmore
Paris, 3. Juli 1837

 

Willst Du, daß ich Dir Geld sende? Wenn nicht, wie wirst Du es anstellen, um zurückzukommen, es sei denn, ich bringe Dir welches zur Endstation der Diligence, wo ich Dich am Tage Deiner Ankunft erwarten werde?
 
 
 

An Antoine de Latour
Paris, 23. Dezember 1837


Zuweilen, wenn ich im Fieber und voll tiefer Trauer bin, kann ich die Verse nicht singen, wie ich es sonst fast immer tue; ich bilde sie dann nach einer Melodie, die mir besonders lieb ist, was mich unwillkürlich zwingt, die Form streng beizubehalten und nicht abzuschweifen. Ich gebe mir, indem ich hier zu Ihnen von meiner armen Arbeit rede, zum erstenmal selber Rechenschaft über diese Einzelheiten, die ich niemals recht beachtet habe. Mein Leben, meine Stunden, meine Träume und meine Wirklichkeit, alles das eilt so dahin, ist so voller Sorgen und Aufregungen, daß ich alles vor Gottes Füße werfe, der jedem Ding seine Ordnung gibt, und für dieses Mal in Ihre Hände lege, mein Herr; denn Sie sind mir ein uneigennütziger Belehrer, zu dem ich Vertrauen habe, so sehr, daß ich Ihnen für einen so wertvollen Brief erst spät meinen Dank sage – lange nachdem ich meinen Nutzen daraus gezogen . . .
 
 
 

An Caroline Branchu
Mailand, den 6. August 1838

 

Du wirst es nicht begriffen haben, meine liebe Caroline, und ich – begreife es noch immer nicht. Es war eine so herzzerreißende Sache, die Unterzeichnung dieses Vertrags, der uns von Paris fort- und nach Italien in die Verbannung führt, daß Valmore fast einen Blutsturz davon gehabt hätte. Es war, als fehlten uns die Worte, und in fünfzig Stunden haben wir unsere Koffer gepackt, Abschiedsbesuche gemacht, die Möbel untergebracht, die Dinge für unsern lieben Sohn geordnet – die Trennung von ihm war das Schmerzlichste –, und dann, Caroline, sind wir in die Postkutsche gesunken, mein armer Valmore, ich und meine beiden Töchter, abgehetzt, ermattet und noch immer verblüfft. Ja, wir sind erstaunt und fast entsetzt. Aber jenes andere Entsetzen, uns wiederum stellungslos zu sehen, hat uns die Gefahren einer solchen Reise mißachten lassen und uns der Vorsehung in die Arme geworfen, da Herr Vedel es so bestimmt hat, kraft seiner kaltblütigen Gewalt. Ich sage Dir vor Gottes Angesicht, dieser Mann hat keine Seele und keine Redlichkeit. Er hat sein Ehrenwort gebrochen, von dem er sagte, es gelte mehr als eine Zusicherung. Doch nicht von ihm habe ich Dir zu erzählen . . .

Hier sind wir nun in Mailand. Was hilft es, daß mein Mann siebentausend Franken verdient, unsere Reisen und der Aufenthalt hier verschlingen alles, so daß wir bei der Rückkehr nach Frankreich noch mehr ruiniert sind als beim Weggang. Die bevorstehenden Krönungsfeierlichkeiten haben die Preise aufs äußerste gesteigert. Ein Zimmer, ein Loch, wird für fünf- und sechstausend Franken im Monat vermietet, ein Fenster nach der Straße kostet für siebzehn Tage tausend Taler. Nun beurteile, wie wir unter so vernichtenden Umständen einquartiert sind . . .

Du siehst, Caroline, ich bin dem reißenden Lauf der Dinge und meiner Pflicht gefolgt. Ich kann nicht nein sagen, wenn Valmore sich für etwas entschieden hat; und da er den Gedanken nicht ertragen konnte, ein zweites Mal ohne Engagement zu sein, so bin ich ihm kummervoll in seine neue Stellung gefolgt.

 
 

An Pauline Duchambge
Mailand, den 19. September 1838

 

Ich habe keine Worte mehr, mein liebes Herz. Das Unheil bedroht uns nicht mehr: es ist hereingebrochen! Du wirst alle sachlichen Einzelheiten von Mademoiselle Mars erfahren, die ebenfalls darunter leidet.
 
Muß ich noch mehr sagen, um Dir das Herz zu zerreißen? Wir wissen kaum, wie wir nach Lyon zurückkommen sollen, und ob Valmore nicht aus Zartgefühl verpflichtet ist, noch in Italien zu bleiben und sich den unglücklichen Schauspielern anzuschließen, die nicht fort können. Der Gedanke kann mich zur Verzweiflung bringen, denn wenn schon in Frankreich der Einbruch des Winters seine Schrecken für uns hat, die wir keine Unterkunft und keine Einnahmen haben, so kannst Du Dir denken, was uns hier in der Verlassenheit erwartet: ein grauenvolles Bettlerlos. Mein Atem versagt!
 


 

Mailand, 20. September 1838

Er (Valmore) hat entsetzlich gelitten, aber dennoch wird er sich nie darüber trösten, daß er uns Rom nicht gezeigt hat. Und ich, weißt Du, wem ich in diesem schönen Rom nachtrauere? Der erträumten Spur, die seine Schritte dort hinterlassen haben, dem Nachklang seiner damals so jungen Stimme, seiner immer so süßen Stimme, so ewig mächtig über mich; ich würde nur diese Vision von Rom fordern; – sie wird mir unerreichbar bleiben.

 

 
An Minister Martin

"Acouté m'on peo!" - Patois aus Douai. Der Minister und Marceline Desbordes hatten die gleiche Heimat
 
Paris, 1. Januar 1839

Lauschen Sie ein wenig! denn ich erbitte voll Kühnheit und doch auch etwas ängstlich aus Ihren großmütigen Händen mein Neujahrsgeschenk: zwei Monate Begnadigung für eine arme Mutter, die in Saint-Lazare gefangen sitzt, wo Ihr Name bereits mehr als ein süßes Echo gefunden hat, Herr Minister. Machen Sie es möglich, daß die arme Frau entlassen wird, um ihren Kindern ein frohes neues Jahr zu wünschen!

 

 
An Valmore
Paris, 21. April 1839

 

Nach all diesen Erschütterungen wäre das Glück, das ich genießen könnte, einzig der Besitz völliger Freiheit. Aber diese ist nirgends, mein lieber Engel!

 
 

An Caroline Branchu
Paris, den 29. Mai 1839

 

. . . Ich bin heimgekehrt, um – trotz meines brennenden Bedürfnisses nach Ruhe und Einsamkeit – tüchtig zu arbeiten. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, was es mich gekostet hat, Orleans zu verlassen, und was ich darum gäbe, dorthin zurückzukehren, bis ich wieder mit meinem Mann zusammentreffe. Ich befehle Dir, das zu glauben, ich sage es Dir vor Gott. Doch ich muß bei meinem Sohn bleiben, und ich muß fünfhundert Franken auftreiben, um den jungen Italiener, von dem ich Dir erzählte, seiner Familie zurückzugeben. Alle Welt läßt ihn im Stich, und er hat niemanden als mich, meinen machtlosen, doch unbeugsamen Willen, ihm zu helfen; und das soll geschehen! Mein Herz ist eigensinniger als mein Verstand. Gibst Du mir nicht stets ein Beispiel der Barmherzigkeit? Ich tue, was Du an meiner Stelle tätest, was ich von der Mutter unseres Heilandes für meinen Sohn erbitten würde, wäre er in Italien, ohne mich, ohne Freunde und in völliger Verlassenheit.


 





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