Der
Verführer
»Mon
secret c'est un nom.«
Musik
hat ihrem Schmerz die Lippen entsiegelt. Jedes
flüchtigste Beben ihres Herzens ist Strophe geworden, jeden Überschwang
und
jedes Verzagen ihres Gefühls hat sie ein Leben lang und immer noch in
der
feurigen Minute des Erleidens und Wiedererleidens lyrisch bekannt.
Nackt und
hüllenlos hat sie dem Winde der Welt jeden Schauer ihrer Sinne, jede
Schmach
ihrer Seele hingegeben, aber ihre Lippen blieben bis über die
Todesstunde
hinaus abwehrend verschlossen, wenn es den Namen galt, den Namen jenes
einen
Menschen, der diesen Sturm in ihr erweckte. Alles von sich hat sie
verraten.
Nur ihn nicht, der sie verriet.
Fünfzig
Jahre jappt nun schon vergebens die
französische Literaturgeschichte hinter diesem einen Geheimnis
Marcelines her,
Sainte-Beuve, ihr Freund und Vertrauter, allen voran. Mit
Dissertationen und
Kommentaren spüren sie auf allen ihren Wegen, ihren Biographieen nach,
um den
Namen dieses »Olivier« irgendwo aufzudecken, durch Licht und Schatten,
durchs
tausendfältig blühende Gestrüpp ihrer Verse folgt die ganze Meute jeder
Spur,
die sie arglos am Wege sinken ließ. Jedem Seufzer schnuppern sie nach,
jede
versickerte Träne graben sie auf: aber wunderbar und fast
unbegreiflicherweise
ist ihr schlichter Wille, die tiefe Scham ihres Verschweigens und die
Pietät
der nächsten Anverwandten bis heute noch immer stärker geblieben als
ihre eitle
Mühe. Mit keinem andern Namen ist er heute noch zu nennen als
»Olivier«, dem
Namen, den sie in ihren Versen ihm gibt und mit dem jener einzige
erhaltene
Liebesbrief zu ihm spricht. Siebzig Jahre, ein biblisches
Menschenalter, nach ihrem Tode ist das Geheimnis noch so stark und
unentweiht
wie in jeder Stunde ihres Lebens.
Das
wenige, das von ihm aufzuspüren gelang, weiß man
nur durch sie, durch den Verrat ihrer Leidenschaft im Gedicht. Die eine
Zeile
bezeugt, daß er ein Dichter war und früh schon in engerem Kreise
berühmt; jene
andere Stelle stellt sein Alter fest, daß er um drei Jahre jünger war
als sie
selbst; viele Strophen rühmen die wunderbare, zärtliche, eindringliche
Stimme,
die sie immer und immer berauschte; und Briefe wiederum erzählen, daß
er nach
Italien ging und dort erkrankte. Der merkwürdigste Hinweis aber, der
für die
Feststellung immer entscheidend sein muß, geht von einem Gedichte aus.
Dort
sagt sie, daß in ihren Taufnamen ein gemeinsamer wiederkehrt. Sie sagt:
»Ton
nom ...
Tu
sais, que dans mon nom le ciel daigna l'écrire«,
und
späterhin nochmals:
»On
ne peut pas m'appeler, sans te jeter vers moi,
Car
depuis mon baptême il m'enlace avec toi.«
Man
mag denken, wie gierig die ganze Meute nachspürend
in der Richtung dieses Fingerzeigs gestürmt ist. Marceline, Felicité,
Josephe
sind ihre drei Vornamen, und in der Scharade jenes andern Namens mußte
also
einer von ihnen wiederkehren. Dies und manch anderer flüchtiger Beweis
hat die
meisten verführt, Henri de Latouche als ihren Erlesenen zu vermuten. In
Hyacinthe Joseph Alexandre Thabaud de Latouche ist Joseph die Bindung
zu
Marceline, auch der Beruf nähert sich dem Beweis, daß er ein Dichter
und schon
damals von einem gewissen Range war, und selbst die dritte Tatsache ist
unbestreitbar, daß er als junger Mann zwei Jahre in Italien verbrachte
und daß
George Sand seine »sanfte und eindringliche«Stimme rühmt.
Sainte-Beuve als Schnüffler und Indiskreter in Liebesdingen, der er war
(durch
seinen Vertrauensbruch wurden die Briefe Mussets an George Sand
vorzeitig
ausgeliefert), wollte auch hier den billigen Ruhm, schon zu Lebzeiten
Marcelinens als Erster das Geheimnis aufgespürt zu haben. Er wollte
Gewißheit
und versuchte eine List, die nicht gerade edel genannt werden kann:
eine
Mitteilung eines Freundes ihrer besten Freundinnen mißbrauchend, der in
manchen
Andeutungen auf Latouche als den vermutlichen Liebhaber Marcelines
hinwies,
nahm er den Tod Latouches eilig zum Anlaß, einen jesuitisch geschickten
Brief
an Marceline zu richten, in dem er sie (als hätte er ihn nicht selbst
vertraut
gekannt) um Mitteilungen über seinen Charakter befragte. Seine geheime
Hoffnung
war, sie würde bei diesem schüchternen Klopfen alle Türen ihres Herzens
öffnen
und werde, sie, die aufrichtige, heroische und in ihrer Leidenschaft
unbedachte
Frau, in irgendeine Zeile ein gültiges Bekenntnis ihrer einstmaligen
Neigung einfließen lassen.
Und
Marceline Desbordes-Valmore, die Wunderbare, ließ
sich leicht verleiten, ein Requiem für den Menschen zu sagen, der ihren
Versen
reger Anwalt gewesen und ihr den ersten Verleger verschaffte. Ein
Brief, ein
Dokument menschlichen Gefühls und hinreißender Güte, ist heute noch
erhalten
und hier zu lesen. Er gilt den Psychologen unter den Forschern als
entscheidendes und letztes Argument; denn Marceline, schöner und mühsam
zurückgehaltener
Erregung voll, spricht hier von Latouche zwar mit Härte und
Erbitterung, aber
immer wieder tadelt sie gewissermaßen ihr eigenes Gefühl und hebt die
Hände
flehend und beschwörend zu Sainte-Beuve empor, um ihn von einem
strengen Urteil
zurückzuhalten. Sie schildert alles Gefährliche Latouches, dieses
zynischen und in seinem eigenen Schaffen durch ein
Übermaß von Geist und Ironie gehemmten Menschen; aber ihre Nachricht
findet im
Negativen noch ein Verdienst, da sie von ihm rühmt, daß er weitaus
nicht alles
Unheil verschuldet habe, das in seiner Macht gelegen sei, und daß in
seinem
innern Büßen schon reichliche Vergeltung wäre für die vielen Tränen,
die er
verursacht. Dieses Wort von den Tränen, die er verursacht, ist den
Gelehrten
der Bücher und Dilettanten des Herzens schon Beweis genug. Wie die
Folterknechte vermerkten sie jubelnd den erpreßten Schrei, und seit
diesem Tage
zischelts und tuschelts durch ein Dutzend Bücher: Latouche, Latouche.
Wirklich:
die Scheingründe lasten schwer in der
Wagschale des Urteils. Aber in die andere Schale senkt sich unendliches
Gewicht
und hebt den trüben Ballast der Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten
wieder
empor. Dieses Gewicht ist Marceline Desbordes-Valmores Persönlichkeit,
deren
menschliche Eigenschaften ganz gebunden und beseelt sind durch eine
beispiellose und fast gefährlich übersteigerte Aufrichtigkeit und
Gerechtigkeit. Es ist kaum ausdenkbar, ihr den jämmerlichen Betrug
zuzumuten,
daß sie jenen Menschen als einen Fremden in das Haus Valmores, ihres
Gatten, eingeführt
hätte, der ihre Vergangenheit kannte aus Wort, Brief und Gedicht und
der das
Grab ihres vorehelichen Kindes in Brüssel gesehen. Und es ist mühevoll,
ihr
zuzumuten, daß sie, die Unkundigste aller Verstellung, in ihren Briefen
an
Latouche sich plötzlich zu so demütiger und respektvoller Förmlichkeit
erniedrigt hätte, sie, die an »Olivier« die brennendsten und
aufgelöstesten
Verse und Worte der französischen Lyrik geschrieben. Das Geheimnis
ihres klaren
Herzens überzeugt da ebenso als alle Beweisgründe der Vernunft.
Sollte
aber tatsächlich, wie immer eindringlicher die
Forscher auf eine bloß mündliche Nachrede hin behaupten, Latouche jener
Olivier
gewesen sein, dann bereitet jene erste Tragödie des verführten Mädchens
nur
noch eine viel grausamere, eine Tragödie der Mutter vor, wie kein Roman
sie
kühner und grausamer zu entsinnen gewagt hätte. Denn dieser Latouche,
der
einundzwanzigjährig mit Marceline bekannt war und ihre ersten Verse auf
orthographische Fehler korrigierte, er ist ja – verwirrender Gedanke! –
derselbe, der unter der Maske des biedern hilfreichen Familienfreundes
mehr als
fünfundzwanzig Jahre später Ondine, die Tochter Marcelinens, zu
verführen sucht
und die sie nur mit Mühe (ihre Briefe zittern vor Schrecken) vor ihm
schützt.
Derselbe Latouche, dem sie heimlich jenen Knaben geboren hatte, der
unter
geborgtem Vatersnamen auf dem Friedhof begraben liegt, derselbe sollte
dann
fünfundzwanzig Jahre, ein Vierteljahrhundert später als Verführer ihre
Tochter
begehren – eine Vorstellung für mich, die das Gefühl kaum zu umfassen
vermag.
Zwar gellen tatsächlich jene Briefe an ihren Mann, der Latouche damals
freundschaftlich besucht, von schrillen Warnungsschreien: kein Gedanke
wäre ja
wirklich einer Mutter fürchterlicher als jener, ihr eigenes Elend von
ebendemselben noch einmal an ihrem Kinde verschuldet zu sehen, und
wirklich
zwingt sie ihren Gatten, damals von Latouche ein Jugendbildnis
zurückzufordern.
Aber warum dieser Zorn bei ihr, der Verzeihenden, erst nach zwanzig
Jahren,
warum so späte Vorsicht bei der immer so Unbedachten? Trotz aller
vorgebrachten
Wahrscheinlichkeit wehrt sich deshalb mein Gefühl unwillkürlich gegen
diesen
Latouche und gerade gegen ihn, bis nicht ein Zufall statt Andeutungen
endgültigen Beweis erbringt.
Mögen
sie weiter spüren: ich weiß nichts Schöneres,
als daß dieser Name noch immer nicht gefunden ist, das große Geheimnis
ihres
Herzens nicht unwidersprechlich entsiegelt. Denn wie wenig wäre dies,
das
Gewonnene: ein Name, ein Hauch von Worten in der Luft, ein flüchtiges
Silbenpaar
gegen das tiefsinnige Symbol der Anonymität, gegen dies, daß er nichts
blieb
für uns als für sie: das Namenlose in ihrem Leben, das Erlebnis. Er war
nur der
Ruf, die Macht, die ihr entgegentrat, die Form, in die ihre harrende
aufgespeicherte Liebe einströmte, der Lehm, der zerbrochen wird, sobald
der
heiße Guß an ihm sich gestaltet. Er hat keine selbsttätige Bedeutung
für ihr
späteres Leben und hat keine Schuld. Denn wenn er mit ihrem Herzen
tändelt und
unbewußt jenen ungeheuren Brand verschuldet, so ist er ebensowenig
verantwortlich wie ein Kind, das mit dem Zündholz spielt und eine
Feuersbrunst
entfacht. Die ganze Tat dieses »Olivier« war, daß er nahte, daß er die
Stunde
war. Er brauchte ihr nur die Tiefe zu weisen, in die ihr durch den
Schutt der
Sorgen, den Schlamm der Entbehrung zu lange aufgestautes Gefühl selig
schäumend
hinabstürzen konnte, und schon hatte er sein, hatte er ihr Schicksal
erfüllt.
Er gab ihr Gelegenheit zu lieben, und damit ist seine Bedeutung
erschöpft. Wie
er sich menschlich verhielt, bleibt gleichgültig, denn seine Macht über
ihr
Gefühl ist damit zu Ende. Er konnte sie dann verlassen oder mißhandeln,
sie
wieder aufnehmen und neuerlich verlassen, aber er konnte ihr Gefühl
nicht mehr
steigern und nicht mehr dämmen, es war schon jenseits seines eigenen
Willens
und Gewissens. Er konnte nur mehr Schmerz häufen oder Lust, ihre
Stimmung
verwandeln, aber nichts mehr ungültig machen, nicht mehr die
aufgebrochene
Blüte ihrer Leidenschaft zurückdrängen in die Knospe, diese wundervolle
purpurne und unverwelkbare Blüte, die er mit
flüchtigen Fingern spielend aufgeblättert.
Man
kann es nachfühlen, was ihn zu ihr drängte,
verstehen, was ihn lockte. Süßer noch als bei einer Halbwüchsigen die
frühe
Leidenschaft, mochte es ihn reizen, hier in einer Verschlossenen und
Verspäteten unter der Asche von Sorge und Trauer noch einmal die Lohe
mit einem
Atemhauch aufglühen zu lassen. Und noch besser vermag man zu verstehen,
was ihn
von ihr entfernte. Er wollte ein Spiel, wollte diesem schüchternen, von
allen
Geistern der Not und Entbehrung aus den Gärten ihrer Kindheit gejagten
Mädchen
die erste Frucht zärtlicher Worte reichen. Aber die Erweckte ist eine
andere.
Aus ihrem schmalen Körper brechen Flammen der Exaltation, ihre
Sanftheit löst
sich plötzlich in einen bacchantischen Taumel der Leidenschaft, sie
preßt sich
mit einer unvermuteten Trunkenheit an den Erstaunten, mit einem Durst,
als
wollte sie von ihm allein alle Seligkeit des Himmels und der Erde
trinken. Er
will eine Geliebte und findet die Liebende, er begehrt in ihr die Frau,
die
wunderbare, die vielfältige, die neue, und sie ist die glühende, immer
die
gleiche. Er will die Lust, und sie gibt ihm die Liebe. Er will Stunden,
und sie
bietet ihm die ganze Unendlichkeit. Man sieht es deutlich aus ihren
eigenen
Bekenntnissen, daß er zurückschrak vor ihrer maßlosen Hingabe, vor dem
vulkanischen Ausbruch ihrer Liebe, denn für sie, die Entbehrende, der
niemals
etwas zu eigen war von irdischem Besitz, wird das Gefühl zur Welt, und
sie
dehnt es zur Unendlichkeit. Übermaß ist ihr einziges Maß in der Liebe:
immer
lodert sie, jedes Wort, jede Regung setzt sie in Brand. Mit Tränen
antwortet
sie auf kleines Gelüst, mit Tränen des Jubels, mit dem Schluchzen der
Verzweiflung. Tränen sind ihre einzige Sprache in der
Liebe. Immer sieht er, der kühle Lovelace, in feuchte Blicke, in
schauerndes
Antlitz: sie hat nur diese eine Antwort, immer nur die eine:
»L'amour
n'eut jamais de moi que des larmes.«
Tränen,
Tränen sind ihre Welt, »pleurs« und »larmes«
ihrer Verse häufigster Reim. Ihre Leidenschaft tut weh, sie ist zu
heiß, sie
versengt, sie verbrennt. Vergebens versucht sie selbst, dieses
Übermaßes
bewußt, sich zu dämpfen und ersehnt beschaulicheren Genuß. Sie möchte
selbst
gerne heiter werden durch die Liebe, sie als Spiel erlernen:
»Je
voudrais aimer autrement.
Pour
moi l'amour est un tourment,
La
tendresse m'est douloureuse.«
Und
dieser Kontrast zwischen ihm, dem Spielenden, und
ihr, der Ekstatischen, wird immer größer im Abstand ihrer Beziehung.
Sie vermag
sich nicht zu mäßigen, er nicht sich zu steigern. Er, der sie
emporlockte, kann
ihr nun nicht mehr nach. In dem Äther des Gefühls, zu dem sie ihn
aufreißen
will, jappt er, der Gleichgültige, nach Luft. Und so wehrt er sich
gegen diese
Verkettung. Gegen ihre Güte kämpft er mit Grausamkeit, gegen ihre Hitze
mit
Kälte. Aber sie ist gepanzert mit ihrer Liebe, und ihre Waffe ist
Vergebung. Er
höhnt sie mit Untreue, und sie vergibt ihm; er quält sie mit Lüge, und
sie
verzeiht ihm; er flüchtet vor ihr, doch ihre Liebe läßt nicht nach.
Immer
tiefer treibt ihn das Verlangen, den letzten Grund ihrer Güte zu
finden, ihre
Hingabe zu versuchen, wie man Gott versucht. Aber er vermag nur ihr
Leben zu
zerstören, sie unglücklich zu machen, bleibt aber ohnmächtig gegen die
dämonische
Gewalt dieser Liebe, die er nicht mehr dämmen, nicht mehr zerstören
kann.