Briefe
9
An
A.Gergerès
Lyon,
17. Februar 1835
. . .
Nun
hören Sie mein
äußeres Leben: ich werde krank, ich sinne und liebe und hetze mich
innerlich ab
mit dem Gedanken an alles das, was ich tun möchte, um mein Haus instand
zu
halten, und ich bitte Gott, daß er mich am Leben läßt. Dann verbringe
ich acht
Tage der Rekonvaleszenz und versuche, mich ruhig zu zeigen; dann
weitere acht
Tage völliger Gesundheit, tätig wie ein munteres Vögelchen. Tage, in
denen ich
den Schaden wieder gutzumachen suche, daß ich so lange wie abwesend war
von
dieser Welt. Endlich ist alles in Ordnung, alles wieder aufgerichtet
und
hergerichtet, die Kleider der Kinder, des Gatten, der Frau! Morgen,
morgen kann
ich ausgehen: Bewegung im Freien ist mir so nötig! Ich werde in dem
Nebel nach
einer Unze Luft suchen. Da plötzlich ergreift mich eine unsägliche
Ermattung,
mein Herz schlägt, daß es mir den Atem raubt, und ich falle wehrlos
wieder in
die Hände eines Feindes, dessen Allmacht sich nur in Lyon so recht
dartut,
dieser Stadt, die alle Leiden birgt, ein ungangbarer Sumpf für schwache
Füße.
Da haben Sie mein Schicksal, Gergerès! . . .
Meine
Kinder gehen zur
Schule. Ich bin immer allein, es sei denn, daß eins krank ist. Meine
kleine
Inès hat die Masern gehabt, und es war mir eine unsägliche Wohltat, sie
zu
pflegen, bei ihr zu wachen. Eine verzweifelte Schlaflosigkeit ist
diesen
tätigen Nachtwachen gefolgt. Mir wäre ein Leben gemäß wie das der
ersten
Christen: Wallfahrten, Nachtwachen, Wüste
und vielleicht der
Märtyrertod. – Was hat er verbrochen, jener Mann, den man dort hinter
Eisenstäbe sperrt? . . .
Was
für ein Grauen habe ich vor den
Gefängnissen! Ist
nicht schon die Erde selbst ein solches? Wenn ich an den Schildwachen
unserer
Kerker vorbeikomme, so blinzle ich ihnen zu, damit sie auch mich
niederschießen; doch man erlaubt ihnen jetzt nur noch nachts zu töten.
Saint-Jean-le
Vieux, 25. Juli 1835
Nie
in meinem Reiseleben
habe ich eine solche Nacht verlebt wie diejenige, die mich hierher
gebracht
hat. Ich glaubte umzukommen. Wir waren acht Personen im geschlossenen
Wagen,
Ines und meine beiden Körbe auf meinen Knieen, eine Frau aus dem Volk
schlief an
meiner Schulter, Gießkannen, Seifenballen . . . Beine von Riesen, 15
Personen auf
dem Dach. Schließlich war ich genötigt auszusteigen, um nicht zu
ersticken . . .
Auf dem Rückwege werde ich die Sparsamkeit beiseite lassen, für Inès
einen
halben Platz zu nehmen; das Kind
hat mich durch seinen schweren und
friedlichen
Schlaf fast erdrückt.
An
Antoine de Latour
- Der
Dichter und Übersetzer Silvio Pellicos, beabsichtigte eine Studie über
die von ihm verehrte Dichterin herauszugeben. -
Lyon,
15. Februar
1836
. . .
Der
Einzelheiten, die
Sie über ein so rastloses und doch so verborgenes Leben zu hören
wünschen, sind
nicht gar viele zu berichten. Ich habe immer Fieber, und ich reise
immer. Mein
Leben siecht hin, wie und wo es Gott gefällig ist. Ich wandere dem
andern
Leben zu, indem ich mich bemühe, meine
Kinder auf dem rechten Weg dorthin zu führen. Ich würde mich mit
Begeisterung
dem Studium der Dichter und der Dichtung hingegeben haben: ich mußte
mich
begnügen, davon zu träumen, wie von allen den Gütern dieser Welt. In
einigen
Monaten werde ich mit meiner ganzen Familie Lyon verlassen, ohne noch
zu
wissen, wohin ich ihr Dasein und das meine flüchten werde – das meine,
das so
viel Stürmen gar nicht gewachsen schien, und dennoch standhält. Dieses
gebrechliche Dasein, mein Herr, ist nur mit Widerstreben ins Leben
getreten,
beim Sturmläuten einer Revolution, die es in ihren Wirbel ziehen
sollte. Ich
bin an den Toren eines Kirchhofs geboren zu Füßen einer Kirche, deren
Heiligenfiguren man zerschmettert hatte; jene zwischen den Gräbern
lagernden
Steingestalten wurden meine ersten stillen Gefährten. Um nicht zu lange
bei
Erinnerungen zu verweilen, die mir süß und wertvoll, für Sie aber
sicher
belanglos sind, erwähne ich hier nur mein Elternhaus, das mein Herz mit
all dem
schwermütigen Zauber der leidenschaftlichen Heimatliebe umgeben hat –
einer
Heimat, die ich mit zehn Jahren ganz unerwartet verlassen mußte, um sie
nie
wiederzusehen . . . Nun fürchtete ich mich davor.
Sie
könnten also, so
wohlwollend Sie auch gesinnt sein mögen, mein Herr, von mir kaum
berichten,
ohne darzutun, welch unwissendes und unnützes Geschöpf ich bin. Sind
meine Gedichte
es wert, daß man sich mit mir beschäftigt und mich in die
Literaturgeschichte
aufnimmt? Mein Herr, ich bin unwissend. Ich habe nichts gelernt. Seit
meinem
sechzehnten Jahr habe ich das Fieber, und Menschen, die mir nahestehen,
haben
mich schon mehr als einmal für tot beweint, so wenig lebensfähig bin
ich ihnen
erschienen. Lange
Zeit war ich überrascht und bekümmert, so
leiden zu müssen, denn da ich, trotz eines anscheinend frivolen Berufs,
sehr
einsam lebte, hielt ich alle anderen für glücklich und konnte mich
nicht
bescheiden, es selber nicht zu sein. Jetzt weiß ich, daß die andern
auch
leiden. Das hat mich noch trauriger gemacht, aber es hat mich entsagen
gelehrt.
Mein Mitleid hat den Gegenstand, mein Wunsch sein Ziel gewechselt.
Dieses ist
ein höheres geworden; ich versuche, es zu erreichen.
An
Frédéric Lepeytre
Lyon,
14. Juli
1836
. . .
Eine
Hoffnung war es,
die meine in Demut und Verlassensein verbrachten Tage durchzog: die
Abschaffung
der Todesstrafe. Ich hatte Gott mit solcher Inbrunst darum gefleht und
so
willigen Herzens mein Leben zur Erlangung dieser Gunst geboten, daß es
mir immer
schien, ich müsse eines Tages die Erfüllung dieses jahrelang gehegten
Wunsches
erfahren. Aber dies ist nicht zur Wahrheit geworden, wird nicht
Wahrheit
werden. Es gibt keine Barmherzigkeit, kein aufrichtiges Mitgefühl, es
gibt nur
Köpfe, die fallen, Mütter, die vergeblich ihre Verzweiflung
ausschreien. Ich
wollte, ich wäre tot, um sie nicht mehr zu hören. Wenn ich einen Galgen
sehe,
vergrabe ich mich und kann weder essen, noch schlafen. Die Galeeren,
mein Gott!
Um sechs Franken, um zehn Franken, für einen Zornausbruch, für eine
hitzige,
eine eigensinnige Meinungsäußerung . . . Und sie! die Reichen, die
Mächtigen, die
Richter! Sie gehen ins Theater, nachdem sie eben: »Zu Tode verurteilt!«
haben.
Mein Herr, ich bin unglücklich. So ist es mit meinem Herzen bestellt,
und dabei
wohne ich einem Gefängnis gegenüber,
auf einem Platz,
auf dem man Menschen an einen Pfahl hängt, der trauriger ist als ein
Sarg!
An
Caroline Branchu
Lyon,
6. September 1836
Es
gibt Empfindungen, die
man nicht niederschreibt, Caroline!
Einen
Brief wie den
Deinigen mit einem Briefe zu beantworten, ist etwas so Unvollkommenes,
daß Du
nie so ganz wissen kannst, wie er mich ergriffen hat, was er mir an
Freude und
Traurigkeit gegeben. Um dem Antrieb meines Herzens zu genügen, müßte
ich zu Dir
eilen, Deine Hände nehmen und Dich ansehen! Das allein hätte unsern
beiden
Herzen wohlgetan, dem meinen in seiner tiefen Dankbarkeit, dem Deinen
in seinem
unerschöpflichen Mitgefühl.
Caroline!
Eine Frau wie Du
ist nur zufrieden, wenn sie die, der sie Trost geben will, sich nahe
weiß . . .
Sieh! Ich verstehe Dich, weil ich mich verstehe, und niemand kann Dich
besser
kennen als ich, die Dich so geliebt hat! Ein Wort wird Dir alles sagen,
warum
ich nicht abreise und warum ich in einer qualvollen Lage verharre. Ich
bin
nicht frei.
Mein
Mann, den Dein Brief
zu Tränen gerührt hat, ist ein Mann im vollen Sinne, starr in seinen
Abneigungen. Er verabscheut Paris; nichts könnte ihn umstimmen. Und
denke Dir,
ich bin es, die ihm Trost sprechen muß in seiner Manie, die uns
zugrunde
richtet. Denn im geheimen gesteht er sich, daß er sich und uns die
ganze
Zukunft zerstört –, aber seine Scheu reißt ihn fort, und er soll mir
nicht
anmerken, daß ich darunter leide. Jeder Mann ist im Grunde
unerklärlich, Caroline.
Fügen wir uns für dieses Leben, und
klammern wir uns an die Aussicht auf eine Zukunft, wo nichts uns im
Wege steht.
An
Pauline Duchambge
Lyon,
den 24.
Dezember 1836
Du
bist traurig! Sei nicht
traurig, mein Gutes, oder wenigstens erhebe Dich wieder unter dieser
Leidenslast, die ich verstehe, die ich teile. Alle Demütigungen, die
der Frau
auf Erden zugedacht sind, ich habe sie erduldet. Meine Kniee wanken
noch immer,
und mein Haupt ist oft gebeugt wie das Deine unter der Last noch immer
bitterer
Tränen! Doch Pauline, höre! Wir haben dennoch etwas, was von allen
diesen
Wunden unabhängig ist. Zunächst das Verzeihen. Es ist eine ungeheure
Erleichterung für ein Herz voller Bitternis – und dann die ewige
Hoffnung, die
ununterbrochen vom Himmel zu uns und von uns zum Himmel fliegt . . .
Was
aus uns werden wird,
ist gar nicht vorauszusehen. Ich wage manchmal nicht mehr, schlafen zu
gehen,
denn ich fürchte die Gedanken, wenn ich unbeschäftigt bin. Bei Tage
ersticke
ich sie in Haushaltungssorgen, in der Beschäftigung mit den Kindern
oder meiner
Schreiberei. Des Nachts – du weißt es, da entflieht man ihnen nicht.
Dann
versinke ich in Leid und erliege meinem wilden Herzklopfen. Ich erhalte
nichts,
ich weiß nichts. Ich setze mehr Furcht als Hoffnung auf dieses
gefährliche Datum
des 1. Januar. Das ist ein Abgrund, der alle meine Erfindungsgabe, uns
über
unser Elend hinwegzuhelfen, zunichte macht. Und dann, stelle Dir Lyon
vor in Schnee
und Regen! Lyon ohne Arbeit, und
dreißigtausend Arbeiter, die kein Brot und kein Feuer haben, denen man
mit
vielem Geschrei 50 0000 Franken Almosen sendet, vom Thron herab sendet
– also
von der Vorsehung dieser Armen! – Ach! das sind keine zwei Franken, die
auf die
Not des einzelnen entfallen. So steigen die Bettler bis unter unser
finsteres Dach.
Und man muß geben, Pauline, geben, oder an Mitleid zugrunde gehen . . .
Ist
es wahr, was Du mir von
Herrn de Vigny sagst und wie er über diese »so flandrischen« Verse
denkt? Ich
weiß nicht, wie ich beschaffen bin, aber solche Überraschungen machen
mich weinen
und erinnern mich an Dinge, die ich vergessen möchte. Das einzige Herz,
das ich
mir von Gott erbeten hätte, hat das meine nicht gewollt. Welch
furchtbares
Herzweh bis zum Tode! – Du weißt das, Du!
An
Antoine de Latour
Lyon,
7. Februar 1837
O
mein
Gott! Wie voll Güte
und Mitleid sind Sie! Wie verstehen Sie es, die Fehler zu begütigen, zu
entschuldigen, und ich habe vor Dank geweint, denn alles, was ich
schreibe, muß
wirklich furchtbar unzusammenhängend sein, die Worte unvollkommen und
falsch gesetzt.
Ich würde mich schämen, wenn ich sie wichtig nehmen wollte. Aber, mein
Herr,
hätte ich Zeit dazu? Ich sehe keine Seele aus jener literarischen Welt,
die den
Geschmack bildet und die Sprache läutert. Ich bin mein eigener
Kritiker, und da
ich nichts gelernt habe, wie soll ich mir helfen? Einmal in meinem
Leben, aber
nicht für lange, hat ein Mann von ungeheurer Begabung mich ein wenig
lieb
gehabt, so daß er
mir in meinen Strophen die Unkorrektheiten und
Waghalsigkeiten, von denen ich keine Ahnung hatte, aufwies. Doch diese
scharfsichtige und kühne Zuneigung hat mein Leben nur kurz gestreift.
Ich habe
nichts hinzugelernt und – soll ich es Ihnen sagen, mein Herr? – nichts
hinzulernen wollen. Ich klimme weiter und suche so gut ich kann ein
Dasein zu
Ende zu führen, das weit mehr zu Gott als zu den Menschen spricht . . .
An
Melanie Waldor
Lyon,
den 9. März
1837
Ganz
Lyon krümmt sich unter
schwerer Düsternis . . . Welch ein Jahr! Dreißigtausend Arbeiter ohne
Brot, die
abends durch Frost und Straßenschlamm daherziehen, den Kopf in Lumpen
gehüllt,
und ihrem Hunger Lieder singen! . . . Ich kann Ihnen nicht schildern,
wie
das
mein Herz zerreißt – urteilen Sie selbst! Nein, nein, Paris kennt
keinen
solchen Anblick, solche Szenen, solche anhaltende nackte Verzweiflung.–
Nein!
die Machthaber sollten es nicht wagen, so viele Arbeiterfamilien am
Hunger
zugrunde gehen zu lassen. – Ach! die Leute von Lyon, die man als
schlecht und
gewalttätig hinstellt, sind von erhabenem Glauben! Es hat sich
tatsächlich hier
zugetragen – und kann sich nur hier zutragen –, daß eine armselige
Madonna auf
einer Felsenhöhe dreißigtausend Löwen bändigt, die Hunger und Kälte
leiden und
den Haß im Herzen tragen . . . und sie singen wie unterwürfige Kinder!
Das ist
das Wunderbare. Ich muß in dieser Stadt irrsinnig oder heilig gut
werden . . .
Melanie, wenn man dieses Elend mitansieht, wagt man weder zu essen noch
sich zu
wärmen.
An
Valmore
Paris,
3. Juli
1837
Willst
Du, daß ich Dir Geld
sende? Wenn nicht, wie wirst Du es anstellen, um zurückzukommen, es sei
denn,
ich bringe Dir welches zur Endstation der Diligence, wo ich Dich am
Tage Deiner
Ankunft erwarten werde?
An
Antoine de Latour
Paris,
23. Dezember 1837
Zuweilen,
wenn ich im
Fieber und voll tiefer Trauer bin, kann ich die Verse nicht singen, wie
ich es
sonst fast immer tue; ich bilde sie dann nach einer Melodie, die mir
besonders
lieb ist, was mich unwillkürlich zwingt, die Form streng beizubehalten
und
nicht abzuschweifen. Ich gebe mir, indem ich hier zu Ihnen von meiner
armen
Arbeit rede, zum erstenmal selber Rechenschaft über diese Einzelheiten,
die ich
niemals recht beachtet habe. Mein Leben, meine Stunden, meine Träume
und meine
Wirklichkeit, alles das eilt so dahin, ist so voller Sorgen und
Aufregungen,
daß ich alles vor Gottes Füße werfe, der jedem Ding seine Ordnung gibt,
und für
dieses Mal in Ihre Hände lege, mein Herr; denn Sie sind mir ein
uneigennütziger
Belehrer, zu dem ich Vertrauen habe, so sehr, daß ich Ihnen für einen
so
wertvollen Brief erst spät meinen Dank sage – lange nachdem ich meinen
Nutzen
daraus gezogen . . .
An
Caroline Branchu
Mailand,
den 6.
August 1838
Du
wirst es nicht begriffen
haben, meine liebe Caroline, und ich – begreife es noch immer nicht. Es
war eine
so herzzerreißende Sache, die Unterzeichnung
dieses Vertrags, der uns von Paris fort- und nach Italien in die
Verbannung
führt, daß Valmore fast einen Blutsturz davon gehabt hätte. Es war, als
fehlten
uns die Worte, und in fünfzig Stunden haben wir unsere Koffer gepackt,
Abschiedsbesuche gemacht, die Möbel untergebracht, die Dinge für unsern
lieben
Sohn geordnet – die Trennung von ihm war das Schmerzlichste –, und
dann,
Caroline, sind wir in die Postkutsche gesunken, mein armer Valmore, ich
und
meine beiden Töchter, abgehetzt, ermattet und noch immer verblüfft. Ja,
wir
sind erstaunt und fast entsetzt. Aber jenes andere Entsetzen, uns
wiederum
stellungslos zu sehen, hat uns die Gefahren einer solchen Reise
mißachten
lassen und uns der Vorsehung in die Arme geworfen, da Herr Vedel es so
bestimmt
hat, kraft seiner kaltblütigen Gewalt. Ich sage Dir vor Gottes
Angesicht,
dieser Mann hat keine Seele und keine Redlichkeit. Er hat sein
Ehrenwort
gebrochen, von dem er sagte, es gelte mehr als eine Zusicherung. Doch
nicht von
ihm habe ich Dir zu erzählen . . .
Hier
sind wir nun in
Mailand. Was hilft es, daß mein Mann siebentausend Franken verdient,
unsere
Reisen und der Aufenthalt hier verschlingen alles, so daß wir bei der
Rückkehr
nach Frankreich noch mehr ruiniert sind als beim Weggang. Die
bevorstehenden
Krönungsfeierlichkeiten haben die Preise aufs äußerste gesteigert. Ein
Zimmer,
ein Loch, wird für fünf- und sechstausend Franken im Monat vermietet,
ein Fenster
nach der Straße kostet für siebzehn Tage tausend Taler. Nun beurteile,
wie wir
unter so vernichtenden Umständen einquartiert sind . . .
Du
siehst, Caroline, ich
bin dem reißenden Lauf der Dinge und meiner Pflicht gefolgt. Ich kann
nicht
nein sagen, wenn Valmore sich für etwas entschieden hat;
und da er den Gedanken nicht ertragen
konnte, ein zweites Mal ohne Engagement zu sein, so bin ich ihm
kummervoll in
seine neue Stellung gefolgt.
An
Pauline Duchambge
Mailand,
den 19.
September 1838
Ich
habe keine Worte mehr,
mein liebes Herz. Das Unheil bedroht uns nicht mehr: es ist
hereingebrochen! Du
wirst alle sachlichen Einzelheiten von Mademoiselle Mars erfahren, die
ebenfalls darunter leidet.
Muß
ich noch mehr sagen, um
Dir das Herz zu zerreißen? Wir wissen kaum, wie wir nach Lyon
zurückkommen
sollen, und ob Valmore nicht aus Zartgefühl verpflichtet ist, noch in
Italien
zu bleiben und sich den unglücklichen Schauspielern anzuschließen, die
nicht
fort können. Der Gedanke kann mich zur Verzweiflung bringen, denn wenn
schon in
Frankreich der Einbruch des Winters seine Schrecken für uns hat, die
wir keine
Unterkunft und keine Einnahmen haben, so kannst Du Dir denken, was uns
hier in
der Verlassenheit erwartet: ein grauenvolles Bettlerlos. Mein Atem
versagt!
Mailand,
20.
September 1838
Er
(Valmore) hat
entsetzlich gelitten, aber dennoch wird er sich nie darüber trösten,
daß er uns
Rom nicht gezeigt hat. Und ich, weißt Du, wem ich in diesem schönen Rom
nachtrauere? Der erträumten Spur, die seine Schritte dort hinterlassen
haben,
dem Nachklang seiner damals so jungen Stimme, seiner immer
so süßen Stimme, so ewig mächtig über mich;
ich würde nur diese Vision von Rom fordern; – sie wird mir unerreichbar
bleiben.

An
Minister Martin
"Acouté m'on peo!" - Patois aus Douai. Der
Minister und Marceline
Desbordes hatten die gleiche Heimat
Paris,
1. Januar
1839
Lauschen
Sie ein wenig! denn ich erbitte voll Kühnheit und doch auch etwas
ängstlich aus Ihren
großmütigen Händen mein Neujahrsgeschenk: zwei Monate Begnadigung für
eine arme
Mutter, die in Saint-Lazare gefangen sitzt, wo Ihr Name bereits mehr
als ein
süßes Echo gefunden hat, Herr Minister. Machen Sie es möglich, daß die
arme
Frau entlassen wird, um ihren Kindern ein frohes neues Jahr zu
wünschen!

An
Valmore
Paris,
21. April
1839
Nach
all diesen
Erschütterungen wäre das Glück, das ich genießen könnte, einzig der
Besitz
völliger Freiheit. Aber diese ist nirgends, mein lieber Engel!
An
Caroline Branchu
Paris,
den 29. Mai
1839
. . . Ich
bin heimgekehrt, um
– trotz meines brennenden Bedürfnisses nach Ruhe und Einsamkeit –
tüchtig zu
arbeiten. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, was es mich gekostet hat,
Orleans
zu verlassen, und was ich darum gäbe, dorthin zurückzukehren, bis ich
wieder mit meinem Mann zusammentreffe. Ich
befehle Dir, das zu glauben, ich sage es Dir vor Gott. Doch ich muß bei
meinem
Sohn bleiben, und ich muß fünfhundert Franken auftreiben, um den jungen
Italiener, von dem ich Dir erzählte, seiner Familie zurückzugeben. Alle
Welt
läßt ihn im Stich, und er hat niemanden als mich, meinen machtlosen,
doch
unbeugsamen Willen, ihm zu helfen; und das soll geschehen! Mein Herz
ist
eigensinniger als mein Verstand. Gibst Du mir nicht stets ein Beispiel
der
Barmherzigkeit? Ich tue, was Du an meiner Stelle tätest, was ich von
der Mutter
unseres Heilandes für meinen Sohn erbitten würde, wäre er in Italien,
ohne
mich, ohne Freunde und in völliger Verlassenheit.