»D'un
cœur de femme il faut avoir pitié,
Quelque
chose d'enfant s'y mèle à tous les âges.«
In
der ersten Morgenröte des Jahrhunderts, im Kriegsjahre 1801 steuert
eine kleine französische Karavelle Westindien
zu, vierzig Tage und vierzig Nächte durch den unendlichen Ozean. Nur
ganz
Verwegene wagen ihr Leben damals an solche Fahrt, denn die englischen
Fregatten
durchkreuzen raubgierig das Meer und jagen jeder Napoleonsflagge als
erwünschter Prise nach. Auf dem Verdeck zwischen Offizieren,
Abenteurern, Kommissären und Kaufleuten, zwischen all den Heimatlosen
des Wunsches
und des Schicksals zwei weibliche Gestalten, eng aneinandergelehnt in
ihrer
Angst, wenn die Wellen wie gierige Tiere über Bord springen, zwei
kranke und
schwanke Gestalten, ein vierzehnjähriges Kind, blond und zart, eine
kleine
Madonna, mit ihrer sorgenvollen Mutter zur Seite. Stürme schüttern das
schwanke
Fahrzeug,tropische Sonne brennt auf die gerafften Segel, wenn in der
Windstille
das winzige Fahrzeug sich ohnmächtig in der endlos flimmernden Schwüle
des
Ozeans wiegt. Nachts blicken fremde Sterne herab auf das niedere Deck,
wo sie
auf und ab gehen, sorgenvoll und ohne Freund. Manchmal singt das kleine
Mädchen
mit ihrer gebrechlichen Silberstimme altmodische Romanzen, um die
Mutter zu
trösten und eine Heiterkeit vorzutäuschen, von der das eigene Herz
nichts weiß.
Dieses
vierzehnjährige blonde Mädchen unter fremden
Sternen ist Marceline Desbordes, mit ihrem späteren Doppelnamen
Marceline Desbordes-Valmore als Frankreichs größte Dichterin bekannt.
Zu Douai in
Nordfrankreich ist sie am 20. Juli 1786 geboren, in jenem flandrischen
Grenzkreis, der von je der französischen Sprache die
höchsten Meister des Liedes geschenkt hat: Verlaine, Samain, Rodenbach,
Verhaeren, Lerberghe. Den Desbordes, einer alten Familie, steckt der
Künstler im Blut. Der Oheim ist Maler, und auch der Vater, im Handwerk
der Kunst
verwandt, dankt behaglichen Wohlstand dem durchaus höfischen Beruf des
Heraldikers und Schildermalers. Jahrzehntelang hat er die Karossen des
Adels mit Emblemen geschmückt und mancherlei Prunkgerät mit Wappen und
Spruch
verziert. Aber die Revolution hat die Schlösser zertrümmert, die
Karossen sind selten geworden und die Wappen zersplittert: aus
gemächlicher
Wohlhabenheit stürzt die Familie nieder in eine plötzliche Armut, und
die grauen
Schwestern Dürftigkeit und Sorge umschleichen das Haus. Der Erwerb ist
verloren,
nirgends in der Nähe Hilfe und Ersatz. Da beschließt die Mutter in
phantastischer Kühnheit, Rettung von einem entfernten Verwandten in
Guadeloupe zu
erbitten, einem Plantagenbesitzer, von dessen Reichtum Legenden über
das Meer
gedrungen sind. Ohne sich von Vernunft und Gefahr abmahnen zu lassen,
rüstet sie
die Reise und nimmt als Begleiterin gerade das Schwächste, das Jüngste,
das
Liebste mit, die zwölfjährige Marceline, ein Kind, goldblond und zart,
mit
blaßrosig durchleuchtendem Antlitz wie das der Madonnen des van Eyck.
Der Hafen
wäre nahe, aber es fehlt den beiden das Geld zur Überfahrt. Nahezu zwei
Jahre ziehen sie durch ganz Frankreich, ehe sie die Barschaft
zusammengespart und
gebettelt haben. Die Mutter ist untüchtig und schwächlich, so muß es
Marceline,
die Zwölfjährige, sein, die das Brot erwirbt, Tag für Tag. Im Alter der
Sorglosigkeit, da andere Kinder noch mit ihren Puppen spielen, muß sie
schon, wie Mignon, die Heimatlose, in Komödiantentruppen Dienst tun,
muß
täglich mit ihrer kindischen, fragilen Stimme Lieder singen und
tanzen, um nur das Kärglichste der Notdurft zu verdienen. Und mit wie
viel Tränen ist dies schmale Brot genetzt! Die Truppe, die sie
aufnimmt,
macht Bankrott, ein anderes Mal jagt sie eine unfreundliche Prinzipalin
mit
Schlägen davon, und vor dem Hungertod bewahrt sie nur das Mitleid
gütiger
Kameraden. Aber sie dulden alles, um nur hinüber zu gelangen ins
Goldland, denn
dort drüben harrt ihrer ja Reichtum, die Rettung. Sie hungern, sie
betteln,
sie frieren, sie darben sich durch von einem Ende Frankreichs bis zum
andern, diese beiden Frauen; zwanzig Monate kämpfen sie, bis endlich in
Bayonne
jemand ihnen genügend Geld leiht oder schenkt, um die gefährliche Reise
anzutreten.
Vierzehn Jahre ist die kleine Marceline jetzt alt, aber ihre Kindheit
ist
unwiederbringlich untergegangen in Not und Sorge.
Und
nun reisen sie über den Ozean vierzig glühende
Tage, vierzig sterndunkle Nächte dem Vetter entgegen, der ihnen helfen
soll.
Aber ehe das Schiff landet, tauscht der Kapitän seltsame Signale mit
denen am
Ufer, und seine Mienen verdüstern sich. Entsetzliche Nachricht erwartet
sie:Guadeloupe steht nicht mehr unter französischer Herrschaft, ein
Aufstand der geknechteten Neger hat die Insel verwüstet. Und ihr
Vetter, der reiche
Plantagenbesitzer, auf den sie alle Hoffnungen gesetzt hatten, ist als
einer der Ersten von der Meute ermordet worden. Ratlos stehen die
beiden
Frauen am Ufer, allein in einer ungeheuren Wildnis von Menschen und
Dingen. Die
Mutter trägt es nicht lange, das gelbe Fieber rafft schon in den ersten
Tagen
die Enttäuschte hinweg, und nun steht die vierzehnjährige Marceline
ganz
allein, meilenweit von der Heimat, unter fremden Menschen und Sternen,
angewiesen auf das
Mitleid oder Übelwollen von Unbekannten. Nichts an Grauen bleibt
ihr erspart. Ein Erdbeben schüttert die Stadt, sie sieht Feuersäulen
aus den harten Bergen brechen und die Häuser zusammenstürzen. Auf den
Knieen
bestürmt sie den Gouverneur, er solle ihr die Heimreise ermöglichen.
Aber nach
Wochen erst – nach namenlosen Wochen, von deren Elend niemand weiß –
wird ihr
Wunsch erfüllt, und siebenfach heimatlos, eine Waise, kehrt sie wieder
zurück
auf einem elenden Kauffahrteischiff, wieder vierzig Tage und vierzig
Nächte. Das Kind ist das einzige weibliche Wesen auf dem Fahrzeug, und
der Kapitän,
ein trunkener und brutaler Geselle, sucht aus ihrer Verlassenheit
Vorteil
zu ziehen. Er stellt ihr nach, und die Erschreckte muß zu den Matrosen
um
Hilfe flüchten, die sie in einer Art humaner Revolte vor seinen
Zudringlichkeiten schützen. Aus Rache fordert er nun Bezahlung für die
Überfahrt und
behält der Waise bei der Ausschiffung in Havre den kleinen Koffer
zurück, der all
ihre Habseligkeiten enthält. In schwarzen Trauerkleidern, ohne Geld und
ohne
Freunde steht die Fünfzehnjährige nun in der fremden Stadt, aber ihr
Mut zur
Entbehrung ist gestählt von all den bitteren Erfahrungen. Niemand weiß,
wie sie
sich weiter bis nach Lille geschleppt hat, wo sie einige Menschen
kennt.
Dort taucht sie im Jahre 1803 plötzlich auf, und freundliche Bekannte,
von ihrem Schicksal gerührt, organisieren eine Theatervorstellung zu
ihren
Gunsten. Die Ankündigung,ein Kind, das aus dem Massaker von Guadeloupe
gerettet sei, werde auftreten,bringt dem Theater einigen Zulauf und ihr
genug Ertrag, daß sie endlich
nach fast dreijähriger Wanderung wieder nach Douai in das Heimathaus
zurückkehren kann. In traurige Stuben tritt sie dort mit ihrer bösen
Botschaft ein.
Der Vater bringt sich nur kümmerlich weiter, ihr Bruder, unfähig zu
ernster Arbeit, ist aus Not Soldat geworden und kämpft in Spanien für
Napoleon.
Dunkel auch hier wie überall. Ein paar Tage bloß
ruht sie aus bei den Ihren, dann wandert sie eilig weiter, um nicht
länger zur Last zu fallen. Früh ruft sie das Leben: schon vom zwölften
Jahre an
wirft sich die ganze Notdurft der Existenz schwer auf die zwei schmalen
Schultern
und erdrückt ihr die Kindheit.