Der
Brief aus dem Jenseits
In
einem Kaffeehaus der Provinzialhauptstadt G. saßen
zwei Herren an einem Tisch und sprachen lebhaft über die schauerliche
Neuigkeit
des Tages, welche die Lokalblätter ausführlich besprachen.
„Sensationeller
Raubmord“, stand da in großen Lettern an der Spitze der
Abendausgabe
einer der
Zeitungen.
Über
diesen Raubmord sprachen auch die Herren. Sie
mußten vom Gericht sein; denn sie zeigten sich über allerlei
unterrichtet,
wovon eben nur Personen der Gerichtsbehörde Kenntnis haben konnten;
wußten,
welchem Kommissar die Untersuchung zugeteilt worden war, und auch
schon, daß
Staatsanwalt Schmid die Anklage führen würde, falls man diesmal so
glücklich
sein sollte, des Verbrechers habhaft zu werden.
„Na,
dem kann's gut gehen“, meinte der jüngere der
beiden Herren, seine Zigarrenasche abstreifend.
„Es
soll ihm gar nicht gut gehen“, meinte phlegmatisch
der andere, „aber das ist schon richtig, unser schneidiger Staatsanwalt
wird
genug Grimm in sich gesammelt haben, weil uns jüngst zwei große
Verbrecher
entwischten, und da wird er noch weniger als sonst geneigt sein, Milde
walten
zu lassen, sondern wird die Sache so scharf als möglich anfassen."
„Ein
sehr schöner Fall – falls es wirklich zu einer
Gerichtsverhandlung kommt. Auf so etwas hat Schmid schon lange
gewartet. Das
ist etwas, wo man sich so recht hineinlegen und sich bei Seiner
Exzellenz dem
Herrn Minister beliebt machen kann.
Da würde dann doch
die Berufung nach der Hauptstadt nicht mehr länger auf sich warten
lassen!"
Der
junge Beamte hatte mit großer Bitterkeit
gesprochen, sein älterer Kollege sah sich vorsichtig um, ob die heftige
Rede
nicht etwa Hörer gehabt – aber niemand kümmerte sich um die beiden.
Um
den jüngeren Mann von den unvorsichtigen Bemerkungen
abzulenken, fragte er: „Weiß man noch immer nicht, wer der Ermordete
ist?“
„Noch
immer nicht. Die Vermieterin, die ihn nach
seinem Einzug bei der Polizei hätte melden sollen, hat das zu tun
vergessen.
Aber er soll erwähnt haben, daß er erst unlängst sein Gut, das gar
nicht weit
von hier gelegen gewesen sei, verkauft und dafür zehntausend Gulden
erhalten
habe, welches Geld man auch bei ihm gesehen hat. Auf diese Daten hin
hat man in
der ganzen Umgebung der Stadt den Telegrafen spielen lassen und wird
wohl bald
herauskriegen, wo dieser Ausländer in jüngster Zeit gelebt."
Noch
lange besprachen die Herren die bis jetzt bekannt
gewordenen Einzelheiten des Verbrechens, und dann griff der jüngere
noch einmal
zur Zeitung. Da hieß es:
„Sensationeller
Raubmord. Unsere Leser kennen wohl
alle die Josefigasse. Es ist eine ruhige, friedsame Gasse, in welcher
nur
wenige Häuser stehen. Diese Häuser sind durch Gärten und Bauplätze
voneinander
getrennt und von armen Leuten bewohnt. Das Haus Nr. 7 ist das kleinste,
das
bescheidenste von allen Häusern der Josefigasse. Es ist das Eigentum
eines
Handlungsreisenden namens Eduard Winter. Der Mann ist selten daheim. Er
hat nur
ein Kind und eine Frau, die mit einer betagten Magd die kleine
Wirtschaft führt.
Das Haus hat nur wenige Räume. Ein Zimmer und eine Küche im Parterre,
zwei
Zimmer im ersten Stockwerk. Diese zwei Zimmer vermietete Frau Winter
monatweise, wenn sie wußte, daß ihr Mann eine längere Reise vorhatte.
Diese
zwei Zimmer waren auch jetzt vermietet; waren
seit acht Tagen von einem noch jungen, fein aussehenden, sich solid
gebenden
Herrn bewohnt. Er hatte im voraus für einen Monat bezahlt.
Er war, so seine Angabe, hergekommen, um Freunde in
hiesiger Stadt zu besuchen.
Er
erhielt auch, soviel man weiß, einmal einen Besuch.
Es war ein Herr mit dunklem Vollbart und breitkrempigem, grauem
Filzhut, der
abends zum Mieter der Winterschen Wohnung kam. Lissi, die alte Magd des
Hauses,
hatte ihn kommen sehen. Es war am Abend des 23. September. Am Morgen
des 24.
fand sie Herrn John Siders, so hatte sich der Mieter genannt, mit
durchschossener Brust tot inmitten des zweiten Zimmers auf dem Fußboden
liegen.
Zeter
und Mordio schreiend, rannte die Alte auf die
Straße und rief die Nachbarn herbei. Ihre Herrin war nicht daheim, die
hatte
mit ihrem Kind, wie sie es in Abwesenheit ihres Mannes öfter zu tun
pflegte,
den vergangenen Tag und die vergangene Nacht am anderen Ende der Stadt
bei
ihrer Mutter zugebracht und war noch nicht zurückgekehrt.
›Mord,
Mord‹, schrie, fast von Sinnen, die alte Magd,
als sie vor das Haus stürzte, und teilte den herbeieilenden Leuten, es
war auch
ein Wachmann darunter, in fliegender Hast mit, was sie gesehen.
›Na,
seien Sie ruhig, es wird halt ein Selbstmord
sein. Derlei kommt ja alle Tage vor‹, meinte der Binder von nebenan,
indessen
der Wachmann, den anderen voran, ins Haus ging.
Er
allein betrat das zweite Zimmer, an dessen offener
Tür sich bleiche, schreckensvolle Gesichter drängten.
Es
war kein Selbstmord, das war mit wenigen Blicken zu
erkennen, denn überall fanden sich Zeichen eines Kampfes: auf dem
Tisch, wo ein
Tintenfaß umgeschüttet war, auf dem Boden, wo die Teppiche ineinander
geschoben
waren und ein Sessel umgestürzt war, ja selbst an den Gardinen, deren
eine in
Fetzen hing. Wahrscheinlich wollte der Überfallene von dem Fenster aus
um Hilfe
rufen, und der Mörder war ihm gefolgt und hatte ihn wieder in das
Zimmer
zurückgezerrt, wo er sein Opfer mit einem Schuß niederstreckte, um es
dann zu
berauben, was die halb offenstehenden Laden eines Trumeau-Kastens und
des
Schreibtisches sowie verschiedene wertlose Gegenstände bewiesen, die
einst auch
in den Laden gelegen
und sich nun auf dem Boden
verstreut vorfanden.
Eine
Minute lang war der Wachmann im Mordzimmer
gewesen, seine Augen hatten ihm gesagt, daß hier ein Raubmord vorliege,
seine
Hand, die er auf die eiskalte des Hingesunkenen gelegt, hatte ihm
bewiesen, daß
man hier keines Arztes mehr bedürfe.
Er
ging aus dem Zimmer; die Leute waren schon bis zum
kleinen Flur und zur Stiege zurückgewichen.
›Wollen
Sie sofort zur Polizeidirektion gehen, um die
Sache zu melden? ‹ fragte der Wachmann den klug aussehenden
Bindermeister, und
dieser nickte und verschwand.
Der
Wachmann schloß die Wohnung, in welcher der
Ermordete lag, und steckte den Schlüssel zu sich, dann ging er zum Tor
hinunter
und erwartete dort die Ankunft der Kommission. Die Magd der Frau Winter
hatte
jemanden nach ihrer Herrin gesandt und sich dann mit schlotternden
Knien in
ihren Bereich, in die Küche, zurückgezogen.
Eine
halbe Stunde später hielt ein Fiaker vor dem
kleinen Haus in der Josefigasse. Ein Polizeikommissar, der Polizeiarzt
und ein
Schreiber stiegen aus. Auf dem Kutschbock saß ein scharfgesichtiger
Mann in
Zivil, der trotz seines eifrigen Plauderns mit dem Wagenlenker die
umstehende
Menge unauffällig beobachtete. Als indessen einer der Männer in ihm
einen
Detektiv zu erkennen glaubte und diese Bemerkung leise weitergab,
verschwand
einer um den anderen von den neugierigen Gaffern, so daß, als nach
einer halben
Stunde die Herren von der Polizei wieder herunterkamen, niemand mehr da
war als
die beiden Männer auf dem Bock des Wagens.
Frau
Winter trat ihnen, noch ganz atemlos und überaus
bestürzt, im Flur entgegen, gab einige Auskünfte und zeigte sich sehr
erleichtert,
als sie vernahm, daß der Leichnam eine Stunde später abgeholt werden
würde.
Letzteres
geschah denn auch, und natürlich hat unsere
so eifrige Polizei alles veranlaßt, um dem Täter oder den Tätern auf
die Spur
zu kommen. Daß der unglückliche John Siders nicht durch Selbstmord ums
Leben
gekommen war, bewies außer den
von uns bereits
angeführten Anzeichen noch ein Brief, welchen der amtierende Kommissar
neben
dem umgestürzten, fast ganz geleerten Tintenfaß fand und welcher
nachweislich
die Handschrift des Toten trägt. Der Inhalt dieses Briefes ist laut
Polizeirapport:
Lieber
Freund!
Es
freut mich herzlich, daß Ihr, Du und die Deine,
mich so liebreich aufgenommen habt. Da ich das bewußte Hindernis
beseitigen
konnte, bin ich natürlich gern bereit, übermorgen, Sonntag, die
geplante
Landpartie mitzumachen. Zu diesem Zweck werde ich gegen 8 Uhr früh Euch
in
Eurer Wohnung abholen. Du gestattest, daß ich einen Fiaker und
Champagner
mitbringe. Es soll ein lustiger Tag werden, und nebenbei müssen wir
doch auch unsere
Zukunftsprojekte hochleben lassen.
Inzwischen
schließt Dich ans Herz und küßt Deiner
lieben Frau die Hand Dein alter treuer, noch immer flotter John
G
. .
., am Freitag, dem 23. September 189 . . .
Dieser
Brief, zu dem nur noch die Adresse fehlte, sagt
am deutlichsten, daß sein Schreiber noch viel von ›übermorgen‹ und der
ferneren
Zukunft hoffte und daß er noch voll schäumender Lebensfreude war, die
eine
mörderische Hand erbarmungslos mit einem Schuß vernichtete.
Möge
es unserer Polizei doch wenigstens dieses Mal
gelingen, den Täter der gerechten Strafe zuzuführen."
So
der Bericht des Abendblattes.
Zwei
Tage später saß Kommissar Horn, welcher die
Untersuchung im Falle John Siders führte, in ziemlich mißmutiger Laune
in
seinem Büro.
Man
war noch immer um nichts weitergekommen, hatte
nichts wesentlich Neues erfahren.
Der
Ermordete lag bereits im Grabe. Von seinem Mörder
hatte man keine Spur.
Wohl
wußte man seit heute morgen, wo der Ermordete
gewohnt, ehe er in diese Stadt gekommen war.
Den
Revolver betrachtend, den man einige Schritte
seitwärts von dem Toten gefunden und der seither auf Horns Tisch lag,
saß der
Kommissar da und dachte recht unzufrieden über den geringen Erfolg
nach,
welchen sein Besuch in Grünau, so hieß das Dorf, aus welchem John
Siders
gekommen war, gehabt hatte.
Er
war eigentlich ganz umsonst hingefahren.
Er
hatte vom dortigen Bürgermeister nur erfahren, daß
John Siders aus Chicago hierher übergesiedelt war und daß des Fremden
einziger
Umgang Ingenieur Graumann war, der nahe seinem Dienstort, einer großen
Maschinenfabrik, die sich unfern vom Bürgermeisteramt befand, wohnte.
Eine
Fotografie des Ermordeten, welche man bei diesem
gefunden, wurde vom Bürgermeister sofort als das Bild John Siders
erkannt.
Als
die Person des Toten somit festgestellt war, ließ
Kommissar Horn Albert Graumann durch den Bürgermeister in dessen
Amtsstube
bescheiden. Während man ihn erwartete, erhielt der Kommissar noch
einige
Auskünfte über John Siders und dessen Bekannten, den Ingenieur
Graumann. John
Siders hatte auffallend still in seinem kleinen Besitz gelebt. Das
einzige
indessen, was unangenehm an ihm auffiel, war seine seltsam scheue Art
gewesen.
Was ihn bewogen, seinen Besitz geradezu zu verschleudern, um ihn nur so
bald
als möglich loszuwerden, wußte niemand. Seine Dienstleute, eine alte
Magd und
einen jungen Knecht, habe er sehr gut entlohnt, und sie seien noch im
Dorf,
falls man Auskunft von ihnen wolle.
Horn
verfügte, daß auch sie vorgeladen würden. Über
Graumann erhielt er ebenfalls Auskunft, und zwar weit genauer als über
John
Siders. Graumann war ein gebürtiger Grünauer, und seine sowie die
Verhältnisse
seiner Familie waren allgemein bekannt.
Sein
Vater war Kassierer der Maschinenfabrik gewesen,
hatte den Sohn studieren und ins Ausland gehen lassen, und Albert
Graumann war
nun schon seit Jahren in dem großen Etablissement beschäftigt. Er war
45 Jahre
alt, kinderloser Witwer und lebte im Hause seiner alten Tante. Er war
ein sehr
intelligenter, diensteifriger
Beamter, ein wenig
hochfahrend und kaltherzig, sicherlich aber ein Mensch, den man einen
Ehrenmann
nennen konnte.
Er
trat, bald nachdem der Bürgermeister den
Polizeibeamten über ihn orientiert hatte, in die Stube, in welcher die
Herren
auf sein Kommen warteten. Er war neugierig, im übrigen aber sehr ruhig
und
unbefangen dem Wunsch des ihm persönlich befreundeten Bürgermeisters
sofort
nachgekommen und trat mit der gemütlichen Frage „Na, was gibt's denn,
das so
eilig abgetan werden muß?“ in das Zimmer.
„Ich
komme wegen John Siders, der ermordet wurde“,
sagte, rasch aufstehend und ohne eine Vorstellung abzuwarten, Kommissar
Horn
und beobachtete dabei scharf den Eingetretenen.
Ingenieur
Graumann starrte ihn an. Es war ein
Erschrecken, ein jähes, tiefes Erschrecken, das sich auf seinem
bewegten
Antlitz zeigte. Aber frei haftete sein Auge dabei auf dem des
Polizeibeamten.
„John
Siders – ermordet?“ murmelte er und wischte sich
mit der Hand über die Stirn, hinter der, man sah es dem Manne an, sich
viele
Gedanken regten.
„Sie
waren sein Freund“, fuhr der Kommissar rasch
fort.
Graumann
schüttelte den Kopf. „Nur sein Bekannter,
hier allerdings so ziemlich sein einziger Bekannter."
„Und
kannten als solcher seine Verhältnisse."
Über
Graumanns hartes, aber kluges Gesicht huschte ein
Ausdruck von Grimm und Verachtung, aber völlig ruhig sagte er: „Ja, ich
kannte
einiges von seinen Verhältnissen. Er redete mit mir zuweilen über
Chicago, das
wir beide kennen, er war dort einige Zeit hindurch Advokat. Wir hatten
sogar
gemeinsame Bekannte dort, und wir waren beide gern drüben gewesen, das
gab
manchen Gesprächsstoff. Über sein jüngstes Leben bin ich weniger genau
unterrichtet."
„Wußten
Sie auch nicht, was ihn veranlaßte, sein
Besitztum so rasch zu verkaufen?“
Graumann
zögerte ein wenig, dann sagte er ruhig: „Er
hat mir darüber nichts gesagt.“
„Wann
sahen Sie ihn zum
letztenmal?“
Wieder
dachte der Ingenieur nach, um dann ganz sicher
zu antworten: „Als er von hier wegreiste.“
„Er
nahm all sein Geld mit?“
„Wie
kann ich das wissen?“
„Seine
Zukunftspläne kannten Sie auch nicht?“
„Er
wollte vermutlich Europa wieder verlassen.“
„War
er ein Deutscher?“
„Ja.“
„Können
Sie mir noch etwas über ihn berichten?“
In
Graumanns Gesicht stieg eine helle Röte, er tat
schon den Mund auf, doch schloß er ihn wieder, ohne zu reden.
„Was
wollten Sie sagen?“ fragte scharf der Kommissar.
„Nichts,
das auf das Ende John Siders irgendwelchen
Bezug haben könnte.“
„Haben
Sie auch keinerlei Vermutung darüber, wer sein
Mörder, wer der Raubmörder sein kann? Sie kannten ja vermutlich seinen
Umgang,
seine Beziehungen am genauesten.“
„Ich
habe alles gesagt, was ich in bezug auf John
Siders zu sagen hatte.“
„Und
es interessiert Sie gar nicht, wann, wo und unter
welchen Umständen er sein Ende fand?“
Wieder
waren Horns Augen scharf auf den ihm ziemlich
unsympathischen Menschen gerichtet.
Doch
Graumann blieb unerschütterlich ruhig. Mit einer
Kälte, die nicht für sein Herz sprach, sagte er: „Nein, das
interessiert mich
nicht. Es betrübt mich, daß er solch ein Ende gefunden, aber da ich ihm
dadurch
nicht zu helfen vermag, erspare ich mir's lieber, die Geschichte seines
Todes
zu hören. Aufregungen tun mir nicht gut. Ich habe einen
Herzklappenfehler.
Seinetwegen halte ich nicht einmal eine Zeitung.“
„Bedaure“,
entgegnete Horn kühl. Es war nicht klar, ob
er die Kälte von Graumanns Herzen oder diesen um seines Klappenfehlers
willen
bedauerte, der ihm nicht einmal gestattete, Tagesneuigkeiten zu lesen.
Er
entließ den Ingenieur, sprach dann noch mit den
inzwischen gekommenen ehemaligen Dienstleuten John Siders', die
gründlich
entsetzt waren über das schreckliche Ende ihres
gütigen Herrn, dem Kommissar aber nicht das geringste Neue zu berichten
wußten.
Horn
fuhr alsdann in ziemlich übler Stimmung nach G.
zurück, wo er flüchtig zu Mittag aß, seinem Chef Bericht erstattete,
einige
laufende Amtsgeschäfte erledigte und gegen drei Uhr müde in seinen
Stuhl sank,
um doch noch nicht, wenigstens nicht in bezug auf das Denken, Ruhe zu
finden.
Während
er also grübelnd dasaß, pochte es an die Tür.
„Herein!“
rief er zerstreut.
Es
war ein hübsches junges Mädchen, das langsam über
die Schwelle trat. Sie blieb, nachdem sie die Tür geschlossen, dicht an
ihr
stehen.
Horn
erhob sich rasch und ging auf sie zu. Sie war ihm
fremd. Aber ein Blick auf sie hatte ihm gesagt, daß sie sehr befangen
und
überaus unglücklich sei.
„Was
wünschen Sie, Fräulein?“ begann er freundlich,
denn sein wohlwollendes Herz drängte ihn, wie ein Freund zu dieser
sichtlich
Schwerbekümmerten zu sprechen. Den derzeitigen „Fall“, der ihn noch
einige
Sekunden vorher so lebhaft beschäftigte, hatte er jetzt vergessen.
Das
Mädchen erhob ihre Augen voll zu ihm; es waren
sanfte graue Augen, aus denen ihn ein tiefer Schmerz ansah.
„Ich
bin Eleonore Römer“, sagte sie; sie mußte in dem
Glauben leben, daß er ihren Namen schon kenne, denn da sie merkte, daß
er damit
keinerlei wichtige Vorstellung verband, zeigte sie sich verwundert.
„Und
ich bin Kommissar Horn“, stellte er sich vor,
worauf sie entgegnete: „Ich weiß es, deshalb bin ich ja eben aus Grünau
mit dem
nächsten Zug hierhergereist, um mit Ihnen sprechen zu können.“
In
Horns Augen blitzte es auf.
„Aus
Grünau kommen Sie?“ sagte er lebhaft. „Oh, bitte,
was haben Sie mir zu sagen?“
Er
führte sie zu seinem Tisch und bot ihr einen Stuhl.
Sie sah ihn, eine Weile an einem Worte würgend, an, dann fragte sie
leise: „Hat
Ihnen Herr Graumann, mein Vormund, gesagt, daß John
und
ich heimlich verlobt gewesen? Daß auch ich über den Unglücklichen
aussagen kann
– nur Gutes“, setzte sie mit einem lieben, herzzerreißenden Lächeln
hinzu.
Kommissar
Horn reichte ihr die Hand.
„Sie
sind ein tapferes Kind“, sagte er herzlich. „Ich
nehme an, Sie haben es, gleich Herrn Graumann, heute erst erfahren, daß
John
Siders tot ist.“
Das
Mädchen nickte, brach in ein krampfhaftes
Schluchzen aus und legte Arme und Haupt auf die Tischkante. Ihr ganzer
zierlicher Leib zuckte vor schmerzlicher Aufregung.
Horn,
der selber eine Tochter in Eleonores Alter
besaß, ward es recht weh ums Herz, als er das liebliche Mädchen so
trostlos sah.
Sanft löste er ihr den Hut vom Kopf und strich ihr über das Haar.
„Armes
Kind, Sie haben John Siders wohl sehr lieb
gehabt?“ Wie zart der Kommissar reden konnte! Seine Güte fiel denn auch
wie
labender Tau in die gramvolle Seele des Mädchens. Sie erhob den Kopf,
wendete
Horn ihr blasses Gesicht zu und stammelte: „Oh, bitte, verzeihen Sie
mir. Aber
ich mußte endlich weinen, wenn mich das Grauen und der Schmerz nicht
töten
sollen.“
„Weinen
Sie, Kind, weinen Sie. Die Natur fordert ihr
Recht. Ich kann schon noch ein wenig warten“, entgegnete Horn
freundlich, und
als sie sich endlich gefaßt hatte, sah er ihr ermutigend in die Augen,
und sie
begann: „Als mein Vormund heute mittags heimkam, erzählte er seiner
Tante und
mir, die ich auch in seinem Haushalt lebe, daß John tot, daß er
ermordet, und
zwar um seines Geldes willen ermordet worden sei. Er brachte es uns
vorsichtig
bei – dennoch war mir's, als sollte ich wahnsinnig darüber werden.“
„Wußte
Ihr Vormund, daß ein Verhältnis zwischen John
Siders und Ihnen bestand?“
„Er
wußte es, denn er selbst hat es vor etwa drei
Wochen gelöst.“
„Gut,
mein Kind. Sie haben, wie ich meine, wirklich
Wichtiges auszusagen, da wollen wir denn doch ein Protokoll aufnehmen.
Sie
waren doch gefaßt darauf?“
Gar
ernst war der Beamte
geworden und gar ernst und noch blasser auch das Mädchen. Sie neigte,
seine
Annahme bestätigend, das Haupt.
Kommissar
Horn drückte auf eine elektrische Klingel.
Ein Wachmann kam herein.
„Ich
lasse Herrn Binder zu einem Protokoll bitten.“
Eine Minute später kam Herr Binder. Er sah nicht rechts noch links,
verbeugte
sich im Hereinkommen mechanisch nach der Richtung hin, in welcher er
den
Kommissar wußte, und saß auch schon an seinem Platz, hinter einer Lage
weißen
Papiers, dessen Bogen schon numeriert waren.
Herr
Binder war eine sehr präzise arbeitende, nie
versagende Schreibmaschine, die gleich in schönster Schrift selbst die
im
raschesten Tempo durchgeführten Verhandlungen protokollierte.
Er
sah schon lange auf sein Papier und die schon
angesetzte Feder, als der Kommissar mit seinen Fragen begann.
„Sie
heißen?“
„Eleonore
Römer.“
„Wie
alt?“
„Zweiundzwanzig
Jahre zehn Monate.“
Horn
lächelte ein wenig, dann fuhr er fort: „Wo
geboren?“
„In
Grünau.“
„Konfession?“
„Römisch-katholisch.“
„Ledig?
Verheiratet?“
„Ledig.“
„Wohnhaft?“
„In
Grünau. Im Hause des Ingenieurs Albert Graumann,
der, da ich seit Jahren elternlos bin, mir zum Vormund gesetzt ist.“
„Seit
wann kannten Sie John Siders?“
„Fast
so lange, wie er in Grünau lebte, das ist seit
mehr denn einem Jahr.“
„Sie
verlobten sich mit ihm?“
„Ich
verlobte mich mit ihm.“
„Heimlich?“
„Heimlich.“
„Aus
welchem Grunde sollten die Leute nichts von diesem Verlöbnis wissen?“
Eleonore
Römer lächelte bitter. „Oh – die Leute hätten
es schon wissen können, nur meinem Vormund sollte es verborgen bleiben,
bis es
zur Hochzeit kam, was erst nach meiner Mündigsprechung der Fall sein
konnte.“
„War
er Ihrem Verlobten abhold?“
„Nein
– solange er nicht wußte, daß John mein
Verlobter war.“
„Und
aus welchem Grunde war er dann gegen ihn?“
„Weil
er selber mich heiraten wollte“, sagte das
Mädchen errötend.
„Ah!“machte
der Kommissar.
Eleonore
Römer blickte auf. „Nicht wahr, jetzt wissen
Sie, warum Graumann dem armen John so übelwollte, daß er sein und damit
auch
mein Glück zerstörte. Aber kann er das Schreckliche auch scheinbar
beweisen,
John ist – ah – war doch kein Dieb, und wenn man ihn auch verurteilt
hat, wenn
er auch im Zuchthaus gesessen, er war doch kein Dieb, war ehrlich, wie
Sie und
ich es sind. Das, nur das Ihnen zu sagen, kam ich her, denn ich will
nicht, daß
man schlecht von dem Toten spricht, der mir's unter Tränen und heiligen
Eiden
zugeschworen, daß er ungerecht verurteilt wurde und daß ein Justizmord
an
seiner Ehre verübt worden sei.“
Immer
gespannter horchte der Kommissar, und als das
Mädchen seine leidenschaftliche Rede beendet hatte und, wieder von der
gewohnten Schüchternheit überwältigt, die flammenden Augen
niederschlug, da
fragte Horn sehr erstaunt: „Ja, liebes Fräulein! Wovon reden Sie denn
eigentlich?“
„Von
John Siders, den mein Vormund freilich in dem
Glauben, er rede die Wahrheit, heute bei Ihnen verleumdet hat.“
„Aber
Herr Graumann sagte ja von all dem, was Sie da
vorbrachten, kein Wort.“
„Kein
Wort!“ sagte langsam – sich wie eine
Nachtwandlerin erhebend und ihn anstarrend – das Mädchen, dann schlug
es die
Hände vors Gesicht und murmelte:
„Mein
Gott! Was habe ich getan!“
„Das
Rechte, Fräulein
Römer! Das einzig Rechte und Richtige haben Sie getan, indem Sie, vom
einem
edlen Gedanken getrieben, hierhergekommen sind, um alles, aber auch
wirklich
alles zu sagen, was die schreckliche Tat, die an Ihrem Verlobten verübt
wurde,
vielleicht aufklären kann und wodurch es dem Gesetz möglich ist, den
Mörder
John Siders der Gerechtigkeit zu überantworten.“
Eleonore
Römer hatte, während Horn so ernst und gütig
auf sie einredete, ihre Verwirrtheit überwunden, jetzt nickte sie
wehmütig und
sagte: „Sie haben recht, Herr Kommissar. Es wäre ja doch meine Pflicht
gewesen,
alles zu sagen, was ich über Johns Verhältnisse weiß, und so vielleicht
mit
dazu beizutragen, damit er gerächt werde. Es wird ihm ja nun nicht mehr
weh
tun, daß es hier noch mehr Leute als mein Vormund und ich wissen, er
sei
einstens hier, in dieser Stadt, als Dieb gebrandmarkt worden.“
„Hier?
Wann?“
„Vor
acht Jahren.“
Horn
streckte die Hand nach der elektrischen Klingel
aus. – Fräulein Römer wehrte ab.
„Sie
wollen nach seinem Namen suchen lassen. Man würde
ihn nicht finden, denn er hat in Amerika, wo er Staatsbürger wurde, den
Familiennamen seiner Mutter, einer Engländerin, angenommen. Auch
gebrauchte er
drüben nur seinen zweiten Taufnamen. Wenn Sie aber einen Theodor
Bellmann
suchen wollen, werden Sie finden, daß er zu acht Monaten Zuchthaus
verurteilt
wurde, weil er auf einen Indizienbeweis hin von dem Richter als eines
großen
Diebstahls schuldig erkannt worden war. Und dieser Theodor Bellmann,
der, ich
bin fest davon überzeugt, nie eine unanständige Handlung beging, war
unter dem
Namen John Siders mein Verlobter.“
„Den
Sie aber trotz Ihres Überzeugtseins von seiner
Unschuld verließen“, sagte ein wenig hart der Kommissar.
Leonore
Römer senkte das Haupt.
„Ja,
ich ließ von ihm ab“, sagte sie traurig, „aber
nur weil mein Vormund uns damit drohte, Johns Vergangenheit überall,
wohin wir
uns auch wenden würden, bekannt und uns somit überall
unmöglich zu machen. John selber gab mir mein Wort zurück, und ich
mußte es
nehmen – denn wenn auch ich vielleicht die Entehrung ertragen hätte,
Johns
schon tief verletzte Seele hätte es nimmer überwinden können, daß er
überall
als einstiger Zuchthäusler angesehen werde.“
„Sie
meinten also beide, daß Graumann seine Drohung
wahrgemacht hätte?“
„Er
hätte sie wahrgemacht. Denn er ist grausam und
leidenschaftlichen Hasses fähig, wenn seine Wünsche durchkreuzt
werden.“
„Sie
halten ihn also für fähig, Schlimmes zu tun –
fast ein Verbrechen –, vielleicht wirklich ein Verbrechen auszuführen?“
Langsam, das Mädchen mit festen Blicken betrachtend, hatte Horn
geredet, und
Eleonore hatte ihn begriffen, das sah er aus ihrem Erbleichen, aus
ihrem
Zurückweichen, aus dem abwehrenden Ausstrecken ihrer Hände.
„Das
habe ich doch nicht gesagt – wenigstens nicht
sagen wollen!“ stammelte sie, worauf er ruhig entgegnete: „Aber Sie
haben
Graumanns Charakter sichtlich wahr gezeichnet, und da er, soviel wir
jetzt
wissen, der einzige Feind des Ermordeten war, müssen wir diesen Umstand
berücksichtigen und . . .“
„Und?“
ächzte Leonore.
„Und
uns den Mann ein wenig näher ansehen“, sagte mit
einem beruhigenden Lächeln der Beamte.
Leonore,
die sich schon hastig erhoben hatte, sank
wieder auf den Sitz zurück.