Die
Schauspielerin
»Toujours
du talent, mais trop de
sensibilité.«
Der
offizielle Theater-Rapport von 1814
Die
guten Bürger von Lille und Rouen sehen nun in
diesen Jahren, wenn die Stafetten frohe Nachricht aus Napoleons
Hauptquartier
melden und sie, über die Weltlage beruhigt, ihrer Schaubühne Besuch
abstatten,
inmitten des heimischen Klüngels mäßiger Komödianten und abgetakelter
Heroinen
eine rührende Gestalt: ein halbreifes Mädchen von zartem Wuchs und
verschüchtertem Gebaren, ernst und doch milde, keusch und doch nicht
kühl. Aus
Mignon ist Ophelia geworden, die Sanfte, die Schwärmerische; aber die
frühe
Strenge des in Sorgen verdüsterten Antlitzes wird schön beschwichtigt
durch
eine anziehende Kindlichkeit, die jedes Wort und selbst die flüchtigste
Geste dieses
Mädchens beseelt. Ihre Erscheinung ist gewinnend. Eine lichte Aureole
von Blond
umschmiegt Marcelines Gesicht, von dem nicht zu sagen ist, ob es jemals
wahrhaft schön gewesen sei. Sie selbst, die Bescheidene, fand sich
»laide aux
larmes«, und die wenigen Bilder von ihr sind ungewiß und nicht recht
authentisch. Aber die Kritiken aus jenen verblichenen Provinzgazetten
wissen
ihren Eindruck von damals deutlich zu beleben und bezeugen trotz ihrer
ledernen
Pathetik im letzten doch die gleichen Vorzüge ihres Wesens, die später
die
Dichterin inspirierten. Hier und dort, in jeder Kunstäußerung war ihr
Zauber
die tiefe Aufrichtigkeit einer Seele, die jedes und auch das
unwertigste Gefühl
mit einer wundervollen Kraft der Expansion ins Grenzenlose ausspannte,
und dann
jener innerste, vom Genie ihr eingesenkte Sinn für Musik. Dazu kam
damals noch
der Schimmer von Anmut, der ihre kindliche Gestalt umschwebte. Etwas
Unirdisches und hold Sentimentales muß ihr damals zu eigen
gewesen sein, etwas von der geheimnisvollen Magie der sanften Tiere,
der
rührenden Anmut der Rehe, der flüchtenden Leichtigkeit der Schwalbe,
Schönheit
von der Schönheit der wehrlosen Wesen, denen die Natur jede Waffe
versagt hat,
um ihnen dafür jenen Zauber der Seele zu schenken, der Rührung und
Mitleiden
schafft. Und wirklich: die Wehrlosen, die Leidenden, die unschuldig
Gekränkten,
das sind die Rollen, die Marceline damals zugewiesen sind. Niemals
spielt sie
die Heroinen, die Amoureusen; denn Leidenschaft, die begehrende und
große,
Pathos und Emphase, das glitzernde Funkenspiel der Koketterie sind ihr
fremd.
Sie vermag – hier ist Grenze und Größe der Dichterin und Schauspielerin
– nur
darzustellen, was ihrem eigenen Schicksal nahe ist. Damals wurde ihr
noch die
Rolle der Verfolgten zugeteilt, die gekränkte Waise, die verachtete
Schäferin,
das Aschenbrödel bei den bösen Schwestern, die verfolgte Unschuld, die
liebende
Tochter – alle diese himmelblau sentimentalen Mädchenfiguren, die wir
noch
besser als von jener verstaubten Literatur aus den affektierten Bildern
Greuzes
und den Kupfern der Almanache kennen. Aber diese Verlogenheit
durchdringt sie
mit Seele, weil ihre schon in kindlichen Jahren rege Güte selbst dies
künstliche Schicksal mit Ergriffenheit überfühlt. Nur die seelische
Sensibilität, die auf die geringste Vibration der Menschlichkeit mit
stärkstem
Ausbruch des Empfindens reagiert, macht sie als Schauspielerin
bedeutsam. Und
dann: sie hat die Träne, die leichte und doch die echte, nicht die
erpreßte der
Komödianten, sondern schon damals die der Dichterin, die Träne, die aus
den
Quellen eines heißen Herzens stammt und, aufsteigend in die Kehle, erst
die
Stimme warm durchschüttert, ehe sie feucht an den Wimpern blinkt.
Abend
für Abend tritt sie vor die Rampe, und viele
hundert bunte Schicksale hat sie in diesen zwei Jahren zur Freude der
wackeren
Bürger von Lille und Rouen dargestellt. Aber ihre wahre Existenz, die
hinter
den Kulissen, ist monoton und matt, ein freudloses proletarisches
Dasein
zwischen Arbeit und Entbehrung. Wenn oben die Kerzen verlöschen, der
Vorhang
sinkt, eilt sie müde nach Hause, wo die beiden Kostgängerinnen, ihre
Schwestern, auf sie warten, die, ärmer noch als sie selbst, an ihrem
armen
Leben zehren. Bei der flackernden Lampe muß sie dann noch Kostüme
schneidern,
Kleider waschen, Rollen abschreiben, um sich mageren Zuschuß zu
verdienen, und
durch ein unerhörtes Mirakel der Aufopferung gelingt es ihr sogar, ab
und zu
von diesen achtzig Franken Gehalt etwas nach Hause zu senden. Aber
unter
welchen Entbehrungen sind diese Groschen gespart! Es ist oft das nackte
Brot,
das sie den Ihren opfert. »Man warf mir Blumen zu,« schreibt sie später
»und
ich kehrte hungernd nach Hause zurück, ohne es irgend jemandem zu
verraten.«
Und Marcelines ganzes Grauen vor ihrem Schicksal ermißt man an dem
Schrei, mit
dem sie zwanzig Jahre später, selbst in tiefster Notlage, davor
zurückschreckt,
ihre Tochter dem Theater zu geben: »Lieber sterben, als sie das erleben
lassen,
was ich selbst erlebte.«
Ein
gnädiger Zufall erlöst sie von der Provinz. Die
Künstler von der Opéra Comique, auf einem Gastspiel in Rouen, hören ein
kleines
Lied, von Marceline in einem der Stücke gesungen, und die Lieblichkeit
ihrer
Erscheinung sowie eine seltene Beseelung des Vortrags erwecken ihre
Aufmerksamkeit. Sie verhelfen ihr zu einem Engagement nach Paris, an
die Opéra
Comique, und mit einem Male ist sie auf anderer Bahn, ist ohne Schulung
und
Übung Sängerin an einer Weltbühne. Grétry, der große
Meister, wendet ihr seine väterliche Zuneigung zu, nennt sie »sa chère
fille«
und öffnet ihr sein Haus, gute Rollen werden ihr zugewiesen, obzwar
ihre
Stimme, die zarte, eigentlich nicht recht ausreicht und im weiten Saale
zu
verhauchen droht. Aber die Musiker, auch sie wie alle andern Kollegen
von ihrem
kindlichen Liebreiz und der schüchternen Güte ihres Wesens gewonnen,
dämpfen
mit Absicht, wenn sie singt, heimlich ihre Instrumente, damit ihr
Gesang nicht
gedeckt werde und besser zur Geltung komme. Fünf, sechs Jahre verbringt
Marceline an dieser Bühne, eine drängende, geheimnisvolle Zwischenzeit.
Das
Kind in ihr ist längst versunken im Anstrom der Sorgen, der Flut der
täglichen
Geschäfte, aber auch die Frau in ihr ist noch nicht ganz wach. Denn
noch haben
die beiden Stimmen in ihr nicht geklungen, die sie in ihre wahre Welt
erwecken
und ihr harrendes Gefühl ins Grenzenlose heben: die Liebe und mit ihr
die
Dichtung.