Geschichten Auguste
Groner
Der
Brief aus dem Jenseits
Der
seltsame Schatten
Der
seltsame Schatten
Das Wochenblatt der
Kreisstadt O. brachte folgende Notiz:
„Rätselhafter Mord. Sonntag,
am Morgen des 10. Oktober, also vorgestern, wurde der pensionierte
Polizeikommissar, Herr Anton Werner, ermordet in seinem Bett
aufgefunden. Ein
sicher geführter Stoß mit irgendeinem dolchartigen Instrument hat ihn
getötet.
Bis zurAusgabe dieser Nummer,
also bis heute mittag, ist es noch nicht gelungen, auch nur die
geringste Spur
des Mörders aufzufunden; ja, es ist noch nicht einmal gelungen, zu
entdecken,
was den Mord veranlaßte. Ein Raub liegt nicht vor. Feinde besaß das
hochachtbare, menschenfreundliche Opfer dieses Verbrechens nicht. Somit
ist
letzteres bis jetzt unerklärt. Hat vielleicht Irrsinn die Tag begangen?
Und noch ein Rätsel! Es
konnte bis jetzt trotz allen Scharfsinns unserer so überaus gut
geschulten
Sicherheitsorgane, nicht einmal festgestellt werden, welchen Weg der
Mörder
gekommen, welchen er gegangen ist.
Jeder Bewohner der Stadt
pilgerte nach der Mariengasse, dem Schauplatz der schrecklichen Tat.
Jeder
fragt und forscht und hat sicherlich schon erfahren, was zu erfahren
ist; somit
bringen wir diese Notiz eigentlich nur für unsere auswärtigen Leser,
wünschend,
daß wir bald in der Lage sein möchten, des feigen Mörders Gefangennahme
anzeigen zu können.“
So das Wochenblatt von O.
Es fand trotz der
Kärglichkeit und trotz des Bekanntseins obiger Meldung reißenden
Absatz, sowie
die Mariengasse tatsächlich das Ziel einer wahren Völkerwanderung
geworden war
und noch immer reichlichen Besuch erhielt; denn der Mord an dem
allgemein
bekannten und von allen verehrten einstigen Polizeikommissar Werner
hatte
weitgehend Teilnahme und Entrüsting hervorgerufen.
Eines Abends, es war ein
unfreundlicher, stürmischer Abend, standen wieder mehrere Gruppen in
der Nähe
des Hauses, darin der Mord verübt worden war. Unter vielen anderen
konnte man
einen Mann von auffallendem Wesen gewahren. Es war ein alter Mann mit
grauen
Haaren und einem strengen, ja mürrischen Gesicht, mit fest
zusammengekniffenen
Lippen und lauerndem Blick; ein Mann, der schon seiner Größe halber
auffallen
mußte und der seiner Stärke wegen von verschiedenen gefürchtet
wurde.
Dieser Mann hieß Peter
Klaus und war Gefängnis-Oberaufseher im Strafhaus zu O.; er war daselbt
eine
wenn auch nicht beliebte, so doch sehr geschätzte Persönlichkeit, denn
Peter
Klaus war vom Scheitel bis zur Sohle Pflichtbewußtsein, das hatte seine
fast
vierzigjährige Dienstzeit bewiesen.
Selbige Persönlichkeit war,
das läßt sich denken, hier eng umringt von den Neugierigen. Denn jeder
wollte
eine der spärlichen, aber meist zutreffenden Bemerkungen hören, die der
alte,
in Verbrechergeschichten wohlerfahrene Gefängnisbeamte zuweilen zum
besten gab.
„Man sagt doch, der
Ermordete habe keine Feinde gehabt, und ebenso, daß auch nicht eine
Stecknadel
entwendet worden sei“, bemerkte ein kleiner, lebhafter Herr, der sich
an Klaus
förmlich herangedrängt hatte und der, nach seinen früheren Bemerkungen
zu
schließen, irgendeiner auswärtigen Zeitung anzugehören schien.
Klaus sah ihn sehr von oben
her an. Er mochte lebhafte Leute nicht recht leiden, vielleicht weil er
selber
so schweigsam und zugeknöpft war.
„Was wissen denn die
Herren, die das schrieben“, entgegnete er wegwerfend. „Denken Sie doch
nach.
Gibt es auch nur einen Polizeibeamten, der keine Feinde hätte?“
Peter Klaus sah bei diesen
Worten nicht auf den, zu welchem er sprach, er schaute zerstreut, so
schien es,
vor sich hin. Es war so seine Art. Plötzlich aber wurden seine Miene,
seine
Blicke nachdenklich, dann gespannt, und seine Wangen sichtlich ein
wenig
blasser. Er war in Lauschen versunken.
Das dauerte jedoch nur eine
Viertelminute – dann teilte er mit starken Armen rücksichtslos den
Kreis der
ihn Umstehenden und ging, ja eilte einer fernstehenden Gruppe zu, die,
ihm
entgegenkommend, eben ihren Platz dicht vor dem Hause des Mordes
verließ.
„Verdammt!“ murmelte Herr
Klaus. „Wohin ist er gekommen?“
Der, welchen er einige
Augenblicke lang gesehen, deutlich gesehen, der schlanke Mann, dessen
scheues,
hageres, dunkle Antlitz ihm zugewendet gewesen, dessen glimmendes Auge
dem
seinigen begegnet – der war verschwunden.
Peter Klaus trat an das
Gitterpförtchen heran, das den dichtbepflanzten Vorgarten des
Wernerschen
Hauses gegen die Straße hin verwahrte – es war verschlossen; er sah
nach rechts
und links – es war nirgends eine Nische, ein Versteck, dahinter sich
der so
plötzlich Verschwundene verbergen konnte. Hier, an ihrem stadtfernen
Ende,
schloß die Mariengasse mit hocheingezäunten Gärten ab – sie bildete
eine
schnurgerade Linie, die noch eine ziemlich lange Strecke fortlief,
jedenfalls so
weit, daß sie ein Flüchtender im Zeitraum von wenigen Sekunden nicht
hätte
zurücklegen können, um die verbergende Ecke zu gewinnen.
Peter Klaus schüttelte den
Kopf, und nachher tat er noch etwas: Er machte kehrt und ging, sich um
niemanden und nichts mehr kümmernd, gegen den Mittelpunkt der Stadt
zu.
Er durchschritt einige öde
Gassen. Plötzlich blieb er stehen und schlug sich vor die Stirn. Es
war, als ob
er sich wieder zurückwenden wollte – aber er tat es nicht, er schritt
nur noch
rascher vorwärts; endlich stand er vor dem Polizeigeäude.
Es war so recht ein Haus,
das zu Peter Klaus oder vielmehr zu welchem er paßte. Groß massig,
düster, mit
einem gewissen mürrischen Ausdruck. In dieses Haus trat er. Doch nicht
dessen
Hintergründe, seinen eigentlichen Amtsort, suche er auf. Er warf nur
einen
scharfen Blick dahin, als er durch die schon fast dunkle Einfahrt ging,
und
dann erstieg er rasch die breite Treppe, die zu den Zimmern der
amtierenden
Kommissare führte.
In eines derselben trat er,
nachdem er geklopft hatte, ein.
Ein dicker alter Herr, der
mehr einem Lebemann als einem Hüter der Gerechtigkeit glich, schaute
von dem
Buch, darin er gelesen, auf. Er legte das Buch vor sich hin, als er den
Eintretenden erkannte. Das Buch war ein Leihbibliotheksband. Es mußte
dem
gemütlichen Herrn über die Zeit hinweghelfen. Zu tun gab es ja um diese
Stunde
wenig oder nichts.
Deshalb war es dem
Kommissar eben recht, daß Klaus gekommen war, denn der kam nur, wenn er
wirklich Hörenswertes zu vermelden hatte.
„Guten Tag, Herr
Kommissar!“ sagte er mit seiner harten, lauten Stimme.
„Guten Abend, lieber
Klaus“, gab dieser zurück. „Was führt Sie zu mir? Der Dienst?“
Der alte Gefängniswärter
dachte einen Augenblick lang nach, dann sagte er unsicher: „Ich weiß
nicht, ob
ich sagen darf, daß ich dienstlich komme – aber eines weiß ich, Herr
von
Lautern, ich werde alt.“
Herr von Lautern schaute
überrascht auf; so kläglich, so tragisch hatte das geklungen.
Es war auch nur eine
private Mitteilung, das zeigte des dienststrengen Gefängnisaufsehers
Anrede.
Der freundliche Mann war
fast gerührt. Er deutete auf den nächsten Stuhl, darauf sich Klaus
ehrerbietig
niederließ, indessen Herr von Lautern seufzend sagte: „Mein lieber
Klaus, wir
alle werden alt, und jeder von uns spürt es. Nur gut, wenn der Dienst
nicht
darunter leidet, und – der Ihrige leidet ja nicht unter Ihrem
Altwerden.“
Das war ein wohlverdientes
Kompliment, aber Klaus achtete nicht darauf.
„Sie waren im Jahre
achtzehnhundertsechzig noch nicht hier“, sagte er wieder in seiner
scheinbaren
Zerstreutheit, die nur Nachdenklichkeit war.
Herr von Lautern ergriff
einen Bleistift und klopfte damit auf seinen linken Handteller. Er war
so
lebhaft; er konnte nur zuhören, wenn er mit irgend etwas mechanisch
beschäftigt
war.
„Nein, damals amtierte ich
in L.“, sagte er, und Klaus fuhrt fort: „ Aber Herr Werner war hier und
ich und
noch einer, den ich heute wiedergesehen habe.“
Herr von Lautern spielte
noch immer mit seinem Bleistift.
„Die Zeitung sagt und die
Leute glauben, daß der gute Herr Werner keine Feinde gehabt, und doch –
mindestens einen hatte er. Werners Tüchtigkeit war es geglückt, einem
gefährlichen Einbrecher auf die Spur zu kommen, er selber, er allein
hatte ihn
dingfest gemacht und mit Hilfe einiger zufällig hinzugekommener
Menschen
hierhergebracht. Der Mann, er heißt Josef Holzer, wurde zu zehn Jahren
Zuchthaus verurteilt und schwor, ich allein hab’s gehört, schreckliche
Rache an
Werner zu nehmen. – Das war vor zehn Jahren und drei Monaten. Josef
Holzer ist
wieder frei, und heute – habe ich ihn vor dem Hause Werners
gesehen.“
Herr von Lautern hatte
seinen Bleistift auf den Tisch gelegt.
„Und Sie haben ihn nicht
anhalten können?“ fragte er langsam, ruhig, freundlich. Er wußte ja,
daß er
einen pflichttreuen Beamten vor sich hatte.
„Nein, ich habe ihn nicht
anhalten können; ich sagte es ja, ich werde alt. – Kaum hatte ich ihn
erblickt,
eilte ich auf ihn zu. Er stand nicht allein. Ein Dutzend anderer
Neugieriger
deckte ihn, und plötzlich war er verschwunden, wie von der Erde
verschlungen.
Nirgends war ein Versteck, ein Ausweg. Der Wernersche Vorgarten war
verschlossen.
Ich eilte hierher. Auf halbem Wege fiel mir erst ein, daß Holzer ganz
gut in
den offenen Garten hatte flüchten können, daß er selbst vielleicht erst
die
Gittertür verschlossen und verriegelt hat. Natürlich hätte ein Umkehren
nichts
mehr genützt – da habe ich denn meinen Weg fortgesetzt und habe nun
gemeldet,
was zu melden war.“
Peter Klaus ließ den Kopf
sinken. Er schämte sich – das zeigte nicht nur sein ganzes Wesen, das
zeigte
auch das dunkle Rot, welches während seines Bekenntnisses in sein altes
Gesicht
gestiegen war.
Der Kommissar war
aufgestanden und hatte die feine, weiße Hand auf Klaus Schulter
gelegt.
„Machen Sie sich nichts
daraus“, sagte er gütig, „derlei passiert jedem einmal. Und hoffentlich
wird
dieser Holzer zu finden sein. Was Sie mir sagten, bleibt Amtsgeheimnis.
Ich
will sofort zu unserem Chef gehen. Heute noch wird alles mögliche
veranlaßt
werden, um den vielleicht Schuldigen aufzugreifen.
Nach diesen Worten griff
Herr von Lautern zu seiner Dienstmütze, und beide verließen den
inzwischen fast
dunkel gewordenen Raum.
„Den vielleicht
Schuldigen!“ murmelte Peter Klaus höhnisch, als er dem Gefängnis
zuschritt. Er
hatte es im Umgang mit seinen Pfleglingen verlernt, gut von den
Menschen zu
denken – einem Häftling aber traute er überhaupt nur das
Allerschlimmste zu.
Das Haus des Ermordeten
lag, wie schon erwähnt, an einem der beiden Stadtenden. Die Mariengasse
wurde
meist von wohlhabenden, ruheliebenden Leuten bewohnt. Jedes ihrer
Häuser besaß
einen Garten. Vor dem des pensionierten Polizeibeamten Werner lag noch
ein
dicht und sorgfältig bepflanzter Vorgarten. Der einstöckige freundliche
Bau war
überhaupt nach allen Seiten hin frei, denn auch rechts und links davon
zog sich
der Garten hin, welcher, ohne bedeutende Tiefe, an einer düsteren,
wenig
benutzen Promenade endete.
Ein hohes Eisengitter faßte
ihn dort ein, ein ebensolches – aber mit einem Türchen versehen –
schloß Haus
und Garten nach der Mariengasse zu ab. Links grenzte an den Wernerschen
Besitz
ein großes, eingezäuntes Grundstück, darauf nichts als ein von einer
Strauchwildnis umgebener Schuppen stand, ein Rest der Ländlichkeit, die
noch
vor kaum einem Jahrzehnt überall hierherum geherrscht hatte.
Das Haus, darin der Mord
geschehen, war in Hufeisenform gebaut, an eine achtfenstrige Front
schlossen
sich nach dem Garten zu zwei kleine Seitenflügel.
Als Herr Werner sich vom
Amt zurückgezogen und das Haus gekauft hatte, lief um dessen Innenseite
ein
anmutiger offener Gang, den er teils aufmauern, teils verglasen ließ
und der
sich nun als ein eleganter, erkerähnlicher Anbau präsentierte, in
welchem der
kunstsinnige Hagestolz die größeren Stücke seiner Kunst- und
Altertümersammlung
untergebracht hatte.
Eine Stiege führte zu dem
Gang empor, auf welchen Frau Thereses, der Wirtschafterin, Zimmer
mündete.
An dieses Gelaß schloß sich
ein Zimmer an, darin Rudolf Werner, der Neffe des Ermordeten, schließ.
An
dieses Schlafgemach reihte sich ein anderes Zimmer, das dem Neffen als
Wohnraum
diente. Dann folgten noch drei Zimmer, denen sich zwei im
entgegengesetzten
Flügel anschlossen. In diesen letzteren arbeitete und wohnte der
ruheliebende
Pensionär.
Im Erdgeschoß lagen die
Küche und die sonstigen Wirtschaftsräume sowie das Zimmer, welches der
Gärtner
bewohnte.
Der Gärtner, Niklas Palm,
war ein braver, aber etwas stupider Mensch, der den Fehler hatte, fast
taub zu
sein.
Wenn wir noch Frau Thereses
Ami, den zierlichen Rattler, erwähnen, dann haben wir aller Lebewesen
gedacht,
für welche die Großmut und Gemütlichkeit des nunmehr auf so
schreckliche Weise
aus dem Leben geschiedenen Mannes sorgten.
Rudolf Werner, welcher in
einem der Ämter der Stadt praktizierte, war ein gemütvoller, kluger
junger
Mann, der seinen Onkel, welcher für ihn, den seit frühester Kindheit
Verwaisten, gleich einem Vater gesorgt hatte, fast abgöttisch liebte.
Ein wenig
schwärmerisch und weich veranlagt, lebte der kaum Zwanzigjährige nur
seiner
Geige und den Idealen, die er sich selbst geschaffen, und als er, durch
die
gräßliche, geheimnisvolle Tat, die da geschehen, schier urplötzlich an
die
häßlichsten Seiten des Lebens erinnert wurde, war er dem Wahnsinne nahe.
Therese hatte den
Nichtstudenten an jenem Sonntag gegen neun Uhr morgens berichtet, daß
der Herr,
ganz gegen seine Gewohnheit, noch nicht aufgestanden sei.
„Wollen Sie nicht
hinübergehen, Herr Rudolf? Mir ist so bange. Der Herr war gestern ein
wenig
unwohl, hatte Atembeschwerden, und da ließ es mir schon die Nacht über
keine
Ruhe. Ich horchte an der Tür. Aber freilich – aus dem Schlafzimmer
dringt ja
doch kein Laut heraus.“
So hatte sie zu dem jungen
Mann gesagt. Da war auch Rudolf unruhig geworden, hatte die Geige
hingelegt und
war ihr voran nach des Onkels Zimmer gegangen.
„Ich will hoffen, daß Ihre
Furcht grundlos ist“, sagte er dabei, aber seine Stimme war unsicher
und sein
Auge ängstlich, und er hätte ganz gut sagen können „unsere
Furcht“.
Nur seines Onkels
Arbeitszimmer hatte eine Tür nach dem Gang hin, das Schlafzimmer
mündete in den
Arbeitsraum. An dessen Tür, sie war des Nachts stets gesperrt, pochte
nun
Rudolf, pochte mehrere Male, immer rascher, immer lauter, und sein
Herz, sein
gutes, fast noch kindlich weiches Herz, es pochte schier zum
Zerspringen mit.
„Onkel“, rief er, „Onkel!“
Was ihm antwortete, war
nichts als angsterzeugende Stille. Therese, die heitere, kräftige Frau,
lehnte
sich blaß und zitternd an die Wand, ihre Knie zitterten.
„Mein Gott! Mein Gott!“
murmelte sie ein über das andere Mal. Und nun wendete sich Rudolf ihr
zu.
„Eine Hacke“, sagte er
ruhig – aber er war bleich dabei, erbarmungswürdig bleich.
Und da sie ihn ansah,
zitterte sie plötzlich nicht mehr, sie flog den Gang entlang, die
Treppe
hinunter, um zu holen, was er begehrte.
Aber wie sehr sie auch
eilte, ihm schien es eine Ewigkeit, bis sie wiederkam.
Mit der Kraft eines
Verzweifelnden schüttelte , er an der Tür, sie gab nicht nach . . .
Endlich,
endlich kam Therese und reichte ihm die Hacke. Im nächsten Augenblick
krachte
die Tür, flogen die Splitter – traten die beiden ein.
Das Arbeitszimmer hatte nur
ein Fenster, dessen Laden halb geschlossen war; dennoch fiel genug
Licht ein,
daß die Eindringlinge sehen konnten.
Zu gleicher Zeit eilten sie
nach dem Schlafzimmer. Es war dunkel, denn es drang nur so viel Licht
herein,
als durch die offene Tür fiel.
Rudolf stieß einen der
Fensterläden zurück. Da tönte ein dumpfer Angstlaut von der Tür her.
Rudolf
hörte auch, daß Frau Therese auf die Knie sank. Auch die seinen
zitterten.
Langsam, wie widerwillig drehte er sich dem Bett zu, auf dem, er fühlte
es in
jedem Nerv, etwas Entsetzliches zu sehen war. Und nun fielen seine
Blicke auf
das Bett: auf einen Toten – auf einen Ermordeten, dessen Blut das weiße
Bettzeug grausig färbte.
„Onkel!“ schrie qualvoll
der junge Mensch auf und flog auf das Bett zu. „Onkel!“ seufzte er noch
einmal
und sank dann halb ohnmächtig neben dem Lager nieder.
Therese, die sonst
couragierte Frau, die ja Schreckliches erwartete, der aber das weit
Entsetzlichere, das sie gefunden, fast den Geist verwirrte – schauerte
zusammen, dann raffte sie sich auf und floh aus dem Zimmer.
Unsägliches Grauen hatte
sie ergriffen; aber ihre Verwirrung war nur von kurzer Dauer. Nein, sie
wollte
nicht fortgehen, wollte den armen jungen Herrn nicht verlassen; aber
Hilfe
wollte sie holen, und allein wollte sie nicht bleiben. Sie eilte zum
einzigen
Fenster der Arbeitsstube, ließ es auf und rief Palm, der eben die
Rosenbäume
mit Stroh verband. So gellend, so angstvoll rief sie ihn an, daß selbst
er, der
fast taube Mann, sofort aufblickte. In der nächsten Minute wußte er
schon, was
geschehen, und auch er erstarrte fast vor grausiger Überraschung.
Eine Stunde später war
schon die Gerichtskommission da. Der Arzt konstatierte, daß ein von
fremder
Hand geführter, überaus kräftiger Stoß mit einem dolchartigen
Instrument das
Ableben Werners verursacht habe und daß der Tod schon vor Stunden
erfolgt sein
müsse. Sonst wurde eigentlich nichts konstatiert.
Rätselhaft blieb es, auf
welchem Weg der Mörder gekommen sei und auf welchem er das Haus
verlassen habe.
Den Gang hatte Therese auch an jenem Sonnabend, wie allabendlich, von
innen
abgesperrt und ihn ebenso am Morgen vorgefunden. Überdies steckte ja
der
Schlüssel, mit welchem sich der Ermordete gegen seine Hausgenossen
abzusperre
pflegte (eine alte Gewohnheit, die mit Argwohn nichts zu tun hatte),
noch von
innen in dem Schloß der zertrümmerten Tür.
Die beiden Fenster der
Schlafstube sowie das des Arbeitszimmers waren wohlverschlossen
gewesen, als
man den Toten auffand. Woher also war der Täter gekommen? Auf welchem
Weg war
er geflüchtet? Und warum hatte er gemordet? Es fehlte nichts von den
Effekten
des Toten, und Feinde hatte er nicht gehabt!
Man stand vor einem Rätsel.
Rudolf war in Gefahr,
diesem Rätsel zum Opfer zu fallen. Ein Nervenfieber hatte ihn an den
Rand des
Grabes gebracht. Er war so recht der junge Mann der Jetztzeit: Er war
sensibel
wie eine Dame. Das anstrengende Studium, der harte Bürodienst, die
aufregenden
Musikübungen hatten ihn so gemacht. Seit Tagen war er erst auf dem Wege
der
Besserung. Das Haus in der Mariengasse war nun noch stiller als sonst.
Nur der
Arzt ging dort aus und ein.
Eines Abends läutete es am
Gittertor. Es dunkelte schon. Therese ging zu Palm hinunter und hieß
ihn
nachsehen, wer Einlaß wolle. Sie war schreckhaft geworden, die
geängstigte
Frau, schreckhaft und vorsichtig.
Palm kam mit einem dicken
kleinen Herrn an das Haus heran. Der Herr grüßte artig. Dabei kam sein
blondes
Haupthaar zum Vorschein. Seine Augen konnte man nicht deutlich sehen,
denn er
trug eine rauchgraue Brille, aber diese Augen schienen dunkel, ja
schwarz zu
sein; so glaubte Frau Therese zu sehen, welche dem Fremden mit ihrer
Laterne
ins Gesicht leuchtete.
„Was wünschen Sie?“ fragte
sie.
„Kann ich Herrn Rudolf
Werner sprechen?“ fragte er zurück.
„Er ist krank.“
„Ich weiß es, aber er ist,
das weiß ich auch, nun bei klarem Bewußtsein und genügend kräftig, um
über
etwas, das er selbst herbeiwünschen muß, sprechen zu können.“
„Das wäre?“ fragte erstaunt
die Wirtschafterin.
„Ich möchte es ihm selber
sagen.“
„Auf alle Fälle kann ich
Sie nicht zu dem Kranken lassen, entgegnete Therese bestimmt, und das
leuchtete
dem fremden Herrn ein.
„Kann ich Sie allein
sprechen?“ meinte er, mit Blick auf den daneben stehenden Gärtner.
Die Frau wurde ungeduldig.
„Er ist taub, Sie können reden“, sagte sie rasch.
„Es handelt sich um die
Auffindung des Mörders“, flüsterte er ihr dennoch leise zu. Er hatte
sie dabei
scharf beobachtet. Hatte er etwa einen Verdacht gegen sie? Hatte er
erwartet, daß
sie erschrecken werde? Sie sah ihn nur überrascht an.
„Kommen Sie!“ sagte sie
dann nach kurzer Überlegung und ging ihm voran, die Stiege hinauf. Auf
der
dritten Stufe aber wendete sie sich Palm zu und winkte ihm, ihr zu
folgen. Es
mochte ihr doch unheimlich sein, allein mit dem Fremden hinaufzugehen.
Ein
unmerkliches Lächeln zuckte um die Lippen des blonden Mannes. Seine
Augen
huschten blitzschnell, aber auch mit Falkenschärfe über jeden
Gegenstand, an
welchem er vorüberkam und welchen das matte Licht der Laterne traf, er
nahm
schon auf der Treppe den Hut ab und fuhr sich mit der Hand durch das
dichte
Haar – oder drückte er es vielleicht nieder? Wollte er sich vielleicht
nur
überzeugen, ob es auf der rechten Stelle war?
„Warten Sie hier“, bat
Therese und wies dem Fremden einen Stuhl im Gang an. Palm machte sich
in seiner
Nähe an einem Blumentischchen zu schaffen. Er pflückte welke Blätter
ab, die
nicht da waren, und richtete Stiele auf, die ohnehin vollsaftig nach
oben
wuchsen. Auch das bemerkte der blonde und lächelte bitter. Wer ihn
beobachtet
hätte, hätte es ganz deutlich sehen können und hätte noch anderes
gewahren
müssen. Wie früher auf der Stiege, so untersuchten auch jetzt in dem
hell
erleuchteten Gang seine scharfen Augen jeden Winkel, jedes Gerät, jede
Zierform.
Nach etwa zehn Minuten kam
die Wirtschafterin zurück.
„Treten Sie ein“, sagte
sie, und er trat ein. Er blieb etwa eine halbe Stunde allein bei dem
Kranken,
bei dem kaum erst Genesenden, dann wurde geklingelt, und Frau Therese,
die
unterdessen , voll von unterdrückter Aufregung, im Gang auf und ab
gegangen
war, betrat das Zimmer, in dem Herr Rudolf lag.
Der dicke blonde Herr saß
im vollen Schein der Lampe am Fußende des Bettes in dem Sessel, den sie
ihm
dort hingestellt. Er sah völlig ruhig aus. Nicht so Rudolf, dessen
abgezehrtes
Gesicht von einer Röte überhaucht war.
„Liebe Therese, führen Sie
diesen Herrn überall dorthin, wohin er begehrt. Beantworten Sie ohne
Scheu jede
seiner Fragen. Er will sich unserer Sache annehmen. Er ist
Geheimpolizist,
Schmid mit Namen. Unsere Polizei hat nichts entdecken können,
vielleicht
gelingt es ihm, unseren lieben Toten zu rächen. Dazu bedarf es aber vor
allem
der tiefsten Verschwiegenheit. Niemand darf ahnen, daß Herr Schmid die
Untersuchung aufgenommen hat.“
Erschöpft schwieg der junge
Mann. Herr Schmid erhob sich, nahm langsam einige Papiere an sich,
welche vor
Rudolf auf der Decke lagen und die vermutlich seine Person
legitimierten, legte
sie sorgfältig in seine Brieftasche und sagte: „So kann ich also gleich
beginnen?“
„Ich bitte Sie darum“,
erwiderte der Kranke und reichte ihm die Hand. Schmid ergriff sie,
zögernd, wie
Therese zu gewahren meinte, verneigte sich und ging aus dem Zimmer. Die
Frau
folgte ihm nicht sogleich. Sie machte sich an den Kissen des Bettes zu
schaffen
und flüsterte Rudolf zu: „Darf man dem Menschen auch trauen?“
„Sicherlich. Er nimmt diese
Untersuchung aus Gründen des Ehrgeizes auf.“
„Warum aber kommt er so bei
Nacht und Nebel?“
„Weil unsere Polizei es
gewiß nicht gern sehen würde, daß ein anderer etwas entdeckt, was ihr
verborgen
blieb, obwohl sie an Ort und Stelle war, als das Verbrechen verübt
wurde.“
„Sie meinen also nun, daß
man ihn nicht unterstützen würde?“
„Man würde ihn eher
hindern. Jetzt aber tun Sie, was ich Ihnen sagte. Wir beide werden ja
doch erst
Ruhe finden, wenn das Verbrechen gesühnt ist.“
Sie ging. Im Gang draußen
stand Herr Schmid und besah aufmerksam die alten Uhren, welche,
merkwürdige
Erzeugnisse vergangener Jahrhunderte, die Borde zierten.
„Ich hole eine Lampe“,
sagte die Frau, an ihm vorübergehend, und verschwand an der Biegung des
Ganges.
Sie hatte Palm ein Zeichen gegeben, und auch er ging. Man hörte ihn
geräuschvoll die Stiege hinuntergehen, dann den Sand der Gartenwege
unter
seinen Tritten knirschen, eine Tür wurde geöffnet und geschlossen. Der
blonde
Herr tat einen tiefen Atemzug, und seine Augen glühten düster, als er
leise
murmelte: „Wenn es mir nur gelänge!“
Einige Augenblicke später
kam Therese mit einer angezündeten Lampe und einem Schlüssel zurück.
Ein
zierliches Hündchen folgte ihr, es sprang mit lautem Gekläffe an dem
Fremden
hinauf.
Er beachtete den Hund
nicht.
Schweigend folgte er seiner
Führerin an das andere Ende des Ganges. Vor einer weißlackierten,
frischglänzenden Tür blieb sie stehen.
„Bitte sperren Sie auf“,
sagte sie nach kurzem Zögern.
Es mochte ihr recht unangenehm
sein, jetzt , in dieser lautlosen Abendstunde die Räume zu betreten, in
denen
so Schreckliches geschehen war.
„Das ist eine neue Tür“,
sagte Herr Schmid.
„Ja – die alte hat Herr
Rudolf, als er sie mit Gewalt öffnete, zersprengt, und offen konnten
wir
natürlich diese Zimmer nicht lassen.“
„Sie haben beide die Tür
versperrt gefunden, wie ich hörte?“
„So ist’s.“
„Mit einem Riegel
verschlossen?“
„Nein, der Schlüssel war
zugedreht. Die Tür hatte keinen Riegel.“
Schmid sperrte auf, er
öffnete die Tür. Sie traten ein. Frau Therese stellte die Lampe auf
eine alte
Kommode. Der ganze, kleine Raum, war hell erleuchtet.
„Dies war Herrn Werners
Arbeitszimmer?“
Herr Schmid hätte gar nicht
so zu fragen brauchen, denn es zeigten sich ja, wohin man sah, die
Spuren
davon, daß in diesem Zimmer die kleinen Liebhaberarbeiten des
Pensionärs
verrichtet worden waren. Eine kleine Drehbank, ein mit allerlei
Handwerkszeug
gefülltes Kästchen standen an der einen Wand. Lacktöpfchen und Pinsel
ließen
darauf schließen, daß er selber allerlei Reparaturen im Hause besorgte,
und ein
großer, mit Linealen, Maßen, Zirkeln, Papieren, Metallbestandteilen und
Lupen
beladener Tisch, der dicht neben dem Fenster stand und über welchem
eine Lampe
hing, bewies, daß der Gemordete sicherlich hier reichlich beschäftigt
gewesen.
„Herr Werner liebte
Altertümer!“ bemerkte der blonde Herr, indessen er seine alles sehenden
Augen
über die beiden großen Glasschränke gleiten ließ, in welchen die
verschiedensten Erzeugnisse vergangener Kulturepochen friedlich
nebeneinander
aufgestellt waren.
„Ja, das ganze Haus ist
voll von solch altem Kram.“
Frau Therese hatte ihres
Gebieters Liebhabereien niemals verstanden, das zeigte der mitleidige
verächtliche Ton ihrer Antwort.
„Und ganz besonders
bevorzugte er die Uhren“, setzte Herr Schmid seine lauten Betrachtungen
fort,
indessen er die eine Wand überblickte, an welcher die verschiedensten
Zeitmesser hingen und auf Postamenten aufgestellt waren.
Die Frau nickte nur. Herr
Schmid war an das Fenster getreten. Man mußte sich förmlich durch den
engen
Raum zwängen, welchen der große Arbeitstisch dort frei ließ.
„Und dieses Fenster war,
wie alle anderen, auch verschlossen?“ fragte er, das breite, hohe
Fenster genau
betrachtend.
„Fest verschlossen. Ich
selber habe es erst geöffnet, als ich Palm heraufrief, weil ich mich
fürchtete,
mit dem Toten und dem Ohnmächtigen allein zu bleiben.“
„Wußten Sie denn, daß Palm
– das ist ja wohl der Mann, den ich vorhin gesehen habe – unten sei?“
„Gewiß, ich hatte ihn ja
bei den Rosen gesehen, als ich aus der Küche unten die Hacke
holte.“
„Die Hacke?“
„Mit welcher Herr Rudolf
die Tür sprengte.“
„Ah so. Und Palm hörte Ihen
Ruf? Er ist doch taub?“
„Nur, schwerhörig.“
Die Frau beachtete es
nicht, daß er so rasch, so scharf gefragt hatte – sie mußte wohl völlig
unschuldig an dem Verbrechen, also auch völlig harmlos sein.
„Also, das Fenster war
geschlossen“, kam Herr Schmid wieder auf den eigentlichen Gegenstand
zurück,
„Sie erinnern sich dessen genau.“
„Genau – das heißt, das
äußere Fenster war geschlossen, das innere nur angelehnt und ebenso
auch der
Laden nur angelehnt.“
„So! Nun, im Grunde ist das
eins. Hinausgekommen ist der Mörder also hier nicht.“
„Ganz unmöglich.“
Herr Schmid ging auf den
großen Kachelofen zu, der die Ecke zwischen den beiden Türen einnahm.
Es war keine Kaminöffnung
im Zimmer.
Die Frau verstand, woran er
dachte.
„Oh – auch dieser Weg war
ihm genommen; weder hier noch dort drinnen ist ein Kamin.“
„Gehen wir in das andere
Zimmer“, verlangte nun der Detektiv.
Therese nahm die Lampe und ging voran. Er folgte ihr.
„In diesem Zimmer habe ich,
nachdem die Kommission hier gewesen war und man mir die Erlaubnis dazu
gegeben
hatte, aufräumen lassen“, sagte die Frau leise schaudernd.
„Das versteht sich. Aber
Sie können mir wohl beschreiben, wie Sie alles vorgefunden haben?“
Sie schilderte ihm, wie sie
eingetreten waren und wie der erste Lichtstrahl, der durch die erst von
Rudolf
geöffneten Fensterladen fiel, ihnen den ermordeten Herrn gezeigt habe.
Bis in
die geringsten Einzelheiten ging sie, man hörte es ihrer schmerzlichen
Rede an,
daß sie nur mit tiefstem Widerwillen diese Erinnerungen zurückrief, daß
sie es
aber dennoch tat, weil sie hoffte, daß dadurch ihr Zuhörer vielleicht
eine Spur
des Mörders finden könne und ihr armer Herr so gerächt werden würde.
Scharf aufmerkend, hörte
ihr Herr Schmid zu, betrachtete genau das Zimmer und alles, was es
enthielt,
und ließ sich alsdann wieder in die andere Stube hinausführen.
Dort stellte er zwei Stühle
zurecht und lud Frau Therese ein, sich ihm gegenüberzusetzen
Erstaunt
folgte sie seiner
Aufforderung.
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