Mater
dolorosa
»Enfants
priez pour moi, j'ai tant prié pour vous.«
Hingabe
war ihres Lebens Sinn und die Mutterschaft
darum ihre höchste Berufung. Hier war ihrer Opferfreude, der so oft
verschwendeten, Beständigkeit geboten und ihres Empfindens fast
religiöser
Reinheit unschuldige Antwort. Hier durfte sie dienen ohne Ende und ohne
Dank,
ihr Blut mühen für eigenes Blut. Einzig in diesem weiblichsten der
Gefühle
lischt ihres demütigen Lebens Angst, die Unwürdige zu sein und ein
Glück nicht
zu verdienen. Die Verschüchterung ihrer Seele wird im Anblick ihrer
Kinder von
einem neuen Gefühl gescheucht: zum ersten Male begreift sie, daß Gott
auch ihr,
der Enterbten, gütig sein kann:
»Dieu
dans ma pauvreté me laissait être mère.«
In
dem Sturm ihres Lebens ist hier eine kleine
Insel Seligkeit, und man kennt die Stimme, die sonst so sorgenvolle,
nicht
mehr, wenn Marceline von ihren Kindern spricht. Der Flor von
Melancholie ist
gesunken, und die Träne, die aufquellende, trübt nicht mehr ihre selige
Melodie. Ein Jubel, den Liebe sie niemals lehrte, springt hoch:
»Un
enfant! un enfant! ô seule âme de l'âme!
Palme
pure attachée au malheur d'être femme!
Éloquent
défenseur de notre humilité,
Fruit
chaste et glorieux de la maternité,
Qui
d'une langue impie assainit la morsure
Et de
l'amour trahi ferme enfin la blessure!
Image
de Jésus qui se penche vers nous
Pour
relever sa mère humble et née à genoux.«
Diese
brennende Mütterlichkeit umspannt die kleinen
Leben von ihrer frühesten Stunde bis in die Mannheit, sie beginnt schon
im
Vorgefühl der Erwartung, sie flügelt
ihrem Nahen schon voraus,
und niemals hat eine Mutter für mein Empfinden ein schöneres Gedicht
geschrieben, als sie zur Geburt ihres Sohnes Hippolyte. Das Mysterium
der
Schwangerschaft verwandelt ein tiefes Blutempfinden in eigenstes
seligstes
Erlebnis, sie mahnt – noch matt von Schmerzen, die längst verrauscht
sind im
Glück – das Kind an all die süßen Sorgen der Erwartung, wie sie aus
Gebeten
Glied um Glied seines Körpers schuf, wie seine Sinne durchwebt sind von
ihren
Träumen und sein ganzes Leben glühend vorgeahnt aus ihren Wünschen. Die
selige
Stunde der Geburt beneidet noch die des dunklen Verbundenseins, und im
schönsten Worte ergießt sich die ganze Glut ihrer Erwartung:
»J'aurais
voulu voir Dieu pour te créer plus beau.«
Körper
von Körper gelöst, senkt sie noch ihre Seele
in die halbbewußte zurück und durchglüht sie mit Sorgen der Liebe. Und
wie die
Kinder dann aufwachsen, ist sie ihre einzige Dienerin. Sie wacht über
ihren
Schlaf und ihre Angst. Sie macht sich kindlich mit ihnen, ihre Verse
lernen die
Sprache lallender Lippen sprechen, sie erfindet, die Kindliche, ihrem
Mädchen
ein Gedicht zum Einschlafen, das unsterblich geworden ist in der
französischen
Literatur und das jedes Kind in der Schule heute mit seiner kleinen
Stimme
lernen und sprechen muß. Es ist das Gebet »L'oreiller«, das schönste
Abendgebet
der Welt:
»Cher
petit oreiller, doux et chaud sous ma tête,
Plein
de plume choisie, et blanc, et fait pour moi!
Quand
on a peur du vent, des loups, de la tempête,
Cher
petit oreiller, que je dors bien sur toi!
Beaucoup,
beaucoup d'enfants pauvres et nus, sans mère,
Sans
maison, n'ont jamais d'oreiller pour dormir;
Ils
ont toujours sommeil. O destinée amère!
Maman!
douce maman! cela me fait gémir.
Et
quand j'ai prié Dieu pour tous ces petits anges
Qui
n'ont point d'oreiller, moi j'embrasse le mien.
Seule,
dans mon doux nid qu'à tes pieds tu m'arranges,
Je te
bénis, ma mère, et je touche le tien!
Je ne
m'éveillerai qu'à la lueur première
De
l'aube; au rideau bleu c'est si gai de la voir!
Je
vais dire tout bas ma plus tendre prière:
Donne
encore un baiser, douce maman! Bonsoir!«
Noch
ehe sie sprechen können, beseelt sie so ihre
stummen Lippen in Musik. Und für den Sohn, wie er zum ersten Male zur
Schule
geht, schreibt sie jene entzückende kleine Erzählung vom »L'ecolier«,
um ihn
zum Fleiße anzufeuern; und die haben seitdem tausend Mütter tausend
Kindern
vorgesprochen, wenn sie zum erstenmal mit ihrem Ranzel zur Schule
trotten. Sie
muß sich nicht zwingen zu diesen Versen, sich nicht kindlich machen um
der Kinder
willen, denn sie selbst wird selig an diesen kleinen Strophen. In
diesen
Kinderliedern erwacht plötzlich etwas in ihr, das ganz vergessen und
verschüttet lag: ihre eigene Kindheit. Von dem Lächeln der Kinder
reflektiert
eine Heiterkeit in ihr Leben zurück, sie findet in entzückenden
melodischen
Versen kleine schalkische Wendungen, ihr Herz, das verschattete, blüht
wieder
auf in Heiterkeit. Zum erstenmal atmet sie unbesorgt. Die Armut um ihr
Leben
trifft sie stark und gepanzert, denn Mutterschaft, das neue Glück,
umgürtet
ihren Leib, der Tod kann ihr nichts mehr anhaben, das Schicksal hat
keine Macht
über sie. Jubelnd ruft sie aus:
»J'ai
des enfants! leurs voix, leurs haleines,
leurs jeux
Soufflent
sur moi l'amour qui m'alimente encore;
J'ai,
pour les regarder, tant d'âme dans les yeux!
Mon
étoile est si bien nouée à leur aurore!
On
m'a blessée en vain, je ne peux pas mourir:
J'ai
semé leurs printemps, je dois les voir fleurir.«
Aber
dieser großen Dulderin ist aller irdische
Besitz nur als Pfand flüchtig gegeben, und sie muß ihn auslösen mit
allen ihren
Tränen. Der Tod steht zwischen ihr und dem Glück. Das erste Kind, das
Kind des
Unbekannten, hat ihr der Tod genommen, und auch das erste, das sie
Valmore
schenken darf, stirbt nach wenigen Wochen. Dann scheint das Unheil
beschwichtigt mit diesen ersten beiden Opfern ihrer Liebe, drei werden
den
Verlorenen nachgeboren und überwachsen die Kindheit: Hippolyte ihr Sohn
und die
beiden Töchter Ondine und Ines. Zwanzig Jahre lang darf sie sich ihrer
freuen.
Sie zieht sie heran, und schon bringen sie Gefahr in ihr Leben. Ondine,
die
ältere, ein kokettes, kluges und ambitiöses Mädchen, wird von der
Literatur
lebhaft verlockt; Sainte-Beuve wünscht sie zur Frau, sie weist ihn
zurück; aber
mit einem Male muß Marceline entdecken, daß Latouche, der
freundschaftlich in
ihrem Hause verkehrt (in dem manche Biographen den Verführer, den
»Olivier«
Marcelines und den Vater ihres unehelichen Kindes sehen), sich mit
allen
Künsten bemüht, und nicht ganz vergeblich, die Nähe und Vertrautheit
des
Umgangs zu mißbrauchen. Aufgescheucht in ihrer Angst schreibt Marceline
innige
Briefe an ihre ferne Tochter, die erhalten sind und in rührender
Fürsorge sie
vor dem eigenen Schicksal warnen. An der Angst wacht noch einmal das
Grauen der
früh erlebten Leiden auf. Tage der Aufregung und Monate des Entsetzens
stürzen
jetzt in ihr Leben. Wie sie ihr Kindheitsglück im Betrachten verdoppeln
durfte,
will nun auch die Tragödie des
grausamen Verführtseins
im Kinde sich erneuern. Sie muß das Kind schützen, sie, die keine
Mutter damals
hatte, die sie zurückriß vor ihrem Elend, schützen (der Gedanke ist
kaum zu
fassen): vor vielleicht ebendemselben »Olivier«, dem gleichen Verführer
oder
zumindest der gleichen Verführung. Aber es gelingt, Ondine zu warnen
und sie
bald darauf mit einem einfachen und nüchternen, achtbaren Mann zu
vermählen.
Zu
retten, um sie zwiefach zu verlieren. Denn
jetzt, da sie gesichert scheint, führt das Schicksal seinen ersten
Schlag.
Ines, die jüngere Tochter, stirbt mählich hin an Schwindsucht, dann
folgt ihr
im Tode das einzige Enkelkind, das Ondine geboren, und wenige Jahre
darauf an
der gleichen Krankheit, zur Verzweiflung der Mutter, Ondine selbst.
Alle die
Lichter, die ihr Leben erhellten, löschen aus mit ihren Augensternen,
und
ebenso, wie einst in der Liebe, sieht sie nun im Schicksal einen
finstern Hohn,
eine Ironie des Glückes, die ihr Herz zerschneidet. Ihre Krone rollt in
den
Staub, mit einmal ist sie »la mère découronnée«; ihr Stolz, ihr
Vertrauen sind
gebrochen, die sieben Schwerter der Madonna durchbohren jetzt ihre
Brust. Und
als wären diese teuren Existenzen gleichsam unterirdisch miteinander
verwurzelt
gewesen, so stürzt jetzt plötzlich der ganze Wall ein, mit dem sie ihr
Leben
gefestigt glaubte. Ihr Onkel, ihr Bruder, ihre Freundin sterben, fast
alle zu
gleicher Zeit, in diesen entsetzlichen Jahren: wie Niobe sieht sie,
versteinert
vor Gram, einen nach dem andern unter den Pfeilen des Schicksals
sinken.
Vor
der Liebe konnte sie flüchten, doch nicht vor
dem Tod. Gegen ihn ist sie machtlos. Nun ist, sie fühlt es, alles
endgültig
verloren. Die Liebe ihres alternden Gatten vermag ihr, der weißhaarigen
Frau,
keine neuen
Kinder mehr zu erwecken. Ihre Familie ist
zersprengt, die Freunde entschwunden, nichts kann sie mehr begnaden auf
dieser
Welt. Aus dem Trümmerfeld ihres Lebens glüht ihre Sehnsucht jetzt nur
den
Himmel mehr an. Sie hat nur Gott mehr, um ihn zu lieben, und sie bietet
ihm das
einzige, das Letzte, was sie besitzt, ihren Schmerz:
»Je
vous donnerai tant de larmes
Que
vous me rendrez mes enfants.«
Zu
ihm sprechen jetzt alle ihre Verse, zu ihm
allein heben sich ihre Blicke. Die Erde hat für sie keine Heimstatt
übrig, nur
zurück will sie in die andere Welt, wo ihre Kinder sind und alles, was
sie in
diesen dumpfen Jahren geliebt. Verzweifelt pocht sie an die Himmelstür,
sie
weist ihre Wunden und ihre Armut:
»Ouvrez,
je ne suis plus suivie
Que
par moi-même et par la vie.«
Sie
weist ihre Wunden, sie bietet ihre Tränen, all
ihren Schmerz breitet sie ihm hin.
Ihr
Leiden ist höchstes Anrecht geworden, und was
einst ihre Seligkeit war, das nennt sie jetzt Gott als Sinnbild des
äußersten
Schmerzes, da sie empor will in sein Herz:
»Laissez
moi passer – je suis mère.«