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Literatur


04.3


Geschichten
Marceline Desbordes-Valmore

Das Lebensbild einer Dichterin

Vierter Teil: Briefe





Briefe 10


An Valmore
Paris, 21. Februar 1840, morgens

Vergebens erhoffte ich gestern den Brief zu Ende zu schreiben. Eine Dame, die mich in Belgien gesprochen hatte, ist schnurgerade hereinspaziert, ich im Hemd! Sie wollte eine Empfehlung für Fräulein Mars oder weiß Gott was . . . Alle diese liebenswürdigen Neugierigen versetzen mich in helle Wut, und Du wärest schon aufs Dach geklettert, bei all diesen unvorhergesehenen Vorfällen. Trauriger Ruhm das, der mich mit solchen Nadelstichen plagt!




Paris, 6. März 1840

Ich sprach Dir nur von dem glücklichen Ereignis Bewilligung ihrer Pension . . . hatte nicht Zeit, das geringste Detail hinzuzufügen. Gestern, o gesegneter Tag! Nach dieser Neuigkeit, die ich mit Dir teilte, hatte ich das Glück, zugunsten des jungen Sträflings seinen Onkel, seine Tante, seine Mutter umzustimmen. Sie haben alle mit mir geweint und haben sich ergeben. Sie willigen ein, ihn, wie es die Vorschrift verlangt, von dem Direktor des grauen Hauses einzufordern . . . Ich erzähle Dir das alles noch . . . Die Hauptsache war, den Zorn dieser erbitterten Familie niederzuschlagen: das ist geschehen! Ah! ich war fast im Himmel, als ich gestern dieses Haus verließ . . . Ja, ich habe einen schönen Tag fern von Dir verbracht, aber durch Dich, für Dich!




An Hippolyte
Lyon, Mittwoch, 21. Oktober 1840
 

Gestern . . . hat Dein Vater Deinen Brief und Deine Zeichnung erhalten. Er dankt Dir und teilt Deine Bewunderung für Michelangelo. Wie viel Glück schließt doch die Welt ein, wenn man in sich den demütigsten und zugleich den allergrößten Sinn besitzt, den der Bewunderung! Er gibt für alle Kümmernisse Trost und gibt der Armut Schwingen, die sich auf diese Art über die verächtlichen Reichen erhebt.




An Valmore
20. Dezember 1840
 

Seit meiner Rückkehr habe ich mehr als vierzig Briefe geschrieben und habe Nächte bei den Versen verbracht, um die man mich anläßlich des Unglücks von Lyon gebeten hat. Man liest sie heute im Konzert des Herrn Hertz, für das ich seit acht Tagen in Regen, Schnee und Frost, dem kältesten Wetter, an den ich mich erinnern kann, umherlaufe . . .




Paris, 24. Dezember 1840

Ich verbreche so gut ich kann für Herrn Campenhout eine Romanze, aber ich habe keine ruhigen Zwischenpausen; ich muß alles auf der Straße im Gehen machen.




25. Dezember 1840

Wenn mein Brief Dich noch erreichte, so vermerke die Sache, die Du mir einzig aus Brüssel mitbringen mögest. Du erfragst bei Sophie die Adresse von Willem, von jenem oder von dessen Sohn, der uns unsere Eheringe gemacht hat, und Du wirst mir einen kleinen Ring kaufen, und läßt ihn von dem guten Pfarrer von Finistères weihen . . .  Du weißt nämlich nicht, daß mein teurer Ring in Rouen, mit allem andern, was wir als Pfand ließen, veräußert wurde. Meine Schwester konnte schließlich nicht mehr die Kosten für den Aufschub des Verkaufes bestreiten . . .

 


An Ondine, ihre Tochter
12. Oktober 1841
 

Die erste Winterkälte, überanstrengende Wege und meine Lage haben mir wieder Fieber eingetragen, das mich so oft überkommt und das man mir dann häufig als Launenhaftigkeit auslegt, weil ich da ernster bin und Sprechen mich geradezu tötet. Es ist eine große Kunst, zu erreichen, daß es einem nicht verübelt wird, wenn man leidet. Mögest Du sie besitzen, lieber Engel, denn Du weißt schon, man kann recht krank sein, ohne das Bett zu hüten und sich zu schonen.




An Caroline Branchu
Paris, den 12. Januar 1842
 

Wie gut Du bist, Caroline, und wie wenig ahnst Du, welche unendliche Wohltat Du mir erweisest, indem Du mir zeigst, daß es dennoch auf Erden so ein Wesen gibt, wie wir es uns wohl in unsern schönsten Tagen träumen! Alles, was ich liebte, damals, als ich Dich zum erstenmal hörte und verstand, hat mich betrogen, gleichwie Du Deinerseits betrogen worden bist. Wir sind nun zwei Parias der Liebe, wie man uns damals genannt hat. Wenigstens aber hast Du mich gezwungen, stets an die Freundschaft zu glauben, und wenn ich bedenke, was Du für mich gewesen bist, mein guter Engel, so entströmen meinem Herzen, das ich schon für verdorrt hielt, zwei Tränenbäche. Ja, Caroline, da Du Deine Seele über mein Leben breitest, erhebst Du mich von tiefer Niedergeschlagenheit, denn ich bin manchmal recht müde.




An Frédéric Lepeytre
5. Februar 1842
 

. . . Nun denn: alles was ich an weiblichem Scharfsinn, an Erfindungsgabe, an Worten und wenn nötig, an Schweigen besitze, ich benutze es, um meinem lieben Gatten diesen großen, demütigenden Kampf zu verbergen, den er nicht acht Tage ertragen würde. Ich erkaufe ihm seinen Stolz mit meinen Demütigungen, und erst in einer anderen Welt wird er erfahren, mit wieviel unschuldiger List, mit wieviel Tränen, die zwischen mir und Gott Geheimnis blieben, ich ihm bis jetzt das traurige Geheimnis verborgen habe, wie schwer das Brot zu beschaffen war, das auf seinem Tisch und dem der Kinder nie gefehlt hat. Auch der Frost hat ihnen noch nichts anhaben können . . .




An Caroline Branchu
Paris, den 23. April 1842

Es war mir unmöglich, Dir zu erzählen, was ich gelitten habe. Wie furchtbar, meine Tochter krank zu sehen! Wie traurig, diese Jugend leiden zu sehen, ohne die Ursachen zu kennen! Und Du weißt aus schmerzlicher Erfahrung, was das heißt, fern von seinem Kinde leben. Ich wage nicht mehr, meinen Einfluß auf sie geltend zu machen, denn sie hat nicht das geringste Vertrauen zu mir. Wenn unsere Kinder heranwachsen, betrachten sie uns als unwillkommenen Mentor, und obgleich sie uns immer lieb behalten, so lächeln sie doch über unsern Rat. Nun, da ich einmal die sanfte Autorität über Ondine verloren habe, weiß ich gut, daß sie nirgends besser aufgehoben ist, als unter den Augen Deiner Tochter und im Hause des Doktor Curie, der sie elender findet, als bei ihrem ersten Dortsein; und Du weißt, mein guter Engel, daß meine Dankbarkeit meinem Kummer gleichkommt. Von beiden habe ich viel.




An Frédéric Lepeytre

Rouen, 9. Juli 1842

Diese Stadt ist ganz Mittelalter und für mich aufwühlend durch Erinnerungen, die härter sind als gespitztes Eisen. Ich war fünfzehn Jahre, als ich hier mit einer meiner Schwestern und meinem Vater einzog: damals, als ich von Amerika zurückkam. Ich war das Idol dieses noch wilden Volkes, das jedes Jahr ein oder zwei Künstler opferte, wie seinerzeit Stiere geopfert wurden. Mir warf man Blumensträuße zu, und wenn ich heimkehrte, starb ich fast Hungers, ohne es irgend jemandem zu sagen. Daher und von einer für dieses jugendliche Alter zu anstrengenden Arbeit, stammt meine schwankende Gesundheit, all mein bewegtes Leben lang.




An Pauline Duchambge
Den 10. Februar 1843
 

Deine Vorstellung von Herrn Bayard ist ein trügerischer Traum. Nein, Pauline, diese Herzen fühlen nicht mit uns. Die Reichen von heute kommen und erzählen einem mit solcher Rückhaltlosigkeit und so viel bitteren Klagen ihren Jammer, daß man gezwungen wird, mehr Mitleid mit ihnen zu haben als mit dem eigenen Los. Letzthin hat er mir dargelegt, welche schrecklichen Widerwärtigkeiten er bei seinem Hausbau zu bestehen hat. Er sollte ihn, glaube ich, hunderttausend Franken kosten, und die Ausgaben betragen gegenwärtig schon das Doppelte. Dies und die Erziehungsgelder für seinen Sohn machen ihn kopflos. Was soll man diesen Glücklichen sagen? Daß man nur zwei Hemden hat und keine Bett-Tücher? Sie würden antworten: »Ach, wie glücklich sind Sie daran! Sie brauchen nicht zu bauen!«
 



An ihren Bruder
Paris, den 4. Januar 1849


Wenngleich ich die Gründe nicht kenne, aus denen dem Gesuch nicht entsprochen wird, so ist es doch klar, daß es in dieser großen sozialen Krise nirgends Geld zu geben scheint. Das Staatsgebäude, das im Februar zusammenbrach, war so bis unters Dach faul, daß es im Sturz viele Dinge und viele Menschen mitgerissen hat! Armes Volk, das so voll Zuversicht und Frömmigkeit ist, es hat auch diesmal nichts erhalten als das Recht, für seine Kinder zu sterben, denen vielleicht das Blut ihrer heldenmütigen Väter zum Segen werden kann! Wir gehören zum Volk durch unser Elend und unsere Überzeugung, mein lieber Bruder, so laß uns dulden, wie dieses, und hoffen, wie dieses. – Es ist wieder getäuscht worden – sein edler, rühmlicher, unangebrachter Glaube! Doch der Tag wird kommen, da die Vorsehung vom Übermaß unserer Leiden und von der Größe unserer Demut ergriffen sein wird.




Paris, den 28. Juni 1849
 

. . . Es haben sich in Paris so düstere Ereignisse abgespielt, als wären sie aus einer andern, schauerlichen Welt. Der Tod schoß seine Pfeile nach allen Seiten. Man sah ihn nicht, aber man stürzte getroffen nieder. . . . Ich kann mich kaum mehr aufrechthalten; wir haben so viele Freunde verloren, und der Anblick der Straßen voller Leichenzüge, wo so mancher von denen, die das Geleit gaben, nicht wieder heimkehrte – wie entsetzlich! . . . Ich bin sicher, und ich war sicher, daß Du genug über dies große Unheil gehört hast, um in schwerer Sorge für uns zu sein. Aber wir wußten nicht wohin vor Inanspruchnahme; von allen fünf Seiten rief man nach uns und wollte unseren Trost und unsere Tränen. Wenn man so allen erdenklichen Geißelungen preisgegeben war, braucht man lange, um sich zu erholen, mein guter Bruder, – um sich zu fragen, ob das, was man an Leben übrig behält, auch wirklich noch ein Dasein ist. Nein! Meine Seele ist allzu zerrissen, und dennoch fühle ich gerade darum mehr als je, daß sie unser unsterblich Teil ist. Daß unser Schmerz so heftig und so tief sein kann, ist der Beweis einer unerschütterlichen Überzeugung, eines vertrauensvollen Willens zum Glück, das nicht ausbleiben wird. Ich setze Dir das auseinander, so gut ich kann – vielleicht aus Mitleid mit mir selbst, um meinen Jammer weniger zu fühlen; ich möchte Dir, wenn auch recht unvollkommen, die Lichter weisen, die unsere Zukunft erhellen und die sich an einem Glauben entzünden, den alles nur vertieft, selbst der Verlust derer, denen unsere Zuneigung gehört.

Die Geldnot, das Elend der Armut, hat nicht dieselbe Wirkung – wenigstens nicht auf mich. Da ich es bin, die für den Haushalt sorgt, so lassen mir die verzehrenden Sorgen, diese Aufgabe zu lösen, nicht die Zeit zur Sammlung und zur Andacht, wie jene unersetzlichen Verluste sie mit sich bringen. – Wie oft denke ich jetzt an unsere Mutter, an das, was sie unter den nämlichen Verhältnissen für uns gelitten haben muß, um ihrer armen kleinen sorglosen Schar die Nahrung zu beschaffen! . . .

Ich hatte eine längere Arbeit beendet, sprach ich Dir schon davon? Ein Auftrag, Verse – eine Arbeit von drei Monaten, unter Tag, am Abend, oft die Nacht hindurch, während die anderen, ihrer Arbeit müde, schliefen; – nun also: als der vereinbarte Preis fällig war – mit gleicher Sehnsucht erwartet wie zur Cholerazeit das himmlische Naß –, hat der Mann unsere Vereinbarung abgeleugnet und wollte mir nur noch die Hälfte bezahlen. Ich habe die Arbeit behalten . . . vielleicht kann ich sie später einmal verkaufen. Aber welch ein Schlag! – Wie muß man aber auch alle anderen Arbeiter beklagen! Wer hat je inniger mit ihnen gefühlt als ich? Keiner, es sei denn unser verehrter Vater – und die Mutter . . . Ach! Ich habe die von Lyon gesehen, ich sehe jetzt die von Paris, und ich weine um jene der ganzen Welt!
 
Wir leiden weniger physisch als seelisch unter den Vorgängen im allgemeinen und unseren besonderen Kümmernissen. Ondine arbeitet viel, ebenso ihr Bruder. Mein Mann hat noch keinerlei Aussicht, eine Anstellung für sich zu finden. Frankreich ist niedergeschlagen und leidgebeugt! O du schmerzensreiche Mutter Gottes!




An Pauline Duchambge
Paris, 15. April 1850

Wenn meine Schwäche, die noch immer sehr groß ist, mich nicht daran verhindert hätte, wäre ich wie eine Nachtwandlerin zu Dir gekommen . . . Dennoch bin ich bis zur Rue Feydeau gegangen – denn ich bin es, die betraut ist, mit Geld, das ich nicht habe, einige Versatzscheine für diesen armen Karl (Stellungsloser Schauspieler) in der Pfandleihanstalt verlängern zu lassen. Der eine sollte schon verkauft werden, und so habe ich mich denn hingeschleppt, aber das war auch alles, was ich an Kraft noch aufbringen konnte.


 

27. November 1850

Mach Dir eine genaue Vorstellung von der bitteren Verstimmung, in der sich mein Mann befindet. Die Demütigung der verächtlichen Ruhe, zu der er in seiner Kraft verdammt ist, verzehrt in dem Bedürfnis nach Arbeit, das ist, ich versichere Dir, nicht zu beschreiben. Wenn er nicht mehr den Mut hat, auszugehen oder zu lesen, sitze ich nähend bei ihm, denn ich halte von diesem verstörten Dasein, das niemanden rührt, alles ab, was ich nur kann . . . Ja Gott und Du, ich weiß schon, und das ist Trost genug, daß ich herzhaft weiternähe. Aber das Schreiben ist mir unmöglich. Meine Gedanken sind zu ernst, zu sehr beschwert, ich konnte die verlangten Erzählungen nicht machen. Ich schreibe ja wirklich mit meinem Herzen, und es blutet zu sehr für Kleinkindergeschichten.

 


An Melanie Waldor
Paris, den 21. Februar 1851.

Sie meinen es immer gut und grausam, daß Sie mir von einer Soirée sprechen, liebe Freundin. Was wäre wohl in mir gewandelt, um nicht ebensolche Angst vor dem Wort »Soirée« zu haben? Ich kann mich nicht in die Musik stürzen, die alles in uns aufrührt, nicht in fremde Gesichter vertiefen, deren Wohlwollen sogar – mich beben macht. Haben Sie unsere Kämpfe in dieser Hinsicht, meine wilde Flucht, vergessen? Und gibt es irgend jemanden in Paris, der Ihnen sagen könnte, mich da oder dort gesehen zu haben, seit ich den Mut gefunden habe, Ihren liebenswürdigen Aufforderungen zu widerstehen? Ich bin seitdem wohl für immer niedergeschlagen geblieben, Melanie, denn ein Stück von meinem Leben ist damals dahingegangen. – Gewiß, das wirkliche Glück Ondines gießt auch auf mich einige Sonnenstrahlen; doch die Sonne kann mir nicht von einer Soirée kommen, liebe Dame. Für mich liegt sie in einer nahen Aussprache mit einem Herzen, so gütig wie das Ihre, das mich stets geliebt hat und dessen Gefühle ich ganz erwidere. Ich werde Ihnen, fast ebenso rasch wie dies Billett, diese Dinge mündlich sagen, die Sie schon mehr als einmal entwaffnet haben. Sie wissen längst, daß mein lieber Valmore, »Bruder, Gatte und Herr«, der Mann danach ist, um meine Flucht in die Einsamkeit noch zu überbieten. Wenn es noch keine Kartäuserklöster gäbe, so würde er sich ein solches erfunden haben. Auch macht er sich überall eins zurecht, wo es vier Mauern gibt und einen Haufen Bücher.

Die Jungen – das ist etwas anderes; sie haben ihre leichten Schwingen, und Einladungen interessieren sie. Mögen sie hinflattern, wo es ihnen gefällt. Die Freude anderer tut mir immer wohl.

Mögen Sie viel Freuden haben! Und weil ich das glaube, so meine ich auch, daß Ihre Güte aus derselben Quelle fließt.

»Ach! Frohen Herzens wird die Tugend leicht!«

Vergessen Sie auch nicht, daß Herzen, die viel gelitten, Freundschaft unentbehrlich ist.




An Herrn Dubois

Verwalter des Hospizes in Duoai, der mit rührender Sorge über die letzten Jahre des alten Felix Desbordes wachte, die dieser im Hospiz seiner Vaterstadt zubrachte.

Paris, 28. Mai 1851, 10 Uhr morgens

Lieber Herr,

inmitten des tiefsten Herzeleids – eines Herzens, das zu dieser Stunde ganz bei Ihnen ist – gebe ich Ihnen Antwort. Ich beschwöre Sie, bleiben Sie gütig wie immer; handeln Sie für mich, erraten Sie meine Gefühle. Sie wissen, mit welch unendlicher Liebe ich meinem armen Bruder zugetan war . . . nein, bin! Denn darin ändert sich nichts . . . Tun Sie, was getan werden muß, um meinen lieben und unglückseligen Kämpfer zu ehren . . . Ich stehe für alle Kosten ein und zolle Ihnen überdies meinen innigsten Dank. Mein Vater, unser herrlicher Vater, ruht in Sain (oder Sin) . . . Ich möchte gern, daß Felix auch dort läge; ich fühle, daß er mich darum bittet. Ich werde alles bezahlen. Haben Sie bitte ein Auge auf meine armen, so traurigen und herzgegebenen Briefe, auf seine Papiere, die Sie mir aufheben wollen; Sie wissen ja, mein Herr, was ich leide – für mich und für andere. Ich habe dieses Sterben Tropfen um Tropfen mitgetrunken; ich fühlte, was er litt, trotzdem man mich nicht benachrichtigt hatte. Seine letzten Briefe haben mich schwer bedrückt. Sie schienen noch verzweifelter, und meine eigene Not band mich hier fest. Sie können sich unsere augenblickliche mißliche Lage nicht vorstellen . . . Er hat das nur allzu sehr erraten, da er meine gewohnte schwesterliche Hilfe vermissen mußte, und dieser Kummer wird ihn getötet haben! . . .
Das ist das zweite Herzensband, das sich innerhalb acht Monaten von mir losreißt. Ich habe ihm den Tod einer lieben Schwester in Rouen verheimlicht. Ich fürchtete, ihn zu erschüttern . . . Wir sind eine traurige Familie!

. . . Ich flehe Sie an, setzen Sie diesem meinem ersten Freund ein würdiges Kreuz und jedes Jahr frisch blühende Blumen. Ich zahle es, sobald ich kann und es Gott gefällt. Ich habe so lange gezögert, meinem Versprechen eines Besuches in Douai nachzukommen, daß er nicht mehr daran glaubte. Ach! Ich werde hinreisen, aber zu spät für ihn, mein Herr! Dennoch wird er es sehen! . . .




An Valmore
Paris, 5. September 1851

 

Oh, welch schöne Unterweisung gibt uns das Unglück! Oh, göttliche Dornen Christi, wie zeigt ihr uns die Stelle, wo unser Herz schlägt!




An Pauline Duchambge
1. September 1852

 

Ich kann nicht fort, um Dir persönlich eine Freude mitzuteilen, die ich dennoch schleunigst mit Dir teilen muß, meine vielliebe Pauline! Mein lieber Valmore hat eine Anstellung. Ja! Es ist kein Traum. Die Vorsehung hat es so gewollt. Sie hat alles mühelos gefügt, ohne alle Unterstützung – nur sie selbst und ein junger Freund Hippolytes haben es zuwege gebracht. Stelle Dir vor, wie heilig froh sein armer Vater ist! Die Stellung ist sehr bescheiden, aber ganz seinem Geschmack entsprechend und ehrenvoll dazu. An der National-Bibliothek, rue Richelieu. So bleibe ich also in Deiner Nähe. Ich sende Dir den tiefen Seufzer der Dankbarkeit, der aus meinem Herzen zu Gott emporsteigt. Ich habe Dich lieb.




An T. V Raspail

Raspails Frau war gestorben, während er in Haft war.
 
Paris, 17. Februar 1853

Es bleibt Ihnen nur noch übrig, die unglückselige Mutter zu segnen, die vor Ihren Gefängnisgittern auf den Knieen liegt. Alles ist zu Ende! Nur nicht der unendliche Kummer, daß Sie nicht da waren, ihr beizustehen in der Not.

Auf später, ich schreibe noch. Hier kann ich Sie nur um Verzeihung bitten, daß ich Ihnen mein blutendes Herz zutrage, sie aber ist befreit!

 


An Louise Babeuf
Paris, 1853

. . . Ich habe meine Kraft erschöpfen müssen in der Suche nach einer Wohnung oder etwas Ähnlichem, denn heutzutage macht man sich die Luft zum Atmen streitig. Wie beklage ich Sie, wenn Sie die nämlichen Schwierigkeiten und Leiden bestehen müssen, wie ich sie durchgemacht habe, um schließlich das Recht zu erwerben, in einer ehrbaren Regentraufe zu wohnen; denn so hoch müssen wir steigen, um uns zu den Bewohnern von Paris zählen zu können. Der Preis für diesen Winkel in einer Höhe von fünfundneunzig Treppenstufen (doch es ist keine Treppe, sondern eine Leiter, die sich »Diensttreppe« nennt) ist unglaublich. Tausend Franken für dies Quartier! . .
 



An Pauline Duchambge
Paris, den 28. November 1854

Höre! Ich bin in der Kirche gewesen und habe dort acht bescheidene Kerzen entzündet, demütig wie ich selbst. Acht Seelen meiner Seele: Vater, Mutter! Bruder, Schwestern . . . Kinder! Ich habe sie brennen gesehen, und ich vermeinte zu sterben. Dies sei nur Dir verraten; es war ein Besuch bei Gott.

Wir werden schwer heimgesucht, meine liebe Pauline. Wie sehr ich Dich liebe, magst Du an dem allein ermessen, was ich Dir zu sagen wage, auf die Gefahr hin, Dich mit meinem Jammer mitzubelasten; er ist gegenwärtig groß.

Die unter Trompetengeschmetter vorüberziehenden Kanonen bereiten mir Schmerz. Doch was vermag das Gebet meines Herzens in einer so schrecklichen Bedrängnis! . . .




Paris, den 19. April 1856

Du mußt nicht beunruhigt sein, weil ich Dich all die Tage nicht gesehen habe, mein guter Engel. Ich bin infolge einer großen Erschütterung, die mich sehr mitgenommen hat, zu äußerster Ruhe gezwungen. Ich werde Dir im einzelnen mündlich berichten, weshalb mein Kopf heute so angegriffen ist . . . Wie habe ich an Dich gedacht! Daran, was Du durch Herrn de Champigny gelitten hast. Sind wir nicht wie zwei Bände des gleichen Werkes? Ein Wort wird Dich aufklären: Nach sechzehnjährigem Schweigen erhebt sich die Tochter der Madame Branchu wie ein Ungewitter und fordert unverzüglich eine Summe von . . . samt den fünf Prozent Zinsen . . . in einem Ton, als brülle ein Kriegsschiff los. Erstaunen und Entsetzen haben mir mit allem, was ihr Name Furchtbares in mein Leben getragen, ans Herz gegriffen – mehr noch, als die Forderung an sich, zu einer Zeit, da ich keine zwei Sous hatte, um einen Brief an Dich zu frankieren. Wie bin ich herumgelaufen, um wenigstens einen Teil der Summe zu beschaffen . . . In der Nacht vom Montag hatte ich einen Blutsturz. Ich glaubte meinen letzten Augenblick gekommen. Der Arzt sagt, dieser Anfall sei recht wohltätig für mich gewesen; die nachfolgende Schwäche aber kannst Du Dir vorstellen, Du, die mir in allem so ähnlich ist . . .

 


Paris, den 9. Januar 1857

 

Vor fünf Tagen vermeinte ich die Kraft zu haben, Dich aufzusuchen und Dir persönlich auf Deinen letzten Brief zu antworten. Eine äußerst heftige, äußerst unerwartete Erkältung hat mein Fieber mehr als je gesteigert. Meine Liebe, Gute! Es ist unmöglich, Dir die traurige Geistesschwäche zu schildern, in die alles das mich versetzt. Ich weiß nicht mehr, ob ich schon solche Tage durchgemacht habe. Ich muß es annehmen, da ich jederzeit in jeder Weise viel gelitten habe; doch ich bin zu erschöpft, um mir überhaupt von etwas Rechenschaft zu geben . . .
Wieso erstaunt es Dich, in die Vergangenheit so jung zurückzukehren? Sind wir nicht immer jung? Woher kommt es, daß Du fast bekümmert bist über diesen unwiderleglichen Beweis unserer Unsterblichkeit? Unser Dasein kann erlahmen, aber nicht enden. Wir hören nicht auf, zu sein, das darfst Du mir glauben. Es gibt nicht eine Nacht, in der ich nicht meine kleinen Kinder wieder in den Armen, auf meinem Schoß halte! Gewiß, sie sind es selbst! Du darfst gleich mir völlig überzeugt sein, daß sie wirklich am Leben sind, indessen das unsere nur unter Not und Angst und Trauer dahinfließt. Ich behaupte daher, daß jene Liebe, von der Du so oft in Deinen traurigsten Stunden ganz unerwartet ergriffen wirst, ein Teil Deiner selbst ist, und daß Du dann nur die Spiegelung davon erblickst . . . Das ist ein schönes, tiefes Feuer, Du solltest darum nicht klagen. Es ist der Sinn dessen, was Du Dir damals nicht erklären konntest. Es ist Deine Seele, die ihrem Hang zur ewigen Liebe folgt.
 
. . . Gestern waren die beiden Prinzessinnen bei mir, um mich gewaltsam zum Diner zu entführen. Du weißt, welches Entsetzen ich davor habe, in der Stadt zu speisen. Sie haben mich statt aller Antwort im Bett gefunden. Welch ein grotesker Unterschied zwischen ihrem und meinem Los! Ich hatte noch einen Franken in der Schublade, für den neuen Monat – und Victoire raste . . . Und da sagen diese guten Damen: »Madame Valmore versteht so gut sich einzurichten.« Die Schwiegertochter der einen hat eine Rente von fünfhunderttausend Franken.

 


Donnerstag, 3. Dezember (1857)

Wie herrlich liebevoll Du bist, mir zu schreiben, ohne daß ich Dir antworten kann, Pauline! Wie wohltuend ist Deine Teilnahme in dieser furchtbaren Zeit. Ich umarme Dich im Geiste. Jede Kleinigkeit von dem, was Dich quält und angeht, ist mir wichtig. Das bedeutsamste Wort Deines Briefes ist dies: »Es geht mir besser!« Ja, das ist ein wenig Himmelsfreude. Ich weiß, daß es überall Stürme gibt, selbst unter redlichen Menschen. Die Liebe allein, die göttliche Liebe, kann sie beschwichtigen; und Du hast diese Liebe. Wende sie an!
 



Samstag
 
Du siehst: ich habe nicht fertig schreiben können. Ich denke an Dich . . . und ich verstumme, um meine Leiden ohne Aufheulen tragen zu können. Ich führe ein unmögliches Dasein. Ich weiß nichts mehr vom wirklichen Leben – wenn dies das wirkliche Leben ist! Mein gutes Herz, ich kann Dir nur einen Kuß senden und immer wiederholen, wie unwandelbar ich Dir verbunden bin. Meine Schmerzen sind unbeschreiblich. Ich kann nirgends zur Ruhe kommen.

Guter Engel, komm nicht! Pflege Dich; es ist ein Verbrechen gegen unsere Liebe, sich zu vernachlässigen. Ich sehe es ein! Ich tue alles, meinen Zustand erträglich zu machen, aber nichts [hilft]. Du hast, recht mit allem, was (Du) über diese Krankheit sagst.

Ich wollte Dir lieber selbst dies Geschreibsel senden, als meinen lieben Hippolyte schreiben lassen. So siehst Du doch wenigstens meine Schrift und den getreuen Namen (Deiner)

Marceline









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