Menschlichkeit
»Peut
on être juste et ne pas plaindre
tout
ce qui respire? De là souvent ces élans
d'imprudente
piété qui m'ont fait croire
à des
fausses larmes. J'aime mieux en
avoir
été victime que sentir mon cœur
se
briser.«
Die
Leidenden allein wissen um das Leiden: überall
erkennt darum Marceline Desbordes-Valmore mit schwesterlichem Blick
jedes
irdische Unglück. Über sie, die von Sorgen fast Erdrückte, schütten
noch alle
andern ihre Sorgen hin. Kaum weiß sie selbst, wie für den nächsten Tag
das Brot
für sich und ihre Kinder zu schaffen, und noch drängt der Bruder, der
entlassene Soldat, der arbeitslose Oheim, der greise Schwiegervater um
Geld an
sie heran. Und sie gibt, ehe sie sich selber nimmt. In allen Vorzimmern
der
Ministerien kennt man sie, die ewige Petentin. Bald bettelt sie für
eine arme
Witwe, eine entlassene Schauspielerin, bald fordert sie Befreiung eines
armen
Sträflings, bald rennt sie die Sohlen durch um 500 Franken für die
Heimreise
eines jungen Italieners – nie aber bittet sie für sich.
Man
lese ihre Briefe: ununterbrochen
ist sie, die selber Notleidende,
Fürsprecherin alles irdischen Elends; alle ihre literarischen
Verbindungen
nutzt sie einzig, fremde Not zu erleichtern.
Denn
fremde Not ist ihr härter als die eigene. Als in
Lyon der Aufstand ausbricht, schreibt sie die wunderbaren Worte: »Man
errötet,
daß man zu essen, daß man warm und zwei Kinder zu haben wagt, während
die
anderen nichts besitzen.« Alle Härte des Gerichts, jedes Urteil ist für
sie,
die nur Milde kennt, ein nie zu beschwichtigendes Entsetzen. »Wenn ich
ein
Schafott sehe, verkrieche ich mich unter die Erde und kann nicht
essen, nicht schlafen.« Und als der Zufall will, daß sie bei ihren
hundert
Quartieren einmal gegenüber einem Gefängnis wohnt, wagt sie keinen
Blick mehr
aus dem Fenster. Nie kann sie begreifen, daß man bestraft, statt zu
verzeihen.
»Um sechs Franken willen, um zehn Franken willen, wegen eines
Zornausbruches,
für eine fieberhaft geäußerte Meinung schickt man Menschen in die
Galeeren!«
Ihr Herz kann das nicht verstehen: ihr sind im russischen Sinn alle
Übeltäter
nur »Unglückliche«, und allem Unglück fühlt sie sich verwandt. Darum
verwendet
sie, die Gehetzte, die Gejagte, noch ihre ganze Willenskraft, um zu
helfen. Sie
dringt einmal in einem Gefängnis bis zum Direktor vor, um Entlassung
für einen
Sträfling zu verlangen; und als sie das Haus mit den Riegeln und
vergitterten
Gelassen mit guter Botschaft verläßt, atmet sie auf: »Ich fühlte mich
wie im
Himmel, als ich das Haus verließ.« Sie bettelt bei Theatern um Rollen
für
Zurückgesetzte, bei dem König für eine Witwe; und als Martin, ein
Landsmann von
ihr, Minister wird, schreibt sie ihm im Patois seiner Heimat, um ihn
milde zu
stimmen. Sie steht müde und krank von ihrem Bette auf, um einem Freunde
einen
verfallenen Pfandbrief zu retten: jeder Appell an das Mitleid reißt
eine Kraft
aus der Hinfälligen unverweigerlich empor, denn hier fühlt sie sich
angerufen
im wahren Namen und Kern ihres Wesens. Trösten ist ihr ein vitales
Bedürfnis:
im Wohltun strömt sie die ganze überschwengliche Gefühlsmacht, die
einmal der
unselig Geliebte verachtet, nun auf alle Verachteten aus.
Dieser
Blick für das Leiden ist unvergleichlich bei
Marceline Desbordes. Man lese ihre Schilderungen Italiens: zum
erstenmal
betritt sie Mailand, aber sie sieht nicht die marmorn gepflasterten
Straßen mit
den Karossen wie Stendhal, nicht die amoureuse wollüstige Luft
des Südens: ihr erster Blick sieht die vielen Bettler an den
Kirchentüren, die
zerlumpten Kinder, die Elendsquartiere, sie durchschaut den Jammer, der
unter
diesem Luxus sich scheu verbirgt. Und in den Kirchen ergreift sie nur
die
Darstellung des leidenden Christus und die heilige Demut der Märtyrer.
Irgendeine urtümliche Einstellung wendet ihren Blick immer den
Geprüften zu: sie
hat keine Wahl, denn sie sieht nur durch Ergriffenheit. Bei den
Aufständen
steht ihr Herz zu dem ewig besiegten Volke, bei dem »herrlichen, dem
sublimen
Volke«. »Armes Volk,« schreit sie einmal auf, »so voll Zuversicht und
Frömmigkeit, es hat auch diesmal nichts erhalten als das Recht, für
seine
Kinder zu sterben . . . Wir gehören zum Volk durch unser Elend und
unsere
Überzeugung.« Nur die Zurückgestoßenen liebt sie wahrhaft, die selbst
Zurückgestoßene. Und vielleicht weil sie so zärtlich, so wissend das
Leiden
fühlt, kommt gleichsam angelockt immer wieder von allen Seiten alles
Unglück
zutraulich zu ihr. Sie ist die Beichtigerin ihrer Freundinnen, die
Trösterin
ihres Mannes, dem sie über seine theatralischen Niederlagen mit
rührender Lüge
hinweghilft; immer ist ihre Wohnung überschwemmt von Menschen, die von
ihr, der
Ärmsten, noch etwas begehren, zumindest die Wohltat ihres Mitgefühls.
»Jede
Kleinigkeit von dem, was Dich quält, ist mir wichtig«, schreibt sie
einmal
einer Freundin – wahrhaftig, sie hat geradezu Durst nach tröstender Tat
und
saugt mit unendlicher Liebeskraft alles Leiden an sich. Trotz der
eigenen Fülle
und Überfülle hat sie noch immer Raum für andere Not und immer Tränen
bereit;
fast scheint es, daß sie sich von ihren Sorgen nur rettet durch das
Mitgefühl.
Vermöchte sie nicht immer in fremde Not zu entfliehen, sie erstickte an
der
eigenen.
Niemals
aber kann der oft erlittene Undank oder ein Unrecht ihre milde und
duldende
Seele zu Zorn auftreiben. Sie ist unfähig jeder Erbitterung. Man weiß,
wie sie
Olivier verziehen, der sie ins Elend stieß; und selbst gegen jene, die
ihr
wahrer Widerpart sind, gegen die Reichen, gegen die Hartherzigen, gegen
die
Selbstsüchtigen ballt sie niemals die Faust. »Ah, die Reichen, die
Mächtigen,
die Richter,« so schreit sie einmal auf, »sie gehen ins Theater,
nachdem sie
eine Todesstrafe ausgesprochen haben.« Nur diesen Schreckensruf hat
sie, aber
keine wirkliche rachgierige Empörung, weil sie nicht hassen kann und
weil sie
diese Art Menschen einfach nicht versteht. Sie sind ihr fremd, alle die
nicht
Mitleid kennen, die nicht geben – »nein, die Reichen fühlen nicht mit
uns,
Pauline,« schreibt sie an ihre Freundin, »die Reichen von heute kommen
und
erzählen einem mit so viel Rückhaltlosigkeit ihren eigenen Jammer, daß
man
gezwungen ist, mit ihnen mehr Mitleid zu haben als mit sich selbst.«
Nein,
die Reichen fühlen nicht mit ihr, der ewig
Entbehrungsvollen, und sie versteht die Reichen nicht. Sie versteht nie
und nie
einen Menschen, der sich verwehrt und verhält, der sich nicht ausströmt
in der
weichen Lust des Helfens und Gebens. Und aus ihrem ewigen Elend staunt
sie nur
fremd, ohne Haß, ohne Bitterkeit zu diesen Kalten und Versperrten empor
wie zu
Wesen, die nicht ganz ihresgleichen sind, weil ihnen gerade das fehlt,
was sie
als ihren einzigen Reichtum empfindet: die strömende Barmherzigkeit,
das ewig
sich verschenkende Gefühl. Und zutiefst in ihrem innerlichsten immer
verzeihenden Herzen bemitleidet sie vielleicht sogar die Mitleidslosen
als die
Ärmsten unter den Armen.