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Literatur 












Geschichten Auguste Groner
Der Brief aus dem Jenseits

Der seltsame Schatten



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Der seltsame Schatten

Das Wochenblatt der Kreisstadt O. brachte folgende Notiz:

„Rätselhafter Mord. Sonntag, am Morgen des 10. Oktober, also vorgestern, wurde der pensionierte Polizeikommissar, Herr Anton Werner, ermordet in seinem Bett aufgefunden. Ein sicher geführter Stoß mit irgendeinem dolchartigen Instrument hat ihn getötet. 

Bis zurAusgabe dieser Nummer, also bis heute mittag, ist es noch nicht gelungen, auch nur die geringste Spur des Mörders aufzufunden; ja, es ist noch nicht einmal gelungen, zu entdecken, was den Mord veranlaßte. Ein Raub liegt nicht vor. Feinde besaß das hochachtbare, menschenfreundliche Opfer dieses Verbrechens nicht. Somit ist letzteres bis jetzt unerklärt. Hat vielleicht Irrsinn die Tag begangen?

Und noch ein Rätsel! Es konnte bis jetzt trotz allen Scharfsinns unserer so überaus gut geschulten Sicherheitsorgane, nicht einmal festgestellt werden, welchen Weg der Mörder gekommen, welchen er gegangen ist.

Jeder Bewohner der Stadt pilgerte nach der Mariengasse, dem Schauplatz der schrecklichen Tat. Jeder fragt und forscht und hat sicherlich schon erfahren, was zu erfahren ist; somit bringen wir diese Notiz eigentlich nur für unsere auswärtigen Leser, wünschend, daß wir bald in der Lage sein möchten, des feigen Mörders Gefangennahme anzeigen zu können.“ 

So das Wochenblatt von O.


Es fand trotz der Kärglichkeit und trotz des Bekanntseins obiger Meldung reißenden Absatz, sowie die Mariengasse tatsächlich das Ziel einer wahren Völkerwanderung geworden war und noch immer reichlichen Besuch erhielt; denn der Mord an dem allgemein bekannten und von allen verehrten einstigen Polizeikommissar Werner hatte weitgehend Teilnahme und Entrüsting hervorgerufen. 

Eines Abends, es war ein unfreundlicher, stürmischer Abend, standen wieder mehrere Gruppen in der Nähe des Hauses, darin der Mord verübt worden war. Unter vielen anderen konnte man einen Mann von auffallendem Wesen gewahren. Es war ein alter Mann mit grauen Haaren und einem strengen, ja mürrischen Gesicht, mit fest zusammengekniffenen Lippen und lauerndem Blick; ein Mann, der schon seiner Größe halber auffallen mußte und der seiner Stärke wegen von verschiedenen gefürchtet wurde. 

Dieser Mann hieß Peter Klaus und war Gefängnis-Oberaufseher im Strafhaus zu O.; er war daselbt eine wenn auch nicht beliebte, so doch sehr geschätzte Persönlichkeit, denn Peter Klaus war vom Scheitel bis zur Sohle Pflichtbewußtsein, das hatte seine fast vierzigjährige Dienstzeit bewiesen.

Selbige Persönlichkeit war, das läßt sich denken, hier eng umringt von den Neugierigen. Denn jeder wollte eine der spärlichen, aber meist zutreffenden Bemerkungen hören, die der alte, in Verbrechergeschichten wohlerfahrene Gefängnisbeamte zuweilen zum besten gab. 

„Man sagt doch, der Ermordete habe keine Feinde gehabt, und ebenso, daß auch nicht eine Stecknadel entwendet worden sei“, bemerkte ein kleiner, lebhafter Herr, der sich an Klaus förmlich herangedrängt hatte und der, nach seinen früheren Bemerkungen zu schließen, irgendeiner auswärtigen Zeitung anzugehören schien. 

Klaus sah ihn sehr von oben her an. Er mochte lebhafte Leute nicht recht leiden, vielleicht weil er selber so schweigsam und zugeknöpft war. 

„Was wissen denn die Herren, die das schrieben“, entgegnete er wegwerfend. „Denken Sie doch nach. Gibt es auch nur einen Polizeibeamten, der keine Feinde hätte?“

Peter Klaus sah bei diesen Worten nicht auf den, zu welchem er sprach, er schaute zerstreut, so schien es, vor sich hin. Es war so seine Art. Plötzlich aber wurden seine Miene, seine Blicke nachdenklich, dann gespannt, und seine Wangen sichtlich ein wenig blasser. Er war in Lauschen versunken. 

Das dauerte jedoch nur eine Viertelminute – dann teilte er mit starken Armen rücksichtslos den Kreis der ihn Umstehenden und ging, ja eilte einer fernstehenden Gruppe zu, die, ihm entgegenkommend, eben ihren Platz dicht vor dem Hause des Mordes verließ.

„Verdammt!“ murmelte Herr Klaus. „Wohin ist er gekommen?“ 

Der, welchen er einige Augenblicke lang gesehen, deutlich gesehen, der schlanke Mann, dessen scheues, hageres, dunkle Antlitz ihm zugewendet gewesen, dessen glimmendes Auge dem seinigen begegnet – der war verschwunden. 

Peter Klaus trat an das Gitterpförtchen heran, das den dichtbepflanzten Vorgarten des Wernerschen Hauses gegen die Straße hin verwahrte – es war verschlossen; er sah nach rechts und links – es war nirgends eine Nische, ein Versteck, dahinter sich der so plötzlich Verschwundene verbergen konnte. Hier, an ihrem stadtfernen Ende, schloß die Mariengasse mit hocheingezäunten Gärten ab – sie bildete eine schnurgerade Linie, die noch eine ziemlich lange Strecke fortlief, jedenfalls so weit, daß sie ein Flüchtender im Zeitraum von wenigen Sekunden nicht hätte zurücklegen können, um die verbergende Ecke zu gewinnen. 

Peter Klaus schüttelte den Kopf, und nachher tat er noch etwas: Er machte kehrt und ging, sich um niemanden und nichts mehr kümmernd, gegen den Mittelpunkt der Stadt zu. 

Er durchschritt einige öde Gassen. Plötzlich blieb er stehen und schlug sich vor die Stirn. Es war, als ob er sich wieder zurückwenden wollte – aber er tat es nicht, er schritt nur noch rascher vorwärts; endlich stand er vor dem Polizeigeäude.

Es war so recht ein Haus, das zu Peter Klaus oder vielmehr zu welchem er paßte. Groß massig, düster, mit einem gewissen mürrischen Ausdruck. In dieses Haus trat er. Doch nicht dessen Hintergründe, seinen eigentlichen Amtsort, suche er auf. Er warf nur einen scharfen Blick dahin, als er durch die schon fast dunkle Einfahrt ging, und dann erstieg er rasch die breite Treppe, die zu den Zimmern der amtierenden Kommissare führte. 

In eines derselben trat er, nachdem er geklopft hatte, ein. 

Ein dicker alter Herr, der mehr einem Lebemann als einem Hüter der Gerechtigkeit glich, schaute von dem Buch, darin er gelesen, auf. Er legte das Buch vor sich hin, als er den Eintretenden erkannte. Das Buch war ein Leihbibliotheksband. Es mußte dem gemütlichen Herrn über die Zeit hinweghelfen. Zu tun gab es ja um diese Stunde wenig oder nichts.

Deshalb war es dem Kommissar eben recht, daß Klaus gekommen war, denn der kam nur, wenn er wirklich Hörenswertes zu vermelden hatte.

„Guten Tag, Herr Kommissar!“ sagte er mit seiner harten, lauten Stimme. 

„Guten Abend, lieber Klaus“, gab dieser zurück. „Was führt Sie zu mir? Der Dienst?“ 

Der alte Gefängniswärter dachte einen Augenblick lang nach, dann sagte er unsicher: „Ich weiß nicht, ob ich sagen darf, daß ich dienstlich komme – aber eines weiß ich, Herr von Lautern, ich werde alt.“ 

Herr von Lautern schaute überrascht auf; so kläglich, so tragisch hatte das geklungen.

Es war auch nur eine private Mitteilung, das zeigte des dienststrengen Gefängnisaufsehers Anrede. 

Der freundliche Mann war fast gerührt. Er deutete auf den nächsten Stuhl, darauf sich Klaus ehrerbietig niederließ, indessen Herr von Lautern seufzend sagte: „Mein lieber Klaus, wir alle werden alt, und jeder von uns spürt es. Nur gut, wenn der Dienst nicht darunter leidet, und – der Ihrige leidet ja nicht unter Ihrem Altwerden.“ 

Das war ein wohlverdientes Kompliment, aber Klaus achtete nicht darauf. 

„Sie waren im Jahre achtzehnhundertsechzig noch nicht hier“, sagte er wieder in seiner scheinbaren Zerstreutheit, die nur Nachdenklichkeit war. 

Herr von Lautern ergriff einen Bleistift und klopfte damit auf seinen linken Handteller. Er war so lebhaft; er konnte nur zuhören, wenn er mit irgend etwas mechanisch beschäftigt war. 

„Nein, damals amtierte ich in L.“, sagte er, und Klaus fuhrt fort: „ Aber Herr Werner war hier und ich und noch einer, den ich heute wiedergesehen habe.“

Herr von Lautern spielte noch immer mit seinem Bleistift. 

„Die Zeitung sagt und die Leute glauben, daß der gute Herr Werner keine Feinde gehabt, und doch – mindestens einen hatte er. Werners Tüchtigkeit war es geglückt, einem gefährlichen Einbrecher auf die Spur zu kommen, er selber, er allein hatte ihn dingfest gemacht und mit Hilfe einiger zufällig hinzugekommener Menschen hierhergebracht. Der Mann, er heißt Josef Holzer, wurde zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt und schwor, ich allein hab’s gehört, schreckliche Rache an Werner zu nehmen. – Das war vor zehn Jahren und drei Monaten. Josef Holzer ist wieder frei, und heute – habe ich ihn vor dem Hause Werners gesehen.“ 

Herr von Lautern hatte seinen Bleistift auf den Tisch gelegt. 

„Und Sie haben ihn nicht anhalten können?“ fragte er langsam, ruhig, freundlich. Er wußte ja, daß er einen pflichttreuen Beamten vor sich hatte. 

„Nein, ich habe ihn nicht anhalten können; ich sagte es ja, ich werde alt. – Kaum hatte ich ihn erblickt, eilte ich auf ihn zu. Er stand nicht allein. Ein Dutzend anderer Neugieriger deckte ihn, und plötzlich war er verschwunden, wie von der Erde verschlungen. Nirgends war ein Versteck, ein Ausweg. Der Wernersche Vorgarten war verschlossen. Ich eilte hierher. Auf halbem Wege fiel mir erst ein, daß Holzer ganz gut in den offenen Garten hatte flüchten können, daß er selbst vielleicht erst die Gittertür verschlossen und verriegelt hat. Natürlich hätte ein Umkehren nichts mehr genützt – da habe ich denn meinen Weg fortgesetzt und habe nun gemeldet, was zu melden war.“ 

Peter Klaus ließ den Kopf sinken. Er schämte sich – das zeigte nicht nur sein ganzes Wesen, das zeigte auch das dunkle Rot, welches während seines Bekenntnisses in sein altes Gesicht gestiegen war. 

Der Kommissar war aufgestanden und hatte die feine, weiße Hand auf Klaus­ Schulter gelegt. 

„Machen Sie sich nichts daraus“, sagte er gütig, „derlei passiert jedem einmal. Und hoffentlich wird dieser Holzer zu finden sein. Was Sie mir sagten, bleibt Amtsgeheimnis. Ich will sofort zu unserem Chef gehen. Heute noch wird alles mögliche veranlaßt werden, um den vielleicht Schuldigen aufzugreifen. 

Nach diesen Worten griff Herr von Lautern zu seiner Dienstmütze, und beide verließen den inzwischen fast dunkel gewordenen Raum. 

„Den vielleicht Schuldigen!“ murmelte Peter Klaus höhnisch, als er dem Gefängnis zuschritt. Er hatte es im Umgang mit seinen Pfleglingen verlernt, gut von den Menschen zu denken – einem Häftling aber traute er überhaupt nur das Allerschlimmste zu.

Das Haus des Ermordeten lag, wie schon erwähnt, an einem der beiden Stadtenden. Die Mariengasse wurde meist von wohlhabenden, ruheliebenden Leuten bewohnt. Jedes ihrer Häuser besaß einen Garten. Vor dem des pensionierten Polizeibeamten Werner lag noch ein dicht und sorgfältig bepflanzter Vorgarten. Der einstöckige freundliche Bau war überhaupt nach allen Seiten hin frei, denn auch rechts und links davon zog sich der Garten hin, welcher, ohne bedeutende Tiefe, an einer düsteren, wenig benutzen Promenade endete.

Ein hohes Eisengitter faßte ihn dort ein, ein ebensolches – aber mit einem Türchen versehen – schloß Haus und Garten nach der Mariengasse zu ab. Links grenzte an den Wernerschen Besitz ein großes, eingezäuntes Grundstück, darauf nichts als ein von einer Strauchwildnis umgebener Schuppen stand, ein Rest der Ländlichkeit, die noch vor kaum einem Jahrzehnt überall hierherum geherrscht hatte. 

Das Haus, darin der Mord geschehen, war in Hufeisenform gebaut, an eine achtfenstrige Front schlossen sich nach dem Garten zu zwei kleine Seitenflügel.

Als Herr Werner sich vom Amt zurückgezogen und das Haus gekauft hatte, lief um dessen Innenseite ein anmutiger offener Gang, den er teils aufmauern, teils verglasen ließ und der sich nun als ein eleganter, erkerähnlicher Anbau präsentierte, in welchem der kunstsinnige Hagestolz die größeren Stücke seiner Kunst- und Altertümersammlung untergebracht hatte.

Eine Stiege führte zu dem Gang empor, auf welchen Frau Thereses, der Wirtschafterin, Zimmer mündete. 

An dieses Gelaß schloß sich ein Zimmer an, darin Rudolf Werner, der Neffe des Ermordeten, schließ. An dieses Schlafgemach reihte sich ein anderes Zimmer, das dem Neffen als Wohnraum diente. Dann folgten noch drei Zimmer, denen sich zwei im entgegengesetzten Flügel anschlossen. In diesen letzteren arbeitete und wohnte der ruheliebende Pensionär.

Im Erdgeschoß lagen die Küche und die sonstigen Wirtschaftsräume sowie das Zimmer, welches der Gärtner bewohnte.

Der Gärtner, Niklas Palm, war ein braver, aber etwas stupider Mensch, der den Fehler hatte, fast taub zu sein.

Wenn wir noch Frau Thereses Ami, den zierlichen Rattler, erwähnen, dann haben wir aller Lebewesen gedacht, für welche die Großmut und Gemütlichkeit des nunmehr auf so schreckliche Weise aus dem Leben geschiedenen Mannes sorgten.

Rudolf Werner, welcher in einem der Ämter der Stadt praktizierte, war ein gemütvoller, kluger junger Mann, der seinen Onkel, welcher für ihn, den seit frühester Kindheit Verwaisten, gleich einem Vater gesorgt hatte, fast abgöttisch liebte. Ein wenig schwärmerisch und weich veranlagt, lebte der kaum Zwanzigjährige nur seiner Geige und den Idealen, die er sich selbst geschaffen, und als er, durch die gräßliche, geheimnisvolle Tat, die da geschehen, schier urplötzlich an die häßlichsten Seiten des Lebens erinnert wurde, war er dem Wahnsinne nahe.

Therese hatte den Nichtstudenten an jenem Sonntag gegen neun Uhr morgens berichtet, daß der Herr, ganz gegen seine Gewohnheit, noch nicht aufgestanden sei.

„Wollen Sie nicht hinübergehen, Herr Rudolf? Mir ist so bange. Der Herr war gestern ein wenig unwohl, hatte Atembeschwerden, und da ließ es mir schon die Nacht über keine Ruhe. Ich horchte an der Tür. Aber freilich – aus dem Schlafzimmer dringt ja doch kein Laut heraus.“

So hatte sie zu dem jungen Mann gesagt. Da war auch Rudolf unruhig geworden, hatte die Geige hingelegt und war ihr voran nach des Onkels Zimmer gegangen. 

„Ich will hoffen, daß Ihre Furcht grundlos ist“, sagte er dabei, aber seine Stimme war unsicher und sein Auge ängstlich, und er hätte ganz gut sagen können „unsere Furcht“. 

Nur seines Onkels Arbeitszimmer hatte eine Tür nach dem Gang hin, das Schlafzimmer mündete in den Arbeitsraum. An dessen Tür, sie war des Nachts stets gesperrt, pochte nun Rudolf, pochte mehrere Male, immer rascher, immer lauter, und sein Herz, sein gutes, fast noch kindlich weiches Herz, es pochte schier zum Zerspringen mit. 

„Onkel“, rief er, „Onkel!“

Was ihm antwortete, war nichts als angsterzeugende Stille. Therese, die heitere, kräftige Frau, lehnte sich blaß und zitternd an die Wand, ihre Knie zitterten.

„Mein Gott! Mein Gott!“ murmelte sie ein über das andere Mal. Und nun wendete sich Rudolf ihr zu.

„Eine Hacke“, sagte er ruhig – aber er war bleich dabei, erbarmungswürdig bleich.

Und da sie ihn ansah, zitterte sie plötzlich nicht mehr, sie flog den Gang entlang, die Treppe hinunter, um zu holen, was er begehrte.

Aber wie sehr sie auch eilte, ihm schien es eine Ewigkeit, bis sie wiederkam.

Mit der Kraft eines Verzweifelnden schüttelte , er an der Tür, sie gab nicht nach . . . Endlich, endlich kam Therese und reichte ihm die Hacke. Im nächsten Augenblick krachte die Tür, flogen die Splitter – traten die beiden ein.

Das Arbeitszimmer hatte nur ein Fenster, dessen Laden halb geschlossen war; dennoch fiel genug Licht ein, daß die Eindringlinge sehen konnten. 

Zu gleicher Zeit eilten sie nach dem Schlafzimmer. Es war dunkel, denn es drang nur so viel Licht herein, als durch die offene Tür fiel.

Rudolf stieß einen der Fensterläden zurück. Da tönte ein dumpfer Angstlaut von der Tür her. Rudolf hörte auch, daß Frau Therese auf die Knie sank. Auch die seinen zitterten. Langsam, wie widerwillig drehte er sich dem Bett zu, auf dem, er fühlte es in jedem Nerv, etwas Entsetzliches zu sehen war. Und nun fielen seine Blicke auf das Bett: auf einen Toten – auf einen Ermordeten, dessen Blut das weiße Bettzeug grausig färbte.

„Onkel!“ schrie qualvoll der junge Mensch auf und flog auf das Bett zu. „Onkel!“ seufzte er noch einmal und sank dann halb ohnmächtig neben dem Lager nieder.

Therese, die sonst couragierte Frau, die ja Schreckliches erwartete, der aber das weit Entsetzlichere, das sie gefunden, fast den Geist verwirrte – schauerte zusammen, dann raffte sie sich auf und floh aus dem Zimmer.

Unsägliches Grauen hatte sie ergriffen; aber ihre Verwirrung war nur von kurzer Dauer. Nein, sie wollte nicht fortgehen, wollte den armen jungen Herrn nicht verlassen; aber Hilfe wollte sie holen, und allein wollte sie nicht bleiben. Sie eilte zum einzigen Fenster der Arbeitsstube, ließ es auf und rief Palm, der eben die Rosenbäume mit Stroh verband. So gellend, so angstvoll rief sie ihn an, daß selbst er, der fast taube Mann, sofort aufblickte. In der nächsten Minute wußte er schon, was geschehen, und auch er erstarrte fast vor grausiger Überraschung. 

Eine Stunde später war schon die Gerichtskommission da. Der Arzt konstatierte, daß ein von fremder Hand geführter, überaus kräftiger Stoß mit einem dolchartigen Instrument das Ableben Werners verursacht habe und daß der Tod schon vor Stunden erfolgt sein müsse. Sonst wurde eigentlich nichts konstatiert.

Rätselhaft blieb es, auf welchem Weg der Mörder gekommen sei und auf welchem er das Haus verlassen habe. Den Gang hatte Therese auch an jenem Sonnabend, wie allabendlich, von innen abgesperrt und ihn ebenso am Morgen vorgefunden. Überdies steckte ja der Schlüssel, mit welchem sich der Ermordete gegen seine Hausgenossen abzusperre pflegte (eine alte Gewohnheit, die mit Argwohn nichts zu tun hatte), noch von innen in dem Schloß der zertrümmerten Tür.

Die beiden Fenster der Schlafstube sowie das des Arbeitszimmers waren wohlverschlossen gewesen, als man den Toten auffand. Woher also war der Täter gekommen? Auf welchem Weg war er geflüchtet? Und warum hatte er gemordet? Es fehlte nichts von den Effekten des Toten, und Feinde hatte er nicht gehabt!

Man stand vor einem Rätsel. 

Rudolf war in Gefahr, diesem Rätsel zum Opfer zu fallen. Ein Nervenfieber hatte ihn an den Rand des Grabes gebracht. Er war so recht der junge Mann der Jetztzeit: Er war sensibel wie eine Dame. Das anstrengende Studium, der harte Bürodienst, die aufregenden Musikübungen hatten ihn so gemacht. Seit Tagen war er erst auf dem Wege der Besserung. Das Haus in der Mariengasse war nun noch stiller als sonst. Nur der Arzt ging dort aus und ein. 

Eines Abends läutete es am Gittertor. Es dunkelte schon. Therese ging zu Palm hinunter und hieß ihn nachsehen, wer Einlaß wolle. Sie war schreckhaft geworden, die geängstigte Frau, schreckhaft und vorsichtig.

Palm kam mit einem dicken kleinen Herrn an das Haus heran. Der Herr grüßte artig. Dabei kam sein blondes Haupthaar zum Vorschein. Seine Augen konnte man nicht deutlich sehen, denn er trug eine rauchgraue Brille, aber diese Augen schienen dunkel, ja schwarz zu sein; so glaubte Frau Therese zu sehen, welche dem Fremden mit ihrer Laterne ins Gesicht leuchtete.

„Was wünschen Sie?“ fragte sie. 

„Kann ich Herrn Rudolf Werner sprechen?“ fragte er zurück.

„Er ist krank.“

„Ich weiß es, aber er ist, das weiß ich auch, nun bei klarem Bewußtsein und genügend kräftig, um über etwas, das er selbst herbeiwünschen muß, sprechen zu können.“

„Das wäre?“ fragte erstaunt die Wirtschafterin. 

„Ich möchte es ihm selber sagen.“ 

„Auf alle Fälle kann ich Sie nicht zu dem Kranken lassen, entgegnete Therese bestimmt, und das leuchtete dem fremden Herrn ein. 

„Kann ich Sie allein sprechen?“ meinte er, mit Blick auf den daneben stehenden Gärtner.

Die Frau wurde ungeduldig. „Er ist taub, Sie können reden“, sagte sie rasch.

„Es handelt sich um die Auffindung des Mörders“, flüsterte er ihr dennoch leise zu. Er hatte sie dabei scharf beobachtet. Hatte er etwa einen Verdacht gegen sie? Hatte er erwartet, daß sie erschrecken werde? Sie sah ihn nur überrascht an.

„Kommen Sie!“ sagte sie dann nach kurzer Überlegung und ging ihm voran, die Stiege hinauf. Auf der dritten Stufe aber wendete sie sich Palm zu und winkte ihm, ihr zu folgen. Es mochte ihr doch unheimlich sein, allein mit dem Fremden hinaufzugehen. Ein unmerkliches Lächeln zuckte um die Lippen des blonden Mannes. Seine Augen huschten blitzschnell, aber auch mit Falkenschärfe über jeden Gegenstand, an welchem er vorüberkam und welchen das matte Licht der Laterne traf, er nahm schon auf der Treppe den Hut ab und fuhr sich mit der Hand durch das dichte Haar – oder drückte er es vielleicht nieder? Wollte er sich vielleicht nur überzeugen, ob es auf der rechten Stelle war?

„Warten Sie hier“, bat Therese und wies dem Fremden einen Stuhl im Gang an. Palm machte sich in seiner Nähe an einem Blumentischchen zu schaffen. Er pflückte welke Blätter ab, die nicht da waren, und richtete Stiele auf, die ohnehin vollsaftig nach oben wuchsen. Auch das bemerkte der blonde und lächelte bitter. Wer ihn beobachtet hätte, hätte es ganz deutlich sehen können und hätte noch anderes gewahren müssen. Wie früher auf der Stiege, so untersuchten auch jetzt in dem hell erleuchteten Gang seine scharfen Augen jeden Winkel, jedes Gerät, jede Zierform.

Nach etwa zehn Minuten kam die Wirtschafterin zurück.

„Treten Sie ein“, sagte sie, und er trat ein. Er blieb etwa eine halbe Stunde allein bei dem Kranken, bei dem kaum erst Genesenden, dann wurde geklingelt, und Frau Therese, die unterdessen , voll von unterdrückter Aufregung, im Gang auf und ab gegangen war, betrat das Zimmer, in dem Herr Rudolf lag.

Der dicke blonde Herr saß im vollen Schein der Lampe am Fußende des Bettes in dem Sessel, den sie ihm dort hingestellt. Er sah völlig ruhig aus. Nicht so Rudolf, dessen abgezehrtes Gesicht von einer Röte überhaucht war.

„Liebe Therese, führen Sie diesen Herrn überall dorthin, wohin er begehrt. Beantworten Sie ohne Scheu jede seiner Fragen. Er will sich unserer Sache annehmen. Er ist Geheimpolizist, Schmid mit Namen. Unsere Polizei hat nichts entdecken können, vielleicht gelingt es ihm, unseren lieben Toten zu rächen. Dazu bedarf es aber vor allem der tiefsten Verschwiegenheit. Niemand darf ahnen, daß Herr Schmid die Untersuchung aufgenommen hat.“

Erschöpft schwieg der junge Mann. Herr Schmid erhob sich, nahm langsam einige Papiere an sich, welche vor Rudolf auf der Decke lagen und die vermutlich seine Person legitimierten, legte sie sorgfältig in seine Brieftasche und sagte: „So kann ich also gleich beginnen?“ 

„Ich bitte Sie darum“, erwiderte der Kranke und reichte ihm die Hand. Schmid ergriff sie, zögernd, wie Therese zu gewahren meinte, verneigte sich und ging aus dem Zimmer. Die Frau folgte ihm nicht sogleich. Sie machte sich an den Kissen des Bettes zu schaffen und flüsterte Rudolf zu: „Darf man dem Menschen auch trauen?“ 

„Sicherlich. Er nimmt diese Untersuchung aus Gründen des Ehrgeizes auf.“ 

„Warum aber kommt er so bei Nacht und Nebel?“

„Weil unsere Polizei es gewiß nicht gern sehen würde, daß ein anderer etwas entdeckt, was ihr verborgen blieb, obwohl sie an Ort und Stelle war, als das Verbrechen verübt wurde.“ 

„Sie meinen also nun, daß man ihn nicht unterstützen würde?“

„Man würde ihn eher hindern. Jetzt aber tun Sie, was ich Ihnen sagte. Wir beide werden ja doch erst Ruhe finden, wenn das Verbrechen gesühnt ist.“

Sie ging. Im Gang draußen stand Herr Schmid und besah aufmerksam die alten Uhren, welche, merkwürdige Erzeugnisse vergangener Jahrhunderte, die Borde zierten.

„Ich hole eine Lampe“, sagte die Frau, an ihm vorübergehend, und verschwand an der Biegung des Ganges. Sie hatte Palm ein Zeichen gegeben, und auch er ging. Man hörte ihn geräuschvoll die Stiege hinuntergehen, dann den Sand der Gartenwege unter seinen Tritten knirschen, eine Tür wurde geöffnet und geschlossen. Der blonde Herr tat einen tiefen Atemzug, und seine Augen glühten düster, als er leise murmelte: „Wenn es mir nur gelänge!“

Einige Augenblicke später kam Therese mit einer angezündeten Lampe und einem Schlüssel zurück. Ein zierliches Hündchen folgte ihr, es sprang mit lautem Gekläffe an dem Fremden hinauf.

Er beachtete den Hund nicht.

Schweigend folgte er seiner Führerin an das andere Ende des Ganges. Vor einer weißlackierten, frischglänzenden Tür blieb sie stehen.

„Bitte sperren Sie auf“, sagte sie nach kurzem Zögern.

Es mochte ihr recht unangenehm sein, jetzt , in dieser lautlosen Abendstunde die Räume zu betreten, in denen so Schreckliches geschehen war. 

„Das ist eine neue Tür“, sagte Herr Schmid.

„Ja – die alte hat Herr Rudolf, als er sie mit Gewalt öffnete, zersprengt, und offen konnten wir natürlich diese Zimmer nicht lassen.“

„Sie haben beide die Tür versperrt gefunden, wie ich hörte?“

„So ist’s.“ 

„Mit einem Riegel verschlossen?“ 

„Nein, der Schlüssel war zugedreht. Die Tür hatte keinen Riegel.“

Schmid sperrte auf, er öffnete die Tür. Sie traten ein. Frau Therese stellte die Lampe auf eine alte Kommode. Der ganze, kleine Raum, war hell erleuchtet. 

„Dies war Herrn Werners Arbeitszimmer?“ 

Herr Schmid hätte gar nicht so zu fragen brauchen, denn es zeigten sich ja, wohin man sah, die Spuren davon, daß in diesem Zimmer die kleinen Liebhaberarbeiten des Pensionärs verrichtet worden waren. Eine kleine Drehbank, ein mit allerlei Handwerkszeug gefülltes Kästchen standen an der einen Wand. Lacktöpfchen und Pinsel ließen darauf schließen, daß er selber allerlei Reparaturen im Hause besorgte, und ein großer, mit Linealen, Maßen, Zirkeln, Papieren, Metallbestandteilen und Lupen beladener Tisch, der dicht neben dem Fenster stand und über welchem eine Lampe hing, bewies, daß der Gemordete sicherlich hier reichlich beschäftigt gewesen.

„Herr Werner liebte Altertümer!“ bemerkte der blonde Herr, indessen er seine alles sehenden Augen über die beiden großen Glasschränke gleiten ließ, in welchen die verschiedensten Erzeugnisse vergangener Kulturepochen friedlich nebeneinander aufgestellt waren.

„Ja, das ganze Haus ist voll von solch altem Kram.“

Frau Therese hatte ihres Gebieters Liebhabereien niemals verstanden, das zeigte der mitleidige verächtliche Ton ihrer Antwort. 

„Und ganz besonders bevorzugte er die Uhren“, setzte Herr Schmid seine lauten Betrachtungen fort, indessen er die eine Wand überblickte, an welcher die verschiedensten Zeitmesser hingen und auf Postamenten aufgestellt waren. 

Die Frau nickte nur. Herr Schmid war an das Fenster getreten. Man mußte sich förmlich durch den engen Raum zwängen, welchen der große Arbeitstisch dort frei ließ.

„Und dieses Fenster war, wie alle anderen, auch verschlossen?“ fragte er, das breite, hohe Fenster genau betrachtend. 

„Fest verschlossen. Ich selber habe es erst geöffnet, als ich Palm heraufrief, weil ich mich fürchtete, mit dem Toten und dem Ohnmächtigen allein zu bleiben.“ 

„Wußten Sie denn, daß Palm – das ist ja wohl der Mann, den ich vorhin gesehen habe – unten sei?“

„Gewiß, ich hatte ihn ja bei den Rosen gesehen, als ich aus der Küche unten die Hacke holte.“ 

„Die Hacke?“

„Mit welcher Herr Rudolf die Tür sprengte.“ 

„Ah so. Und Palm hörte Ihen Ruf? Er ist doch taub?“ 

„Nur, schwerhörig.“ 

Die Frau beachtete es nicht, daß er so rasch, so scharf gefragt hatte – sie mußte wohl völlig unschuldig an dem Verbrechen, also auch völlig harmlos sein. 

„Also, das Fenster war geschlossen“, kam Herr Schmid wieder auf den eigentlichen Gegenstand zurück, „Sie erinnern sich dessen genau.“

„Genau – das heißt, das äußere Fenster war geschlossen, das innere nur angelehnt und ebenso auch der Laden nur angelehnt.“ 

„So! Nun, im Grunde ist das eins. Hinausgekommen ist der Mörder also hier nicht.“ 

„Ganz unmöglich.“ 

Herr Schmid ging auf den großen Kachelofen zu, der die Ecke zwischen den beiden Türen einnahm.

Es war keine Kaminöffnung im Zimmer.

Die Frau verstand, woran er dachte.

„Oh – auch dieser Weg war ihm genommen; weder hier noch dort drinnen ist ein Kamin.“

„Gehen wir in das andere Zimmer“,  verlangte nun der Detektiv. Therese nahm die Lampe und ging voran. Er folgte ihr.

„In diesem Zimmer habe ich, nachdem die Kommission hier gewesen war und man mir die Erlaubnis dazu gegeben hatte, aufräumen lassen“, sagte die Frau leise schaudernd. 

„Das versteht sich. Aber Sie können mir wohl beschreiben, wie Sie alles vorgefunden haben?“

Sie schilderte ihm, wie sie eingetreten waren und wie der erste Lichtstrahl, der durch die erst von Rudolf geöffneten Fensterladen fiel, ihnen den ermordeten Herrn gezeigt habe. Bis in die geringsten Einzelheiten ging sie, man hörte es ihrer schmerzlichen Rede an, daß sie nur mit tiefstem Widerwillen diese Erinnerungen zurückrief, daß sie es aber dennoch tat, weil sie hoffte, daß dadurch ihr Zuhörer vielleicht eine Spur des Mörders finden könne und ihr armer Herr so gerächt werden würde.

Scharf aufmerkend, hörte ihr Herr Schmid zu, betrachtete genau das Zimmer und alles, was es enthielt, und ließ sich alsdann wieder in die andere Stube hinausführen.

Dort stellte er zwei Stühle zurecht und lud Frau Therese ein, sich ihm gegenüberzusetzen

Erstaunt folgte sie seiner Aufforderung.




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