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Auguste Groner

Der Brief aus dem Jenseits


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Der Brief aus dem Jenseits
- Seite 3 -


Eleonore kehrte in ihr Zimmer zurück.
 
Sie wollte den sonderbaren Brief, es war eigentlich schon ein Paketchen, doch lieber oben als im Garten lesen.
 
Als sie in ihr Zimmer gekommen war, bemerkte sie, die so sehr Ordnungsliebende, daß der Wind, der durch das offene Fenster strich, mehrere leichte Gegenstände, Zwirnknäuel und Bandreste, von dem Nähtischchen herabgeweht hatte. Sorgsam hob sie dies auf und rückte auch das Vogelbauer noch ein wenig mehr in die Sonne, die heiter vom blauen, klaren Herbsthimmel niederstrahlte. Dann schloß sie das Fenster, denn die Vorhänge wallten im Luftzug auf recht unangenehme Weise auf und nieder.
 
„Jolli, jetzt mußt du still sein, jetzt wollen wir den Hamburger Brief lesen“, sagte sie dann, als ihr Hündchen, ein hübscher, drolliger Pinscher, sich laut bellend an sie drängte. Hierauf setzte sie sich hin und schnitt, den Kopf leise schüttelnd, das Kuvert mit der Spitze ihrer Stickschere auf.
 
Ein dicker, abermals kuvertierter Brief, auf dessen Adresse sie einstweilen nicht achtete, und ein offenes Schreiben fielen ihr daraus entgegen. Das Schreiben lautete:
 
»Gnädiges Fräulein!
 
Mein Freund ersuchte mich, folgenden Brief, den ich seit 15. September dieses Jahres in Verwahrung habe, gegen Mitte Oktober dieses Jahres ganz sicher in Ihre Hände gelangen zu lassen.
 
Er machte die Sache so wichtig, daß ich sie nicht minder ernst nehme und buchstäblich das an mich gestellte Ansinnen nach Möglichkeit erfülle, wobei ich in guter Absicht nur vielleicht einen Fehler mache, den, daß ich das mir anvertraute Schreiben ein wenig früher, als ich vielleicht sollte, absende. Ich tue es der Sicherheit wegen. Habe ich nämlich zu rechter Zeit nicht den von Ihnen gezeichneten Rückempfangsschein in der Hand, dann ist es mir noch möglich, nach Ihrem Aufenthaltsort zu reisen, um nachzusehen, wo der sicherlich überaus wichtige Brief, den mein Freund an Sie gelangen lassen will, steckengeblieben ist. Ich habe allerdings nur den Auftrag, ihn so sicher als möglich durch die Post expedieren zu lassen, was ich hiermit tue. Geht jedoch nicht alles in bester Ordnung, so mache ich mich trotz Geschäftsüberhäufung doch noch auf den Weg zu Ihnen. Das ist mir Theodor, dem ich sehr, sehr viel Dank schuldig bin, schon wert.
 
In vollster Hochachtung Leo Pernsburg
Hamburg, 
Rödingsmarkt 7 
Reeder“.
 
„Theodor! – Theodor!“ wiederholte mechanisch das junge Mädchen und streifte langsam mit der Hand über die Stirn, hinter welcher die Gedanken sich seltsam kraus ineinandermischten.
 
„Theodor!“ sagte sie noch einmal laut, als wolle sie sich vergewissern, daß sie nicht träume.
 
Der noch nicht beachtete Brief, der in ihrem Schoß gelegen, fiel dabei auf die Erde. Hastig bückte sie sich danach und sah mit flimmernden Augen auf ihn nieder. Alles Blut strömte ihr zum Herzen und dann zu den Schläfen hinauf.
 
„Ich bin wahnsinnig“, sagte sie halblaut „Es ist ja nicht möglich, was ich da vor mir zu sehen meine.“
 
Jolli bellte in diesem Augenblick eine vorbeischwirrende Fliege an. Das schien Leonore so natürlich zu sein – und doch nicht natürlicher als der Brief vor ihren Augen, auf den John Siders mit seiner ganz eigenartig schönen Schrift ihren Namen geschrieben und dazu gesetzt hatte: „Überaus dringlich!“
 
Indes ein unbeschreibliches Freudengefühl durch ihre Seele und ein eisiger Schauer durch ihren Leib zieht, geht Leonore zur Tür und verriegelt sie.
 
Kein Mensch hat sie an jenem Vormittag mehr gesehen. Mittags kam sie wie sonst zu Tisch, nur daß sie diesmal noch weniger aß als all die Tage zuvor. Aber sie mußte Fieber haben, denn eine große Unruhe war in ihr, und ihre Augen glühten in düsterem Feuer.
 
Kaum hatte Leni den Tisch abgeräumt, als der Bürgermeister sich anmelden ließ.
 
Er kam jetzt sehr oft. Er tröstete das alte Fräulein mit tausend Gründen, an die er allerdings selber nicht glaubte – denn ganz natürlich stand Albert Graumanns Sache verzweifelt Leonore hielt sonst seinen Besuchen nicht stand, sondern verließ, falls sie einmal anwesend war, wenn er kam, das Zimmer.
 
Diesmal aber blieb sie, und hätte einer besonders auf sie geachtet, er hätte es merken müssen, daß ihre ganze gequälte Seele den Worten des alten Herrn lauschte. Er hatte auch tatsächlich sehr Interessantes zu melden. Die Verhandlung gegen Graumann war vorverlegt worden. Da das Beweisverfahren abgeschlossen war und kein anderer, ebenso wichtiger Fall diesem im Wege stand, sollte drei Tage später, das war am 13. Oktober, die Schwurgerichtsverhandlung gegen Graumann beginnen.
 
Als seine alte Tante davon hörte, brach sie in ein Schluchzen aus. Ach, sie konnte ihrem Neffen so gar nicht helfen!
 
Auch über Leonores Wangen liefen Tränen, und das alte Fräulein zärtlich küssend, flüsterte sie ihr zu: »Nur nicht verzagt sein, Tantchen. Gott ist ja trotz allem – so gut, so gut!“
 
Welch wunderliche Bewegung beherrscht das Mädchen! Groll und Bitterkeit schauen aus ihren Augen, und doch auch wieder, ganz schüchtern, lugt ein heißes Dankgefühl und eine große Ungeduld heraus.
 
So mußte der alte, kluge Bürgermeister denken, als er Leonore nachschaute, die nach ihren seltsamen Worten aus dem Zimmer ging.
 
Der Schwurgerichtstag war da.
 
Die Verhandlung währte schon über zwei Stunden. Der weite Saal war von Menschen überfüllt, denn der Fall hatte großes Aufsehen erregt. Mit lebhaftem Interesse war denn auch die dichtgedrängte Menge der Verlesung der Anklageschrift gefolgt, welche, ein Meisterstück an Logik und Schärfe des Gedankens, nicht einen Punkt in diesem merkwürdigen Fall unbeleuchtet ließ. Der Verteidiger des Angeklagten, einer der bedeutendsten Vertreter dieser Zunft, mußte sich in seiner fast drei viertel Stunden in Anspruch nehmenden Rede lediglich darauf beschränken, hinzuweisen, daß Graumanns Vorleben rein und makellos sei, daß ein Ehrenmann unmöglich plötzlich, ganz unvermittelt so tief sinken könne, daß übrigens auch gar kein Grund für ihn vorhanden gewesen, John Siders zu töten, da ihm dieser ja weder irgendwie im Wege stand noch sein Tod ihm irgendwelchen sonstigen Vorteil brachte; die geraubten 10 000 Gulden konnten doch einen Mann, der 5000 Gulden Jahreseinnahme habe, nicht zu einem Mord verleiten, überdies habe man die abhanden gekommene Summe trotz genauester Nachforschung im Besitze Graumanns nicht gefunden, und endlich sehe die würdige, maßvolle Verteidigung des Angeklagten und sein stetes Verneinen der ihm vorgeworfenen Schuld so sehr nach Wahrheit aus, daß niemand von seinem Schuldigsein überzeugt sein könne, weshalb denn auch nicht im mindesten zu zweifeln sei, daß die Geschworenen zu einem Freispruch gelangen würden.
 
Der Staatsanwalt hatte sich hierauf erhoben. Seine kalten grauen Augen waren zu einem weiten, siegesgewissen Blick geöffnet, um seine Lippen spielte ein ironischer Zug, und da der Verteidiger einen Blick zu ihm hinüberwarf, begegneten sich die Augen der beiden Männer sekundenlang feindlich.
 
Im Leben draußen waren sie ebensosehr Widersacher, wie sie es heute von Amts wegen im Gerichtssaal sein mußten.
 
Nicht daß Doktor H., der Verteidiger, ein Weichling oder ein Optimist gewesen wäre, der jeden für gut hielt, aber er glaubte, trotz langer Gerichtspraxis, noch an das Gute im Menschen und hatte ein feines Empfinden für die Töne der Wahrheit oder Täuschung.
 
Er glaubte diesmal wirklich nicht an eine Schuld des Angeklagten, und deshalb hatte er freudig dessen Verteidigung übernommen und sie trotz aller Aussichtslosigkeit feurig durchgeführt. Als er jetzt zu Schmid hinübersah, wußte er, daß dieser, der das letzte Wort hatte, den ganzen Eindruck, den seine Rede sichtlich auf die Geschworenen gemacht, vernichten werde. Der Staatsanwalt würde auf keinen Fall seinen Ruf besonderen Eifers, besonderer Schneidigkeit verlieren wollen.
 
Und der »schneidige« Staatsanwalt tat, was nicht nur Doktor G., was auch alle anderen, die ihn kannten, erwartet hatten.
 
Er sprach in seiner scharfen, geistreichen Weise voll fachmännischer Anerkennung von der rhetorischen Leistung des Herrn Verteidigers, welche dieser nur leider einer verlorenen Sache gewidmet. Aus der Tatsache allein, daß es ihm nicht gelungen sei, auch nur einen einzigen Punkt der Anklage zu entkräften, daß er alle Indizien anerkennen mußte, welche die Anklage zusammengetragen und die in ihrer Summe schwerwiegender Momente einem Schuldbekenntnis des Angeklagten völlig gleichwertig seien, erhelle, daß die Anklage vollkommen gerechtfertigt erscheine, wie sie denn auch durch das Beweisverfahren in keiner Weise alteriert wurde. Die von der Verteidigung hervorgehobene Tatsache, daß man trotz eindringlichen Forschens die geraubte Summe nicht finden konnte, könne mit Rücksicht auf die in anderen Fällen oft konstatierte Wahrnehmung einer außerordentlichen Listanwendung behufs Verbergung geraubter Gegenstände nicht in Betracht kommen.
 
Ebensowenig sei der Hinweis auf das Vorleben des Angeklagten für die Herren Geschworenen geeignet, ihr Urteil über die Tat zu beeinflussen, die bisherige Unbescholtenheit des Inkulpaten könne höchstens in bezug auf das Strafmaß in Betracht kommen.
 
Bis hierher war der Staatsanwalt in seinen Ausführungen gekommen, und jeder im Saal war der Ansicht, daß innerhalb der nächsten halben Stunde das Verdikt der Geschworenen erfolgen müsse, da sie kaum lange über diesen ja so klar liegenden Fall zu beraten haben würden.
 
Da trat ein kleiner Zwischenfall ein.
 
Ein Diener übergab dem Präsidenten einen dicken Brief und flüsterte ihm etwas zu.
 
Während der Staatsanwalt in längerer, wahrhaft hinreißender Rede nun an die Geschworenen die Ermahnung richtete, in ihrer schweren Pflicht sich nicht durch Gefühlsmomente beirren zu lassen, hatte der Präsident das Paketchen geöffnet und begann zu lesen. Er las – Doktor H. sah es mit einer plötzlich auftauchenden Hoffnung mit steigender Bewegtheit – die erste Seite des umfangreichen Briefes. Immer rascher flogen seine Augen über das Blatt – über die Blätter, welche in seiner Hand zu zittern begannen. Eine gewaltige Erregung mußte den sonst so ruhigen Mann ergriffen haben. Er streckte die Hand nach dem Brief aus, den man auf John Siders' Tisch gefunden, und verglich dessen Schrift mit derjenigen, welche das eben erhaltene Schreiben aufwies. Er nahm auch das Onyx-Siegelstöckchen in die Hand, welches neben den Schmuckstücken des Ermordeten in einer großen Muschel lag, die man neben anderen Beweisstücken auf den Richtertisch gestellt. Der Herr Staatsanwalt hatte auf Vorweisung dieser Schmuckstücke nicht verzichten wollen. War ihm ihr Hiersein doch nichts als ein Beweis dafür, daß der besonnene Mörder sich durch ihren Raub nicht in Ungelegenheiten bringen wollte, was er von den 10 000 Gulden, die er mitgenommen, nicht zu befürchten hatte.
 
Jenes Onyx-Siegelstöckchen war sehr charakteristisch geformt, und es hatte an einer seiner Kanten eine Stelle, welche ausgesprungen war. Der Präsident mußte von dem Vergleich der Schriften in beiden Schreiben und von seiner Betrachtung des Siegelstöckchens und des Siegels befriedigt sein, das ersah Doktor H. aus dem Aufblitzen seiner Augen.
 
Mit einem seltsamen Blick schaute der Präsident zu dem neben ihm stehenden Staatsanwalt auf – und als dieser soeben seinen letzten Satz beendet, erhob jener sich rascher, als er es sonst zu tun pflegte.
 
Es erwartete niemand, außer Doktor H., der den Präsidenten genau beobachtet hatte, etwas anderes als ein ganz gewöhnliches Resümee, und doch sollte etwas anderes – ganz anderes kommen. Hoch aufgerichtet stand die sympathische Gestalt des Präsidenten da. Eine seltsame Bewegtheit sah aus seinen Augen, durchzitterte seine klangvolle Stimme, als er begann:
 
„Unerhörtes ist geschehen. In letzter Stunde hat sich noch ein Zeuge eingestellt, ein stummer und doch wunderbar beredter Zeuge, der für den Angeklagten spricht, der es uns erspart, irrtümlich Gericht zu halten über einen Mann, der nach diesem Brief aus dem Jenseits zu urteilen, mit dem Verbrechen nichts zu tun hat.“
 
Ein unbeschreiblicher Tumult herrschte nach diesen Worten des Präsidenten.
 
Die Leute waren von ihren Sitzen aufgesprungen, Schluchzen, erregte Fragen, Ausrufe höchster Verwunderung, aber auch höchster Befriedigung erfüllten die Luft.
 
Staatsanwalt Schmid allein blieb kalt, und der verbissene Zug um seinen Mund und das ironische Lächeln bezeigten, daß er unwillig über die Störung sei und an die Macht dieses so plötzlich vom Himmel gefallenen Briefes nicht glaube.
 
Aber er mußte an sie glauben, als dieser Brief oder vielmehr die Briefe, denn es waren ihrer zwei, verlesen worden waren.
 
 
Eleonore Römer hatte sie zu rechter Zeit in die Hände des Präsidenten gelangen lassen.
 
Eine Stunde später war Albert Graumann frei.
 
Die erste, die an ihn herantrat, war sein Mündel. „Vergeben Sie mir“, bat sie innigst.
 
„Was denn? Daß ich Ihr Glück zerstörte? Daß ich es im Grunde doch war, der Theodor Bellmann tötete?“ fragte trüb lächelnd Graumann.
 
„Nein, daß ich Sie solcher Tat für fähig hielt.“
 
„Es hielten mich ihrer ja wohl alle für fähig“, entgegnete er bitter und setzte, nur ihr hörbar, hinzu: „Eines mögen Sie wissen. Jetzt glaube ich es, daß Theodor Bellmann sein Leben hindurch ein ehrlicher Mensch war. Und noch eines: Ich habe schwer gelitten, er hat mich furchtbar gestraft – aber ich murre nicht, es war noch eine milde Wiedervergeltung dafür, daß ich euer Glück und sein Leben vernichtete.“
 
„Wir wollen einander vergeben, und es wird die Zeit kommen, wo wir mild über alles Vergangene werden denken können“, sprach sanft Leonore, und ihr Vormund lächelte seltsam dazu und nickte.
 
„Ja, für Sie wird diese Zeit kommen, denn ich werde bald auch unter der Erde sein, und es ist mir recht, daß ich auf natürliche Weise recht bald sterben werde, denn solch ein Toter zieht einen so oder so nach.“
 
„Sie werden leben“, tröstete das Mädchen.
 
„Ich werde sterben.“ Er lächelte. „Es war zuviel für mich. In einem hat Bellmann sich doch versehen – er hat vergessen, daß ich einen Herzfehler habe.“
 
Er war daraufhin zum Wagen gegangen. Leonore war trotz seiner Andeutung ruhig. Er hatte ja schon manches Mal gemeint, sterben zu müssen, und er lebte heute noch. Überdies war ja Sterben das ärgste nicht. Das empfand das unglückliche, edle Mädchen nun schon seit langem.
 
So sahen sie und Graumann denn während dieser Fahrt zuweilen einander in die Augen, ruhig, freundlich.
 
Acht Tage später fand man Graumann tot in seinem Lehnsessel.
 
Er hatte ein friedliches Lächeln um die Lippen.
 
Was war denn nun der Inhalt des Schreibens, das der Präsident einen Brief aus dem Jenseits genannt?
 
Die G.er Tagespost brachte ihn in einer Extra-Abendausgabe, und wahrlich, er war des Tumultes im Gerichtssaal und eines Extra-Abendblattes wert.
 
Das Päckchen, welches Leonore dem Präsidenten übergeben ließ, enthielt zwei Briefe.

Der eine lautete:
 
»Geliebte Eleonore!
 
Ehe du Kenntnis vom Inhalt der folgenden Blätter nimmst, schwöre mir beim Andenken an unsere Liebe und bei der Seligkeit, die Du einst in dem Jenseits erhoffst, aus welchem Dir sozusagen dieses mein letztes Vermächtnis zukommt, daß Du genauestens befolgen wirst, worum ich Dich bitte.
 
Inliegendes Schreiben gibst Du ungeöffnet, wiewohl es an Dich gerichtet ist, denn nur mit Dir kann ich jetzt noch verkehren, und Dir zugestellt werden muß, in die Hände des Präsidenten, welcher die Schwurgerichtsverhandlung gegen Graumann leiten wird. Doch darfst Du es erst in jenem Moment aus der Hand geben, in welchem Du merkst, daß der Staatsanwalt an der Schuld Graumanns festhält. Wird dieser, was ich nicht voraussetze, freigesprochen, dann eröffnest Du meinen Brief vor Graumann und einigen Zeugen.
 
Denn jedenfalls soll Graumann, der unschuldig ist, seine Unschuld auch zweifellos beweisen können.
 
Daß ich selber Hand an mich legen will, weißt Du nun. Vergib es mir. Aber ich kann nicht mehr leben – ohne Dich – ohne meine vernichtete Ehre.
 
Gott segne Dich tausendmal. In tiefster Liebe Dein John
 
Gedenke Deines Schwures. Du hast ihn einem Toten geleistet.«
 
Leonore hatte auch diesen an sie allein gerichteten Brief dem Präsidenten übergeben lassen; damit man wisse, sie sei durch einen Schwur gebunden gewesen, Bellmanns Brief dem Gericht zu ganz bestimmter Zeit zu übermitteln. Dieser Brief war ungeöffnet in die Hände des Präsidenten gelangt.
 
Sein Inhalt lautete:
 
»G. am 22. September 189 ...
 
Mein teurer Liebling!
 
Wenn Du diesen Brief in die Hände des Gerichtspräsidenten legen wirst, habe ich in der Erde die Ruhe gefunden, die mir auf Erden nimmer werden könnte, seit ich Dich liebe, seit ich weiß, daß ich von Dir geliebt werde, und weiß, daß ich Dich aufgeben muß, wenn ich ein Ehrenmann, der ich immer gewesen bin, bleiben will.
 
Albert Graumann würde ja ganz sicher Wort halten und würde, wohin Du mir als mein Weib folgen wolltest, überall die Ehre des Namens vernichten, den Du tragen müßtest.
 
Aber auch ich ertrüge es nicht – denn meine Seele hat sich wund gerieben an der Heimlichkeit, hinter der ich meine Schmach verbarg, und wund gerieben an dem Haß, den ich für die Unvollständigkeit der menschlichen Gerechtigkeit in mir nährte.
 
Längst war mir das Leben reizlos geworden in der kalten Fremde, in die ich geflüchtet, als ich aus dem Zuchthaus ging. Das Heimweh zehrte an mir, und ich kam wieder – heim.
 
Ich habe den Boden des Vaterlandes geküßt und ich habe am Grabe meiner Mutter geweint. Ich war ruhig und voll Frieden, als ich den Himmel über mir hatte, unter dem ich geboren worden bin. O ja, ich bin ein harmloser, ein guter Mensch geblieben.
 
Einstmals sah ich hier in G. den Richter, der mich verurteilt hatte – ungerecht verurteilt –, und meine Hand hat sich nicht geballt, und es hat sich nicht mein Gesicht gerötet. Ich habe nur gelächelt und dabei gedacht: ›Möchte nicht du sein. Bist wie ein Kind, das mit Messern spielt, und weißt nicht, welche Gefahr dabei ist.‹
 
Und wieder einmal geschah es, da kam derselbe Mann an einer vornehmen Tafel neben mir zu sitzen, und ich leitete das Gespräch auf seine richterliche Tätigkeit. Ob denn der Irrtum da ganz unmöglich, ganz ausgeschlossen wäre und ob denn das Vorleben, der Charakter, die Aussage des Inkulpaten ganz und gar verschwinden müßten, wenn Sachliches, wenn Indizien gegen ihn sprächen, fragte ihn, und der Mann schälte seinen Apfel ruhig weiter und meinte: ›Aber ich bitte Sie. Wenn die Schuld eines Menschen einmal durch unleugbare, keinesfalls mißzuverstehende Beweise erbracht ist, dann ist er gerichtet, eben durch die Indizien, die gegen ihn vorliegen.‹
 
Damals ballten sich meine Hände, damals stieg mir das Blut zu Kopfe. So redete der Mann, und schließlich hatte er ja recht. Menschen können nur menschlich richten, wobei es ihnen – wieder ganz natürlich – zuweilen passiert, daß sie irren; denn irren, das ist ja wohl das Allermenschlichste am Menschen.
 
Was mich an ihm so ergrimmte, war nur der unnahbare Hochmut, mit dem er seine menschliche Weisheit vorbrachte, und damals schon stieg der Gedanke in mir auf: dem Manne gehörte eine tüchtige Lehre. Ich vergaß jedoch seiner, als ich Dich näher kennenlernte. Ich darf mich – da nun alles so fix eingeleitet ist und durchgeführt werden muß – nicht weichmachen, indem ich Dir sage, wie innig glücklich Du mich durch Deine Güte, Deine Liebe und – später durch Dein unbegrenztes Vertrauen gemacht hast. Ich will lieber von Albert Graumann reden. Daß er an mein Schuldigsein glaubt, das verzeihe ich ihm. Daß aber er, der Gebildete, der wirkliche Kluge, sich nicht so weit emporschwingen kann, an die Besserung eines einst Bestraften zu glauben und daß er meine angebliche Verfehlung vielmehr vorschützt, um Dich von mir fernzuhalten, Dich für sich selber zu gewinnen, das vergebe ich ihm nicht.

Du bist für mich verloren. – Das Leben ist mir deshalb und nach den Szenen mit Deinem hochmütigen, tugendstolzen Ehrenmann von einem Vormund nicht mehr nur reizlos, es ist mir zum Ekel geworden, und so scheide ich denn daraus, nicht schwer, Liebling, glaube es mir, nein, sondern so wie einer, der mit abgewandtem Gesicht und verächtlich verzogenem Mund von einem Tisch geht, auf welchem er Unrat statt Speisen gefunden.
 
Damit mein Hingang nicht ganz ohne Nutzen für die Welt und ganz besonders für zwei Menschen darin sei, habe ich beschlossen, Albert Graumann, der so mitleidslos gegen uns beide gewesen, und dem Staatsanwalt Gustav Schmid, so heißt der Mann, der mich einst irrigerweise verurteilte, so sehr an den Wert des Indizienbeweises klammert und dabei die Idee von der Möglichkeit des Irrtums hochmütig von sich weist, jene ausgiebige Lehre zu geben, welche ich einstmals letzterem gewünscht.
 
Gustav Schmid ist zwar jetzt nicht mehr Einzelrichter, und so würde nicht er, sondern würden die Geschworenen die Verantwortung für den Richterspruch tragen, aber wie ich ihn kenne, wird er als öffentlicher Ankläger so hart und scharf als nur irgend möglich ins Zeug gehen, wird jeden Beweis, der gegen den Angeklagten spricht, den ich herschaffen werde, nach allen Seiten hin ins Feld führen, und bei seiner glänzenden Beredsamkeit und den wirklich gravierenden Beweismitteln für des Inkulpaten Schuld wird unfehlbar ein Schuldspruch ausgesprochen werden; der Verurteilte aber wird Albert Graumann sein, welcher seinen Hochmut, seine Unbarmherzigkeit und seinen kindlichen Glauben an die Unfehlbarkeit eines Indizienbeweises – nicht zu schwer mit einigen Tagen Nachdenkens und der Pein des Gerichtsverfahrens büßen wird.
 
Nenne mich nicht rachsüchtig, nenne mich nur ›hart geworden‹ ob der Erfahrungen, welche mich die Menschen machen ließen. Ich hasse – wenigstens in dieser Stunde – niemanden mehr; ich kann aber den beiden, die mich zugrunde richteten, der eine im Namen des Gesetzes, der andere im Namen des stolzen Menschentums der sogenannten redlich Gebliebenen – die herbe Lehre, künftig vorsichtiger zu urteilen und zu handeln, nicht ersparen, deshalb tue ich, was zu tun mich die Pein und der Groll der letzten acht Jahre zwingen.
 
Und nun, Liebling, lebe wohl und habe heißen Dank, daß Du so tapfer warst, meine Testamentsvollstreckerin zu sein – denn Du bist über das erste Blatt hinausgekommen; dann mußtest Du ja Deines Schwures wegen tun, was ich so kurz vor meinem Tode von Dir begehrte.
 
Du standest also treu zu mir, mein Lieb – treu bis über mein Leben hinaus. Ich drücke Dir die Hand dafür.
 
Gott sei mir Dir.
 
Und nun will ich die zur Orientierung notwendigen Punkte aufzählen.
 
Albert Graumann wurde tatsächlich, wie er es wohl auch angeben wird, gestern, am 21. September, von mir in einem überaus dringlich gehaltenen Brief gebeten, am 23. abends, zwischen 7 und 8 Uhr, mich in meiner ihm in dem Brief bekanntgegebenen Wohnung ohne Begleitung und Bekanntgabe seines Vorhabens zu besuchen.
 
Eben vorhin, also am 22. September, bekam ich mit der 4-Uhr-Post seine Zusage.
 
Ich kann also jetzt schon als getan ansehen, was morgen zwischen 7 und 8 Uhr geschehen wird.
 
Wenn etwas dazwischenkommen sollte, sende ich eben diesem Brief, den ich heute noch vor 7 Uhr eingeschrieben an Herrn Leo Pernsburg, Reeder in Hamburg, Rödingsmarkt 7, aufgebe, einen anderen Brief nach. Mein Freund Pernsburg wird mit diesem Schreiben den Auftrag von mir erhalten, das Kuvert dieses Briefes behufs eventueller Ausweisung über das Datum des Poststempels aufzubewahren. Überdies ist meine Schrift mehreren bekannt und nicht leicht nachzuahmen. Es wird also der Zweifel, daß wirklich ich selber die folgenden Aufzeichnungen gemacht, kaum Platz greifen können.
 
Und so will ich denn schildern, was morgen, am 23. September 1901, zwischen 7 und 8 Uhr geschehen wird.
 
Albert Graumann wird heimlich, wie ich es begehrt, zu mir kommen. Ich werde dafür sorgen, daß Leni sein Kommen, nicht aber sein Fortgehen bemerkt; daß Frau Winter meine Pläne nicht stören wird, weiß ich sicher, denn diese feiert ihren Geburtstag bei ihren Eltern, bei welchen sie auch, wie sie mir gestern selbst sagte, übernachten wird.

Graumann und ich werden somit ohne Zeugen sein. Ich werde ihn mit nichtssagenden Reden, da ich ihm ja in der Tat nichts zu sagen habe, ein wenig hinhalten; wenn er sich in die Nähe des Tisches begibt, das Tintenfaß umwerfen, damit ich mit dieser nicht wegzubringenden violetten Tinte einen neuen Beweis seiner Schuld schaffe; werde es versuchen, ob er sich dazu versteht, meinen ziemlich wertvollen Schmuck aufzubewahren, den ich ihm unter dem Vorwand, ich müsse eine Reise machen und wolle ihn ihm während dieser Zeit anvertrauen, Werde ihn ungesehen auf die Straße hinunterbringen. Werde nach seinem Fortgehen die nötige Unordnung herstellen und dann den Revolver gebrauchen, der Eigentum Albert Graumanns ist und den ich – wie ich hiermit, ohne irgendwelche Gemütsbewegung dabei zu empfinden, gestehe – am 20. September, abends 9 Uhr, während Du, Deine Tante und Graumann beim Nachtmahle saßet, von dem mir wohlbekannten Ort holte, an welchem Graumann seine kleine Waffensammlung aufbewahrt.
 
Dieser Ort ist sein im Parterre des Hauses liegendes Arbeitskabinett, und der Revolver lag stets und auch damals in einer Ebenholzkassette mit silbernen Zieraten.
 
Das Fenster des niedrig liegenden Raumes war offen, und so war es mir ein leichtes, diesen neuen Indizienbeweis für Graumanns Schuld beizubringen.
 
Die fehlenden 10 000 Gulden habe ich, wie beiliegender Scheck beweist, beim Bankhaus Mayer & Comp, zu Händen meiner ehemaligen Verlobten, Fräulein Eleonore Römer, hinterlegt.
 
Den Revolver will ich, damit man nicht vorzeitig auf die Art meines Sterbens kommt, von mir zu schleudern versuchen, auch werde ich seinen Rand nicht dicht an mein Hemd setzen, was Selbstmörder, der Sicherheit des Zieles wegen, stets tun, sondern werde die Berührung der Waffe mit der Schußstelle zu vermeiden suchen, damit nicht etwa ein verräterisches Zeichen des Sengens entstehe.
 
Hoffentlich wird mir dies gelingen, habe ich doch keine Furcht vor dem Sterben, und ich bin ja auch ein trefflicher Schütze.
 
Eines noch werde ich tun, damit ja keiner, bevor ich es für gut finde, an einen Selbstmord denkt. Ich werde an eine fingierte Person einen Brief schreiben, dessen Inhalt recht deutlich darauf hinweisen wird, wie ich so gar nicht ans Sterben denke.

Und nun ade – Gedanke an das Leben. Exzentrisch haben sie mich seit jeher genannt, sie haben vielleicht recht gehabt, die Leute.
 
Eigenartig zum mindesten ist ja auch diese meine letzte Tat – aber wenigstens wird niemand sagen können, daß sie unüberlegt, daß sie in einem Taumel geschehen ist.
 
Klar ist mein Hirn, ruhig mein Herz, da ich aus der Welt gehe, aus dieser Welt des Scheines, denn wie wenig ist wirklich, was die Menschen für wirklich nehmen.
 
Dein Vertrauen, Deine Liebe aber, Eleonore, waren echt. Ich segne Dich dafür.
 
Theodor Bellmann, 
genannt John Siders«









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