Die
Nomade
»Depuis
l'âge de seize ans j'ai la fièvre
et je
voyage.«
Die
Not und Entbehrung ist nun aus ihrem Herzen
gescheucht. Aber sie läßt ihr liebstes Opfer nicht und umstellt von
außen ihr
Leben. Vergeblich sucht das Komödiantenpaar nach einem Nest. Die
Brüsseler
Truppe löst sich bald auf, sie streben nach Paris; aber Valmore, dessen
mindere
Qualitäten als Schauspieler mit dem Schwinden der Jugendlichkeit immer
sichtlicher werden, erweist sich dort als Hemmnis für ein gemeinsames
Engagement. Wieder wirft sie die Welle in die Provinz zurück von Strand
zu
Strand, jahrelang treiben sie dort, von allen Stürmen des Mißgeschicks
gejagt
und herumgefegt, zwanzig, dreißig Jahre, nirgends heimisch, überall
wieder
vertrieben. Nächtelang, tagelang, mit kleinen Kindern und dem ganzen
Hausrat
wandern sie von Ort zu Ort, immer wieder wird ihr ganzer Lebensbestand
auf
Karren geladen, immer wieder Kontrakte und Kündigungen, Hoffnungen und
Enttäuschungen. Ein paar Jahre ruhen sie in Lyon, aber es ist Rast auf
einem
Vulkan, denn die Industriestadt ist fiebrig aufgewühlt von
Arbeiterrevolten, in
den Straßen werden die Menschen niederkartätscht, und dem Volke vergeht
bald
das Gelüst auf Komödie.
Der
Traum der Kunst ist längst erloschen, es ist nur
ein hartes Metier, das die beiden um ihrer Kinder willen betreiben,
Broterwerb,
Handwerk ohne Redlichkeit, dem Mißgunst und Neid bald die letzte Freude
nehmen.
Selbst zwischen ihnen beiden droht Zwietracht emporzuwuchern, denn
immer
deutlicher zeichnen sich die Erfolge Marcelinens von den zweifelhaften
Triumphen ihres Mannes ab; doch diese Gefahr bietet
erwünschte Gelegenheit, die Größe ihrer Hingabe zu beweisen. Rasch
entschlossen
gibt sie den Beruf auf, läßt die Heroine, um nichts mehr zu sein als
Hausfrau
und Mutter, Heldin des Tages. Unglück und Kindbett haben ihren Körper
matt
gemacht, ihre Stimme durchsiebt. Empfindlich für Mißachtung,
gleichgültig gegen
Ruhm, ist sie längst schon müde, täglich fremden Menschen ihre Tränen
zu geben;
ein Grauen faßt sie an, wenn sich abends die Lichter entzünden, ein
Grauen, die
Furchen ihres Gesichts mit Schminke zu füllen, und kaum daß sie
resigniert hat,
so jubelt sie schon über ihren Entschluß. »Nicht mehr Theater zu
spielen, ist
eine Art Glück, das ich bis zu Tränen empfinde.«
Nun
ist er, Valmore, das Haupt der Familie, Erwerber
und Erhalter. Sorge wächst ihm damit zu, aber auch Selbstgefühl. Zuerst
kämpft
er noch in den großen Städten, aber in Lyon ausgepfiffen, meidet er die
besseren Bühnen und schleppt sich von Provinz zu Provinz. Marceline
bleibt in
den ersten Jahren seine Begleiterin, dann aber fordern die Kinder ihre
Gegenwart, und nur von ferne vermag sie ihn mit Briefen aufzumuntern.
Sie verschweigt
ihm zärtlich die tausend Sorgen, die ihr den Tag zerstücken und die
Nacht
wegstehlen. Denn sie kämpft einen tagtäglichen heroischen Kampf, um
ihre
kärgliche Existenz zu sichern; und diese große Dichterin, der
Frankreich
schönste und unvergeßliche Verse dankt, ist in allen Jahren der
Entbehrung
gleichzeitig der einzige Dienstbote des ganzen Hausstandes. Sie näht
die
Kleider der Kinder, sie wäscht, sie schneidert, sie kocht; nachts nach
aller
Mühe und Sorge schreibt sie sentimentale Novellen und Romane, um ein
paar
Franken zu verdienen. Sie arbeitet dreißig Jahre wie eine Verzweifelte,
sie
verkauft ihren letzten Schmuck, den Ring, den er ihr
zur Vermählung gab; sie sucht nach Stellungen, sie bettelt beinahe, und
an
dieser Ärmsten der Armen hängen noch andere Lasten. Der Bruder, in
englischer
Gefangenschaft, quält unablässig um Geld, sie muß sich von ihrem
eigenen Nichts
etwas absparen, um ihm einen Notpfennig zu senden; die Familie ist in
ewiger
Bedrängnis, sie hilft auch ihr; in die Gefängnisse von Lyon bringt sie
das
letzte Brot von ihrem Tisch. Sie muß Briefe wochenlang liegen lassen,
weil ihr
das Geld fehlt, sie zu frankieren. Sie bleibt oft zu Hause, weil ihre
Kleider
und Schuhe zu schlecht sind für die Gasse. Ihr einziger Trost sind die
kleinen
Gedichte, die sie, über den Stickrahmen gebeugt, bei der Arbeit
ersinnt, und
die kleinen Lieder, jene wundervollen Kindergedichte, mit denen sie
Hippolyte,
Ondine und Ines, ihre drei Kinder, einschläfert.
Und
dabei: wie klein sind ihre Wünsche! In eine Nußschale
lassen sie sich pressen: Ruhe, ein wenig Rast, etwas Sonnenschein und
ein
bißchen Grün. Sie träumt – wie andere von Kronen und von Karossen – von
irgendeinem stillen Haus auf dem Lande, von einem kleinbürgerlichen
Glück, von
einer ganz einfachen Existenz. Nur den Mann nahe haben, nur wissen,
wovon man
am nächsten Tage lebt, nicht sehen müssen, wie er beschämt und
todesmüde von
irgendeinem Mißerfolg in einem lächerlichen Winkel Frankreichs sich
heimschleppt, und nicht immer mit übermenschlicher Anstrengung täglich
das
Lächeln erlügen müssen, um ihn zu begrüßen. Aber sie muß die Nomade
bleiben,
zwanzig, dreißig Jahre. Sie schreit auf zu Gott:
»Défendez
aux chemins de m'amener encore.«
Aber
die Wege schleppen sie weiter: durch alle Länder
muß sie irren, und ihre Füße sind wund. Im Postwagen
nach Italien, wo Valmore einer Truppe verpflichtet ist, schreibt sie
mit
zitternder Hand:
»Ah,
les arbres du moins ont du temps pour
fleurir,
Pour
répandre leurs fruits à la terre et mourir.
Ah!
je crains de souffrir, ma tâche est trop pressée
Ah!
laissez-moi finir ma halte commencée
Oh!
Laissez-moi m'asseoir sur le bord du chemin
Mes
enfants à mes pieds et mon front dans ma main
Je ne
puis plus marcher.«
Aber
Gott erhört sie nicht. Selbst in Paris hat sie, die
Fünfzigjährige, noch nicht Rast. Vierzehnmal übersiedelt sie, immer vom
Elend
von einer Wohnung zur andern gejagt, immer ist da der fünfte oder
sechste Stock
der einzige, wo sie die Miete erschwingen kann. Und ihre Füße sind
wund. Sie
zählt die Stufen von Wohnung zu Wohnung, hundert Stufen,
hundertzwanzig,
hundertdreißig, und ein Jubelschrei bricht aus ihr, wie sie endlich den
Freunden berichten kann, daß sie in der Rue St. Honoré um 27 Stufen
niedriger
wohnt. »Im zweiten und dritten Stockwerk wohnen, das war mein Traum«,
seufzt
sie auf. Ein kleiner Balkon mit ein paar Blumen muß ihr das Grün
ersetzen, von
dem sie träumt, in zwei, in drei Zimmern drängt sich ihre, ihres Mannes
und
ihrer drei Rinder Existenz zusammen. Ihre ganze Kraft wendet sie an
diesen
widerlichen, winzigen Kampf, die jeden Monat fehlenden zwanzig und
dreißig
Franken zu erobern, immer bleibt diese Existenz im Kleinlichen
befangen, und so
fremd sind ihr wirkliche Summen geworden, daß, wie ihr einmal
vierhundert
Franken Pension als Geschenk des Königs durch die Güte von Freunden
vermittelt
werden, sie von einer »inondation d'argent« jubelt. Dabei müht sie
sich, ihre
ganze Sorge, ihr Elend dem eigenen Manne zu verbergen. 1842 schreibt
sie:
»Alles,
was ich an weiblichem Genie, an Schweigen und
an Worten kenne, wende ich an, um diesen großen und niedrigen Kampf
meinem
lieben Mann zu verschweigen, der das nicht acht Tage ertragen könnte.
Ich rette
seinen Stolz um den Preis meiner Erniedrigung, und erst nach meinem
Tode wird
er erfahren, durch welche unschuldigen Schliche, durch welche Tränen,
die
einzig Gott und ich kennen, ich bis zum heutigen Tag das traurige
Geheimnis des
Brotes gerettet habe, das noch nie an unserem und unserer Kinder Tisch
fehlte.
Auch Frost haben sie noch niemals gelitten.«
Aber
dann schreit sie wieder auf:
»Die
Armut
tötet mich, ich ersticke an diesen Geldnöten, die mein Leben aufzehren,
wie die
Motten das Tuch.«
Das
geht zehn, das geht zwanzig und dreißig Jahre. Sie
versteht es selber nicht mehr.
»Wie
ist es denn möglich,« schreibt sie, »daß man Tag
und Nacht arbeitet und doch nicht genug verdient, um zu leben!«
Dazu
kommt, daß Valmore, von allen Bühnen refüsiert,
selbst nichts mehr verdient.
Mit
dreiundfünfzig Jahren weiß sie nichts mehr »pour
inventer leur existence«. Es ist der ewige Bankrott. Zwar hat der Sohn
schon
eine kleine Anstellung, aber das kann nicht genügen, und nun muß sie in
die
letzte Erniedrigung sich ergeben, muß sie, die Stolze, die ein
Geldgeschenk von
Madame Récamier zurückwies, bei allen Ministerien, bei allen Freunden
betteln,
in den Vorzimmern der Theater herumschleichen, um Valmore einen Posten
zu
verschaffen, um seinen Stolz zu retten, der unter allen diesen
Enttäuschungen
sich selbstmörderisch in Anklagen ergießt und seine ursprüngliche
Heiterkeit
verdüstert hat. Endlich gelingt es, ihn mit zweihundert Franken
monatlich in
der Bibliothèque nationale als Hilfsbeamten unterzubringen. Mit einem
Jubelschrei begrüßt Marceline seine Ernennung; aber schon
ist wieder andere Sorge bereit, ihr die des Geldes und des Erwerbes
abzulösen.
Es
ist kein einziger heller unbesorgter Tag in ihrer
Existenz, und es wäre entsetzlich, ihr Schicksal nachfühlend zu
beschreiben,
wäre das Leiden nicht die Kraft ihrer Seele und der rauschende Quell
ihres
Gedichts.