Die
Verlassene
»Toutes
les humiliations tombées sur la terre
à
l'adresse de la femme, je les ai reçues.«
An
Pauline Duchambge
Am
Tage, da ihr Geliebter sie verlassen hat,
verläßt sie Paris. Sie hofft, sein Fernsein besser zu ertragen in der
Ferne,
und flüchtet vor seiner Nähe, der ersehnt-verhaßten, nach Brüssel, wo
sie am
Théâtre de la Monnaie Anstellung findet, und zwar eine vortreffliche.
Anfangs
wird sie dort wenig beachtet, denn drei Stunden von der Stadt donnern
die
Kanonen von Waterloo, und der Zusammenbruch des Kaiserreiches übertönt
Gespräch
und Gesang. Die Tragödie der Welt ist zu laut und zu nahe, als daß man
auf den
falschen Donner der Bühne hörte.
Aber
bald wird man ihrer mit Bewunderung gewahr.
Ihre Kunst ist reif geworden im Erlebnis, aus der schmerzgeweiteten
Brust bricht
nun voller der dramatische Aufschrei. Jetzt erst wird sie die Heroine.
Ihr
Wesen, einst nur fähig, kindliche Schüchternheit, Einfalt und Bangen zu
verkörpern, vibriert nun von Sinnlichkeit und Leidenschaft, ihr
Schmerzruf hat
eine wundervolle Resonanz aus tiefstem Empfinden, und die gesprochenen
Verse
beseelt der melodische Rhythmus ihrer Dichtung.
Erfolg
hat aber niemals für Marceline
Desbordes-Valmore Glück bedeutet. Nur als Lärm hat sie ihn empfunden,
als
Schall aus der Ferne, niemals körperlich, nie als Welle, die ihr Leben
heben
oder senken konnte. Sie weicht allen Versuchungen aus, sie riegelt sich
ab
gegen die Welt, sie klammert sich an das einzige, was ihr geblieben
ist, an ihr
Kind:
»Gage
adoré de ses tristes amours«,
und
sucht in den unschuldigen Zügen das fremde
und geliebte Gesicht. Sie will ihr Leben abschließen,
beschränken, begrenzen. Aber das Schicksal hat eine seltsame
Feindschaft gegen
sie. Ein Fluch ist ihr geschworen von einem unbekannten Gott, der ihr
Rast
versagt. Ihr Schmerz, der fruchtbare, soll ewig feuerflüssig erhalten
werden,
und so wühlt das Schicksal ihn immer von neuem auf, so wie man die
strömende
Erzglut beständig bewegt erhält, damit sie nicht Schlacken bilde und zu
früh in
kalten Formen erstarre. Immer wieder wird ihr Neues gegeben, aber immer
nur zur
Leihe, immer etwas geschenkt, darin ihre Sehnsucht sich einwurzeln
könne, um es
dann ihr zu entreißen und das Erdreich ihrer Seele schmerzhaft
aufzuwühlen.
Kaum läßt das Leben ihr Rast, so mengt sich der Tod in ihr Geschick.
Ihre
Freundin, die einzige, von der sie Zuspruch und Gespräch in diesen
Tagen hat,
bald darauf ihr Vater, sterben plötzlich hin, und wenige Wochen später
wird
auch ihr Letztes durch Krankheit bedroht, der fünfjährige Knabe. Wie
eine
Rasende kämpft sie gegen das Verhängnis zwei Monate lang, aber es ist
vergebens:
»Après
soixantes jours de deuil et d'épouvante
Je
criais vers le ciel: Encore, encore un jour!
Vainement!
J'épuisais mon âme tout entière . . .
Je
criais à la mort: Frappe-moi la première!
Vainement!
Et la mort, froide dans son courroux
En
moissonnant l'enfant, ne daigna pas atteindre
La
mère expirante à genoux.«
Der
Knabe stirbt. Innerhalb eines einzigen Jahres
hat sie alles verloren, was ihr das Schicksal geschenkt:
»J'ai
tout perdu, mon enfant par la mort
Et
mon ami par l'absence.«
Ihre
Verzweiflung ist unbeschreiblich. Aus ihren
Briefen brechen wilde Schreie, die nichts anderes mehr ersehnen
als den Tod. Sie ist wieder so arm, so verlassen wie damals, als sie im
schwarzen Kleide, eine Waise, am Landungsplatz in Havre stand, aber nun
noch
viel mehr, weil ihr Leben geschwächt ist von dem früh verlorenen Kind
und ihre
Seele zerrissen von der Verachtung des Geliebten. Nun erst, da sie
Besitz
gefühlt, wird die Entbehrung zum Schmerz. Vergebens sucht sie ein Ende.
Von dem
Tod hält sie die Gläubigkeit zurück, so sucht sie der Welt zu
entweichen durch
Flucht. Wie eine Nonne in ihre Zelle, gräbt sie sich lebendig ein. Sie
will
nichts mehr haben, nichts mehr hören, an nichts mehr sich binden, da
ihr doch
alles genommen wird. Die flüchtigen Stunden der Komödie sind die
einzigen, da
sie zu Menschen spricht, und da sind es nicht ihre Worte, sondern
erlernte.
Jedes wirkliche Wesen ist ihr Feind, jeder Blick tut ihr weh, denn
alles wird
Vergleich und Erinnerung. Der Kelch ist voll. Es gibt aus diesen Jahren
ein
Gedicht »Les deux mères«, das in einer Szene ergreifend schildert, wie
selbst
unschuldigster Anlaß in der Gequälten die Narben aufsprengt. Ein Kind
naht ihr
auf der Straße, freundlich mit in Liebe ausgebreiteten Händen tappt es
ihr
näher, und sie, fast auf den Knieen fleht sie das Fremde an, ihr nicht
zu
nahen, denn es ist Erinnerung:
»Vous
qui m'attristez, vous n'avez en partage
Sa
beauté ni sa grâce où brillait sa candeur.
Oh!
mon petit enfant, mais vous avez son âge
C'en
est assez pour déchirer mon cœur.«
Und
mit dem verlorenen Kinde scheint auch ihre
Jugend zu Ende. Ein Flor des Leidens umschleiert ihre Augen; sie, die
nie
heiter war, ist nun düster geworden und herb. Die vielen Tränen haben
den
Schmelz der Jugend von ihren Wangen gewaschen, die Stimme ist brüchig
und
weigert sich dem Gesang. Unendlich ist ihre Einsamkeit.
Sie lebt in der Welt wie Ariadne, die Verlassene, auf der wüsten Insel
Naxos,
nur der Klage und dem Gebet. Bacchus, der glühende, der Gott der
Trunkenheit,
hat sie verlassen, der Rausch der Liebe ist geschwunden, und nun wartet
sie nur
auf einen mehr, auf den Tod. Sie hört ihn nahen, schon breitet sie ihm
die Arme
entgegen, um hinzusinken aus dieser Welt in das ewige Dunkel. Aber sie
ahnt
nicht, daß, der naht mit beflügelten Schritten, Theseus ist, der
Befreier, sie
nochmals zurückzuführen ins lebendige Leben.