Die
Dichterin
»Moi
seule en mon chemin et pleurante au
milieu,
J'ai
dit ce que jamais femme ne dit qu'à Dieu.«
Entrechtete
des Schicksals, Enterbte des Glücks,
»Paria der Liebe«, war Marceline Desbordes-Valmore auch als Dichterin
nicht
begütert. Die fürstliche Schatzkammer der Sprache blieb ihr ein Leben
lang
verschlossen. Nie kann sie den heißen Leib ihres Gedichts mit den
funkelnden,
glitzernden, schillernden Edelsteinen seltener Worte, den kunstvollen
Spangen
ziselierter Fügungen, dem uralten Kronschatz ererbter und erworbener
Kultur
schmücken. Sie hat nichts, um ihrem Gefühl Befreiung zu kaufen, als die
kleine
Münze der täglichen Sprache, das Diktionär eines Bürgers, beinahe eines
Kindes.
Marceline Desbordes-Valmore ist Autodidaktin und ihre Bildung eher
unter dem
Mittelmaß der Zeit. In ihrer kurzen Jugend hat sie wenig gelernt, spät
ist sie
zur Schule gekommen: »A dix ans je ne savais rien que d'être heureuse«,
und
früh schon von der Kindheit ins Leben gerissen, haben ihr Not und Sorge
die Bücher
aus der Hand geschlagen. Niemals ließ ihr das Schicksal genügend Ruhe,
ihre
Bildung zu bessern. Nicht einmal das Geringste, die Rechtschreibung,
bemeistert
diese große Dichterin. Ein gut Teil ihrer Verse mußte erst für den
Druck
nachgefeilt werden, und in ihren Briefen wimmeln sprachliche Fehler wie
Fische
im Bach. Jedes Fremdwort wird ihr zur Klippe. In einem Briefe schreibt
sie
einmal von den Äquinoktien, die die große Hitze verschuldeten, und fügt
in
ihrer Demut dem raren Wort voll Besorgnis die Entschuldigung bei: »Ich
habe das
von andern gehört, denn du weißt ja, ich bin nicht gebildeter als die
Bäume,
die sich heben und neigen, ohne zu wissen warum.«
Marceline
Desbordes-Valmores
Kunst ist kunstlos. Ihre Reime sind kärglich, die Bilder kaum andere
als
diejenigen, die man bei Blaustrümpfen und Dilettanten findet, die
süßlich
romantischen Vergleiche von der Blume, die sich im Winde wiegt, der
Rose, die
sich entblättert, der Schwalbe, die sich ihr Nest sucht, dem Blitz, der
aus
heiterm Himmel zuckt. Sie ist wenig vielfältig in den Versformen, und
schon das
Sonett ist ihr, der Armen im Reime, zu schwer. Sie ist mittellos in
ihrer
Kunst, sie hat nichts als die abgegriffenen Kupfermünzen der täglichen
Sprache,
um sie gegen ihr Gefühl zu tauschen, das kostbare; sie hat nichts als
die
schlichten Worte, wie Rilke sagt: »die im Alltag darben«, die kleinen,
die
einfachen, die wundervollen Worte, »les mots, les pauvres mots, les
mots
divins, qui font pleurer.« Auch ihren dichterischen Besitz schafft sie
sich ganz
allein; nicht die Sprache ist es, die sie zur Dichterin macht, die von
Fremden
übernommene, sondern nur das, was sie der eigenen Brust entäußert, ein
unendliches Gefühl und dann, jene höchste Macht ihres Wesens: die
Musik.
Marceline
Desbordes-Valmore ist ganz Musik, weil sie
ganz Seele ist. Jene höchste Gewalt ist ihr geschenkt, jene
irdisch-unirdische
Gewalt, die aus den sieben Tönen, aus der Oktave, das Weltall des
Empfindens
aufbaut. Die kältesten, die nüchternsten Worte werden transparent und
durchleuchtend
von dem feurigen Rhythmus des Gefühls. Nichts ist Bau, Umriß, Bildung,
Nachahmung, Problem, Konstruktion in ihren Gedichten, alles fließend,
schwebend, aufklingend, schwingend, alles ist Musik, Verklärung. Sie
durchseelt
den ärmsten Reim, das schlichteste Wort, sie bindet das mit Mühe
Gefügte in ein
seliges Band.
Musik
ist der Sinn, Musik auch der Anlaß ihrer Dichtung.
Denn nicht Ambition, nicht Nachahmung hat sie wie die
meisten der Poesie zugeführt. Marceline liebt als junges Mädchen die
Gitarre.
Ihr feines Gehör behält die Melodieen, die sie im Theater, die sie auf
der
Straße gehört, und zu arm, die Texte, die Bücher zu kaufen, dichtet sie
sich
selbst zu Hause in den vielen einsamen Stunden melancholische Romanzen
und
kleine Lieder zu der innen nachklingenden Melodie. Unmerklich, ganz
unbewußt
wie die Blumen auf den Feldern empor zu Gott blühen, wächst aus diesem
arglosen
Spiele die ernste Neigung, die Leidenschaft zum poetischen Bekenntnis.
Und wie
dann ihre Stimme matter wird und sie dem Gesang entsagen muß, flüchtet
sie ganz
hinüber von dem gesungenen in das geschriebene, in das gesprochene
Wort. »Die
Musik begann in ihr,« schreibt Sainte-Beuve, »sich von selbst in
Dichtung zu
verwandeln, die Tränen sanken nieder in ihre Stimme, und so entblühten
die
Verse eines Tages von selbst ihren Lippen.« Sie dichtet jahrelang nicht
für die
Welt, sie singt bloß ihr eigenes Leid in Schlaf, »pour endormir son
pauvre
cœur«. Die Mutterlose und Kinderlose, die Fremde in der Liebe ersinnt
sich
selbst die Tröstung im Lied.
Sie
weiß es selbst kaum, daß sie dichtet, und hat es
ein Leben lang nie verstanden, daß sie »Dichterin« war. Es drängt in
ihrer
Brust, Schmerzen quellen auf und drohen die Brust zu sprengen, sie
steigen
empor und würgen die Kehle, aber ihren Lippen sind sie schon Melodie.
Sie
seufzt, sie weint, sie betet, sie klagt in ihren Gedichten, und was
andere
Frauen in den Kirchen ihrem Beichtiger vertrauen, was in Küssen erlöst
wird
oder in Klagen und Tränen einsam untergeht, alles das wird hier durch
Musik der
Seele Schwingung und befreite Melodie. Sie erzählt sich immer
nur selbst, sie spricht Monologe aus der tiefen Traumhaftigkeit ihres
Wesens
und vergißt ganz, daß auch andere diese Stimme je hören könnten. Darum
sind
ihre Gedichte auch so unerhört aufrichtig, so ganz ohne Scham. Sie sind
nur
Durchbruch des Gefühls, Zerreißen der von Schmerz gespannten Hülle des
Lebens
durch innere Gärung. Diese Verse, oft sind sie nur Schreie, manchmal
Klage,
manchmal Gebet, immer aber beseelte Stimme. Sie sind nicht das
Gefundene und
Gefügte, sie sind das bloß Ausgeströmte, das Zufällige, denn Marceline
Desbordes-Valmores Genie ist das der Unmittelbarkeit. Am Nähtisch
hingesummt,
zwischen der Arbeit und den Sorgen, oder abgestreift von den farbigen
Flügeln
des Traums, kommen ihr diese Verse zugeflogen, Schmetterlingshaft und
leicht.
Niemals sind sie durch die Magie des Willens hergezwungen, nirgends ist
Schwere
von Absicht in ihnen, kaum sind sie anderes als melodisch bewegte Luft.
Das
Gedicht »Ma demeure«, ist es nicht ein reiner Seufzer, verhauchend in
Musik?
Man höre es klingen, dies Trostgebet einer armen Seele:
Ma
demeure est haute
Donnant
sur les cieux,
La
lune en est l'hôte
Pâle
et sérieux.
En
bas que l'on sonne,
Qu'importe,
aujourd'hui?
Ce
n'est plus personne
Quand
ce n'est pas lui!
Vis à
vis la mienne
Une
chaise attend,
Elle
fut la sienne,
La
nôtre, un instant.
D'un
ruban signée
Cette
chaise est là,
Toute
résignée
Comme
me voilà!
Diese
Aufrichtigkeit gibt ihren Gedichten höchsten und
einzigen Wert. Eben weil diese Dichtungen nichts der Phantasie danken
und alles
dem Erlebnis, sind sie so frauenhaft. Es sind die Jahreszeiten der
Seele, und
nie seit Sappho hat man so tief und schön durch den Schleier der
Dichtung in
ein Frauenherz, nie so nackt eine Seele im Bade des Gefühls gesehen.
Erröten,
Zögern, Angst, Scham und Bedacht (sie spricht ja im Traum), all das ist
ihr
fremd. Wir lauschen wie in ein fremdes Zimmer diebisch hinein in ihr
Leben.
Aber sie, die Entschleierte, ist so rein, so edel und keusch, daß sie
uns alle
Beschämung des Lauschers erspart. Wir wissen von ihr tiefstes Erlebnis
und
wissen damit von allen Frauen durch diese eine, die aufrichtig war, und
dem
dichterischen Wert fügt sich derart ein unabschätzbarer
dokumentarischer bei.
Denn beispiellos in der Weltliteratur ist dies selige Wunder restloser
Aufrichtigkeit, dem zu Dank man hier aus kleinen Liedern, Zeile um
Zeile, ein
Frauenschicksal, eine ganze Biographie aus Gedichten aufbauen kann,
ohne daß
sich irgendwo eine Lüge darin fände, eine Verschönerung oder Heuchelei.
In
tiefer Unbesorgtheit vermag man hier jenes Wunder der Kristallisierung
des
Gefühls zu betrachten, das sich sonst dem Tag und der Erkenntnis
verschließt,
die Mysterien der Schwangerschaft, die Schauer des ersten
Liebesempfindens, das
Grauen des Alterns, Schauer und Glück vor dem neuen Erlebnis der
doppelten
Liebesfähigkeit, die Qual der Entfremdung der Kinder durch das Leben,
das
Verströmen der sinnlichen Liebe in die Gottesliebe, in Religion.
Nirgends in
einem Dichter ist das Gefühl
transparenter und so
selbst Dichter gewesen als in den Versen der Desbordes-Valmore, und die
Leugnung Sainte-Beuves ist ihr höchstes Lob: »Elle n'est plus poète,
elle est
la poésie même.« Sie ist selbst nicht die Dichterin, sondern das Gefühl
dichtet
gleichsam durch sie hindurch.
Musik
hat die Dichtung ihr zugebracht, Musik trägt sie
von ihr fort in die Welt. Freundinnen und Fremde vertonen ihre kleinen
Lieder;
sie staunt, sie will es nicht glauben, daß sie mit einmal beflügelt in
die Welt
wegstreben. Wie einst in der Liebe, so geht es der Glückentwöhnten auch
im
Ruhm, sie kann ihn nicht fassen, kanns nicht denken, daß diesen kleinen
Versen,
die sie zwischen der Arbeit, halb im Spiel, halb im Traum ersonnen,
irgendein
Wert, eine Bedeutung innewohnen könne. Die Dichtung, das war ihr doch
nur ein
Opiat, ein kleines Glück gegen die großen Schmerzen, eine
Selbsttäuschung, der
Liebe in Lust und Qual verwandt:
»Comme
une douleur plus tendre il a sa volupté«, und
nun kommen Menschen, große berühmte Dichter, und feiern dies als
Literatur.
Sainte-Beuve begrüßt die Verse mit einem Hymnus; Balzac, der
freundliche Koloß,
schleppt sich keuchend und dampfend die hundertdreißig Stufen zu ihrer
Wohnung
hinauf, um ihr seine Bewunderung zu sagen; Victor Hugo jubelt schon als
Knabe
ihr zu. Mit Tränen und Schauer wehrt sie alle Lobpreisungen als
unverdient ab,
fast fürchtet sie Hohn in dieser Werbung der Welt wie einst in jener
Valmores.
Kein Ruhm läßt sie diese tiefinnerliche Bescheidenheit je verlieren.
Sie ist »stupide
de joie«, wenn man ihr ein paar freundliche Worte sagt; und als
Lamartine, der
Berühmteste seiner Zeit, mit einem prachtvollen Gedicht sich grüßend an
sie
wendet, schauert sie zusammen wie unter Engelsruf.
In
dem Gedichte der Antwort, das die schönen Zeilen mit noch schöneren
erwidert,
lehnt sie allen Ruhm erschreckt ab:
»Oh
n'as tu pas dis le mot gloire
Et ce
mot je ne l'entends pas.«
Immer
und immer wieder weist sie auf die Nichtigkeit
ihrer kleinen Person hin:
»Je
suis trop buissonnière, et ce n'est pas aux champs
Qu'il
faut apprendre à moduler ses chants,
Il
faut, ce qui me manque, une sévère école
Pour
livrer sa pensée au vent de la parole.«
Vor
dem kleinsten Dichter, dem letzten Dilettanten
beugt sie sich und reicht gleichsam knieend Madame Tastu, irgendeiner
Goldschnittlyrikerin, schülerhafte Huldigung. Ein ganzes Leben lang
begreift
sie nicht, was Literatur ist. In den dreihundert Briefen, die man von
ihr
kennt, mag man vergebens eine Zeile suchen, die diesem Jahrmarkt der
Eitelkeiten gilt, in wundervoll unzerstörbarer Naivität unterschätzt
sie ihren
eigenen Wert, wie sie den fremden erhöht. Latouche, den Autor der
Fragoletta,
diesen zweifelhaften Freund, nennt sie einen »homme d'immense génie«
und fühlt
sich ihm ein Leben lang verpflichtet, weil er die Silben in ihren
Versen
nachzählte und ihr einen Verleger fand. Auch hier ist sie immer die
Gebeugte,
die Hingegebene – »née à genoux«, wie sie einmal sagt. Selbst die
Literatur
vermag nichts gegen die beseelte Schüchternheit ihres Wesens.
Niemals,
niemals kann sie das Wunder erfassen, daß ihr
kleines enges armseliges Leben, ihre geknechteten scheuen Gefühle
irgendeines
andern Menschen Interesse und Neigung finden könnten. Es sind doch nur
ihre
Tränen, die hier im Verse überfließen, flüchtige Kristalle vom
Widerstreit des
äußern Lebensfrostes und innerer Glut, wie Eisblumen auf die
Spiegelfläche ihres Schicksals hingezaubert. Und wirklich, »larmes et
pleurs«
sind die beiden Worte, die wieder und wiederkehren durch ihr ganzes
Werk, der
ewige Kehrreim aller ihrer Gedichte, Schmerz und Mißgeschick, die
wirklichen
Sterne ihres Lebens, sind auch die einzigen Inspiratoren ihrer
Dichtungen
gewesen. Aber allmählich weitet sich das Gefühl, zweigt vom
persönlichen
Erlebnis ab und strömt über in das große Mitleiden. Ihr eigenes Leben
löst sich
in ein Weltgefühl. Der romantische selbstgefällige Schmerz, den sie
unwillkürlich von schlechten Byronschen Nachbildern ihrer Zeit
übernommen,
erhebt sich durch eine innere Güte allmählich zum tragischen
Glücksgefühl, und
gleichzeitig schwindet aus der Sprache aller romantische Bombast. Ihre
Stimme,
die leise klingende, wird stark im Anruf der andern; Schwesterschaft
mit aller
irdischen Qual läßt sie in ihren späteren Versen ein erhebendes Pathos
finden.
In Versen ruft sie alle Erniedrigten an:
»Vous
surtout qui souffrez,
je
vous prends pour mes sœurs,
Pleureuses
de ce monde ou je
passe
inconnue.«
Alle
Mütter fühlt sie klagen in ihrer eigenen Stimme,
alle Tränen der Welt strömen den ihren zu, tausend Seufzer beschwingen
ihr
Gedicht. Und in Lyon, der Stadt im Aufstand, wird die Klage zur
Anklage, der
Ruf zum Schrei. Aus dem schüchternen Kinde, der Leichtverführten, ist
durch
Liebe die Frau geworden, und durch Mutterschaft und Schmerz wird sie
Mensch und
Mitmensch. Sie klagt an, die deutet mit zitternden Fingern auf die
Kanonen, die
lebende Menschen, Väter, Frauen und Mütter niederkartätschen, und
unbewußt ruft
eine bewegte Zeit sie zur großen sozialen Dichterin empor. Sie
schildert das
Elend der Arbeiter, den Hohn der Reichen und die Komödie der Gerichte,
sie
wendet sich an die ganze Menschheit und hebt ihre Stimme
auf zu Gott. Alles Unglück hat in ihr Bruderschaft:
»Je
me laisse entraîner où l'on entend des
chaînes,
Je
juge avec mes pleurs, j'absous avec mes peines,
J'élève
mon cœur veuf au Dieu des malheureux,
C'est
mon seul droit au ciel et j'y frappe pour eux.«
Ihre
Liebe hat sich in Weltliebe verwandelt, alle
Sentimentalität ist im Sturm des Schicksals weggeweht, und wenn sie die
Stimme
jetzt zur Klage erhebt, so gilt es längst nicht eigenem Schicksale
mehr,
sondern sie, die Demütige für sich selbst, spricht herrisch und kühn
für die
Menschheit. Laut, voll und drohend orgeln ihre Verse empor zu dem
Schöpfer
aller Qualen, zu dem Herrn des Schmerzes. Nicht die Frau spricht mehr
von
Sehnsucht und Entbehrung weiblichen Gefühls, sondern das Namenlose zum
Namenlosen, und die letzten, die schönsten Verse der Desbordes-Valmore
sind nur
mehr Zwiesprache der leidenden Kreatur mit ihrem Schöpfer, mit Gott.