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 Geschichten Auguste Groner
Der Brief aus dem Jenseits

Der seltsame Schatten

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Der seltsame Schatten
- Seite 2 -



„Und jetzt sagen Sie mir alles, was Sie über Ihren einstigen Herrn wissen“, bat er freundlich.
 
Beklommen kam sie auch dieser Aufforderung nach, erzählte, daß sie nun über zehn Jahr Werners Wirtschaft führe, so lange eben, als er in Pension gegangen sei und sich hier angekauft habe; sie schilderte seine Freude an der Renovierung des Hauses, und seine Güte gegen alle Welt, besonders aber gegen seinen Neffen und seine Hausgenossen, seine Freigebigkeit gegenüber den Armen und seine Gemütlichkeit im Umgang mit allen, die in sein Haus gekommen seien oder mit denen er auswärts verkehrt habe.
 
„Hatte er großen Verkehr?“ unterbrach Schmid die etwas weitläufigen Schilderungen der Frau.
 
„Nicht viel, ganz besonders in letzter Zeit nicht. Er war kränklich und damit menschenscheu geworden. Er reiste nicht einmal mehr gern, was doch früher auch zu seinen Passionen gehörte.“
 
„Machte er große Reisen?“
 
„Das nicht. Er besuchte meist nur ein- oder zweimal im Jahr die Residenz, um dort Nachschau zu halten, ob es nicht etwas Interessantes zu erwerben gäbe.“
 
„Einen Zuwachs für seine Sammlungen, meinen Sie?“
 
„Ja, und wenn er etwas besonders Altes gekauft hatte, dann kam er immer fröhlich heim und lud seine Intimen ein, die es mit ihm bewundern mußten, und war es eine alte Uhr oder irgendeine andere mechanische Spielerei, dann setzte er mit Mühe und unter hundert Versuchen die natürlich längst ruinierten Dinger wieder instand und verbrachte täglich mehrere Stunden an diesem Tisch, leise pfeifend oder singend, denn er war nicht weniger musikalisch als der junge Herr. Und einmal, als er mit solch einer Arbeit gar nicht zurecht kommen konnte, nahm er sogar für ein paar Wochen einen Uhrmachergehilfen aus unserer Stadt auf, der ihm helfen mußte.“
 
„Soso!“ machte gleichmütig Herr Schmid, „und in jüngster Zeit verkehrte er also nur mit wenigen Menschen?“
 
„Mit fast gar niemanden mehr. Er war, wie gesagt, kränklich und daher gern allein, nicht einmal wir sahen ihn öfter als bei den Mahlzeiten. Freilich, für seine Altertümer fand er weder bei Herrn Rudolf noch bei mir Verständnis, und wenn alte Leute nicht von ihrer Liebhaberei reden können, reden sie lieber gar nicht. Aber da fällt mir’s eben ein, daß nach seinem Tode ein Herr hier war, der dringend Herrn Rudolf zu reden begehrte. Es handelt sich um einen Kauf oder Rückkauf oder dergleichen; ich habe es mir nicht gemerkt, denn es war eben zur Zeit, als der junge Herr im Delirium lag und meine Sorgen und Gedanken bei ihm waren.“
 
„Den Namen des Herrn wissen sie nicht?“
 
„Ich weiß nur, daß er ein Raritätenhändler ist.“
 
„Aus der Residenz?“
 
„Es wird schon so sein. Der Tode soll ein guter Kunde von ihm gewesen sein.“
 
„Mit den Geschäftsleuten, die beim Umbau des Hauses hier waren, oder mit sonst irgend jemandem hat es nie einen Konflikt gegeben? Ein Zerwürfnis meine ich, das einen solchen Racheakt wahrscheinlich macht?“
 
„Niemals! Der Herr war ein Engel an Güte.“
 
„Und geraubt wurde auch nichts?“
 
„Nichts. Nicht eine Stecknadel.“
 
„ Wie hieß der Uhrmachergehilfe, der hier arbeitete?“ fragte der Detektiv, nach einem kleinen Gegenstand langend, der, in ein Papier eingewickelt, auf dem Werktisch lag. Es war eine Drahtspule. Ihre Umhüllung mochte Herrn Schmid auf die gestellte Frage gebracht haben, es war ein Reklamezettel, wie sie an den Straßenecken ausgegeben werden, und eine Uhr sowie der Name einer Firma hoben sich in fetten schwarzem Druck von dem gelben Papier ab. Zwischen diesem Papier und der Spule war jedoch noch ein anderes, ein weißes.
 
„Steiner oder Steiniger, glaube ich. Ich weiß es aber nicht bestimmt, ich habe seinen Namen nur wenige Male gehört, und es ist schon länger als zwei Jahre her, daß er hier arbeitete.“
 
„Hier im Hause und wohl auch hier in der Stadt?“
 
„Ja, beim Mechaniker Kerbler.“
 
„Ein Uhrmacher – bei einem Mechaniker?“
 
„Es war doch so, der Mensch war zu allem geschickt.“
 
„Wie sah der fremde Herr aus, welcher während  Herrn Rudolfs Krankheit hier war?“
 
„Es war ein alter Mann mit fast weißem Bart. Auch kann ich mich erinnern,  daß er eine Narbe auf der rechten Wange hatte. Er war groß und hager.“
 
Herr Schmid notierte sich einiges, dann sah er die Frau mit durchdringenden Blicken an und fragte: „Ich bitte Sie nur noch nachzudenken, ob Ihnen in der Mordnacht nichts, gar nichts aufgefallen ist. Hat sich zum Beispiel Ihr Hündchen denn gar nicht gerührt?“
 
„Nein, Herr . . .“, sie stockte verlegen.
 
„Schmid“, ergänzte er ihre Ansprache.
 
„Schmid“, wiederholte sie, „nein, Ami lag die ganze Nacht ruhig. Er ging nicht einmal mit mir, als ich aufstand, um an des Herrn Tür zu horchen.“
 
„Das haben Sie getan?“
 
„Ich habe es immer so getan, wenn ich wußte, daß der Herr sich nicht wohl fühlte.“
 
„So war es an jenem, seinem Tode vorhergehenden Samstag?“
 
„Ja, und des Nachts erwachte ich auf einmal – ich hatte einen bösen Traum gehabt und war deshalb besorgt und unruhig. Ich nahm ein Licht und ging herüber, ich rief leise des Herrn Namen – aber er antwortete mir nicht, und so nahm ich an, daß er nicht wach, nicht leidend sei.“
 
„Und da gingen Sie wieder zurück?“   
 
„Nein, das tat ich noch nicht“, sagte die Frau zögernd und wie in ein tiefes Sinnen verfallend.
 
Es war einen Augenblick lang still in dem Arbeitszimmer des Ermordeten.
 
„Was taten Sie denn?“ fragte dann der Detektiv aufmerksam. Die Frau atmete tief auf.
 
„Warum habe ich bis heute nicht daran gedacht? Warum habe ich das den Herrn vom Gericht nicht gesagt?“ fragte sie mit unverkennbar echter Verwunderung mehr sich als ihren Zuhörer.
 
„Was hätten Sie denn noch zu sagen gehabt?“ fragte dieser, und sie fuhr fort: „Nein, ich ging nicht. Ich drückte auf die Türklinke, meine Unruhe war ja noch nicht ganz behoben durch das Unbeantwortetbleiben meines Rufes. Ich wußte, daß der Herr sich stets abschloß, dennoch drückte ich auf die Klinke, und das tat ich mit dem Gefühl, daß man mich höre. Es war mir, als wache noch einer außer mir im Hause. Aber – die Tür öffnete sich nicht, und nichts war zu hören als der Wind, der in den Bäumen sauste, und da zwang mich irgend etwas, durch das Schlüsselloch zu schauen.“
 
„Der Schlüssel steckte drinnen.“
 
„Ja, aber er war so gedreht, daß der Bart die Öffnung nicht verdeckte, und da sah ich –„
 
„Nun, was sahen Sie?“
 
Der blonde Herr hatte sich ihr erwartungsvoll entgegengebeugt.
 
„Ich sah – aber lachen Sie mich nicht aus – ich sah einen Schatten über das Bild meines Herrn gleiten, und der Schatten verschwand; da schaute sein Antlitz so blaß aus und schien wehevoll verzerrt zu sein – es war wohl, weil der Mond es bestrahlte -, und dann kam der Schatten wieder, und noch einmal wurde das Bild hell, und wieder verdunkelte es sich. Da packte mich die Furcht, und ich eilte nach meinem Zimmer und sperrte mich ein.“
 
„Zu welcher Stunde mochten Sie wohl aufgestanden sein?“
 
„Das weiß ich nicht.“
 
„Und schliefen Sie wieder ein?“
 
„Ja – nach langem Wachen. Es werden wohl Wolken gewesen sein“, sagte Therese sinnend, ihr stilles Denken laut fortsetzend. „Nein, es waren keine Wolken“, berichtigte Herr Schmid ihre Ansicht.
 
„Wieso wissen Sie das?“ fragte die Frau erstaunt.
 
„Weil ich jene Nacht im Freien zubrachte“, erwiderte er, und seine Stimme klang seltsam gepreßt dabei. Hatte er damals ein Leid erfahren, das heute noch in ihm nachwirkte? „Nein, es waren keine Wolken“, wiederholte er, und dann stand er lebhaft auf und ging wieder nach dem Fenster. Die Lampe und das Bild, das schräg hinter ihr an der Wand hing, betrachtend, sagte er plötzlich: „Liebe Frau, gehen Sie hinaus, und sehen Sie, wie damals, durch das Schlüsselloch.“
 
Sie tat, wie er gesagt.
 
Und da sah sie wieder einen Schatten über die Wand gleiten, einen harten, schwarzen Schatten, aber er verschleierte niemals das Bild in derselben Weise, wie es in jener Nacht von – jenem Schatten verschleiert worden war.
 
„Treten Sie wieder ein“, bat sie Herr Schmid nach einer Weile.
 
Sie trat ein.
 
„War es so?“ fragte er.
 
„Nein. Nicht einmal ähnlich“, entgegnete sie kopfschüttelnd.
 
Der blonde Herr lächelte ruhig.
 
„Übermorgen, also am sechsten November, werde ich um diese Zeit wiederkommen. Seien Sie bereit, einen Teil der Nacht zu durchwachen. Ich bin auf einer Spur. Jedenfalls werden Sie über alles schweigen, wenn Sie wollen, daß der Mörder entdeckt werde. So – und jetzt lassen Sie mich eine Weile allein.“
 
Sie verneigte sich und ging hinaus.
 
Der Mann war ja legitimiert; wie hätte sie ihm nicht vertrauen sollen?
 
Dennoch vertraute sie ihm nicht ganz.
 
Sie hieß Ami mit dem Befehl „Hüte“ sich vor Herrn Rudolfs Tür legen, wissend, daß der Hund keinen als die Hausgenossen über die Schwelle treten lassen würde, ohne mit seiner durchdringenden Stimme Hilfe herbeizurufen; dann ging sie leise die Stiege hinunter, öffnete die Tür, welche sie abschloß, und trat in den Garten hinaus.
 
Da konnte sie denn auch sofort Absonderliches gewahren. Auf dem Fensterbrett stand Herr Schmid und untersuchte den oberen Teil des Fensters. Sein Gesicht war hell vom Kerzenschein beleuchtet. Es drückte Überraschung aus. Er untersuchte noch eine Weile die Fensterriegel und das Windrad, welches sich in einer der obersten Scheiben befand, dann stieg er behend nieder, weit flinker, als es sein Embonpoint hätte erwarten lassen.
 
Frau Therese kehrte rasch in das Haus zurück. Sie kam eben dazu, wie er das Arbeitszimmer ihres Herrn verließ.
 
„Es hat mich doch niemand als Sie beobachtet?“ sagte er gleichmütig.
 
Sie errötete. Er hatte sie also unten stehen sehen!
 
„Ich wollte nur . . . Ich meinte . . .“ stammelte sie.
 
Er aber unterbrach sie freundlich: „Sie sind eine treue Dienerin, und Sie haben mir nicht völlig vertraut; deshalb brauchen Sie sich nicht zu entschuldigen. Und nun sagen Sie mir noch eins. Wann war Ihr Herr zum letztenmal in Wien?“
 
„Mitte September.“
 
„Hat er da irgendwelche Seltenheiten mitgebracht?“
 
„Das weiß ich nicht. Und auch Herr Rudolf hat wohl nichts gesehen, sonst wäre doch, wie sonst immer, davon gesprochen worden. Der Herr hat es uns übrigens auch nicht immer gesagt, wenn er Einkäufe machte, vielleicht genierte es ihn, es zuzugeben, daß er für seine Liebhabereien so viel Geld opferte.“
 
Herr Schmid nickte verständnisvoll und meinte: „Das kommt wohl vor.“
 
„O ja“, sagte sie lebhaft. „Zuweilen fanden wir irgendwo im Hause plötzlich früher noch nicht dagewesene Gegenstände, einen Helm, eine Uhr, eine Dose, die er heimlich in seine Sammlung eingereiht hatte.“
 
„So – und was liebte er am meisten?“
 
„Uhren oder mechanische Spielereien. Er dachte immer daran, etwas zu erfinden.“
 
Herr Schmid sann eine Weile nach, dann griff er nach seinem Hut und sagte: „Übermorgen komme ich wieder, nicht vor halb zehn Uhr nachts.“
 
„Weiß Herr Rudolf davon?“
 
„Sie werden es ihm sagen. Er wird nichts dagegen haben, denn er hat mir ja das Haus zur Verfügung gestellt. Jetzt habe ich ihm doch nichts Wichtiges zu sagen; auch scheint er mir noch sehr krank, daher will ich ihn heute nicht mehr stören.“
 
Herr Schmid verbeugte sich kurz und verließ rasch das Haus. Therese vermochte ihm kaum zu folgen.
 
Sie bemerkte, daß er, ehe er auf die Straße hinaustrat, scharf hinaushorchte und den Weg hinauf und hinunter schaute, ehe er das Vorgärtchen verließ.
 
Er wollte offenbar nicht gesehen werden.
 
„Nein, es ist niemand da!“ murmelte er endlich, dann trat er rasch hinaus.
 
In der nächsten Sekunde schon war er verschwunden. Es war, um mit dem wackeren Peter Klaus zu reden, als ob ihn der Erdboden verschlungen hätte.
 
Er hatte nichts als ein Stückchen Papier aus dem Wernerschen Hause mitgenommen, dasselbe weiße Stückchen Papier, in das die Drahtspule gewickelt gewesen.
 
Es war das letzte Blatt eines Briefes.
 
Seine eine Seite zeigte sich leer, auf der anderen standen nur wenige Schlußzeilen:
 
„. . . größte Seltenheit. Also sehen Sie sich die Dinger an.
 
Hochachtungsvoll
 
R. Ackermann
Wien, am 9.9.  . . .“
 
 
Das stand auf dem zerknitterten Zettel, den Herr Schmid, ehe er das Zimmer verließ, sorgfältig in sein Notizbuch legte.
 
„Am neunten September“, murmelte er und setzte gedankenvoll hinzu: „Und am zehnten Oktober hat man Herrn Werner ermordet gefunden.“
 
Das „Übermorgen“ war zum „Heute“ geworden.
 
Man hatte im Hause des Ermordeten bis dahin nichts von dem blonden, dicken Herrn gesehen, der so behend vom Fenster geglitten war und dessen dunkle Augenbrauen so seltsam von seinem hellen Kopfhaar abstachen.
 
 Herr Rudolf befand sich in wachsender Aufregung.
 
Therese fand, seit der Fremde dagewesen, nirgends Rast noch Ruhe. Palm, der nichts gehört und nichts verstanden, arbeitete ruhig weiter, nur einmal fand ihn Frau Therese sinnend über den Rechen gelehnt, mit dem er das welke Laub zusammenscharrte.
 
„Woran denken Sie?“ rief sie ihm ins Ohr.
 
Er fuhr auf. „Wird’s denn niemals entdeckt werden?“ sagte er dann schier ungeduldig. Sie wußte wohl, was er meinte. Lag es doch auch ihr wie ein Druck auf der Seele, daß der Mörder noch immer nicht entdeckt war. Die Polizei forschte freilich noch immer gewissenhaft nach dem Täter, aber sie hatte bisher nichts gefunden, und inzwischen flüsterten sich die lieben Nachbarn allerlei Gerüchte zu von gierigen Erben und untreuen Dienern und häuslichen Verbrechen.
 
Es war nur gut, daß der überspannte junge Mensch nichts davon wußte. Palm und sie, so dachte Frau Therese in ihrer ehernen Rechtschaffenheit, konnten den ebenso fürchterlichen wie albernen Klatsch ertragen.
 
Sie hatte nun Palm leider nicht mit Herrn Schmid trösten können – sie aber setzte in diesen das vollste Vertrauen. Sein Ehrgeiz trieb ihn, in dieses Geheimnis einzudringen – gut, es war ja gleichgültig, was ihn trieb, wenn er nur Erfolg hatte; dann wurde es wieder licht in diesem Hause, so licht wenigstens, als es in Räumen wieder werden kann, in denen so Gräßliches vorgegangen ist.
 
Palm war bereits zur Ruhe gegangen. An Rudolfs Lager stand die treue Alte.
 
Beide lauschten in die Nacht hinaus. Da schlug es laut zehn Uhr.
 
In demselben Augenblick klingelte es unten.
 
„Er kommt“, sagte auch die alte Frau, und beide erbebten.
 
Eine Minute später führte sie Herrn Schmid an Rudolfs Lager. Herr Schmid sah heiter aus, aber auch müde, sehr müde.
 
„Haben Sie letzthin etwas entdecken können?“ fragte Rudolf.
 
„So wenig, daß es nicht der Mühe wert war, es zu berichten. Auch wollte ich Sie nicht stören. Sie sahen so leidend aus, als ich ging. Nun habe ich aber eine Frage. Besaß Ihr Herr Onkel in allerletzter Zeit eine kleine Standuhr, das Gehäuse aus Messing und Elfenbein gefertigt?“
 
„Ich kann mich nicht entsinnen, eine solche Uhr jemals gesehen zu haben“, erwiderte kopfschüttelnd der junge Mann.
 
„Die Uhr hat die Form einer Kapelle.“
 
„Haben Sie eine derartige Uhr jemals im Besitz meines Onkels gesehen?“ wendete sich Rudolf an die aufmerksam hinhorchende Wirtschafterin.
 
„Nein“, sagte sie fest.
 
„Wie gesagt, die Uhr könnte erst seit – nun, sagen wir, seit dem zwölften September im Besitz des Verstorbenen gewesen sein“, wiederholte Herr Schmid.
 
„Immerhin möglich. Er war uns ja über seine Einkäufe keine Rechenschaft schuldig“, meinte Rudolf. Ähneliches hatte auch die alte Frau schon gesagt. Das fiel Herrn Schmid auf, aber er begriff des alten Mannes Schwäche und fand durchaus nichts Verwunderliches daran. Nun wendete sich Rudolf an Therese.
 
„Wenn Herr Schmid es für nötig findet, sperren Sie ihm jeden der Kästen auf.“
 
„Ich finde es für nötig.“
 
„Sie glauben . . .“
 
„Ich glaube nicht mehr – ich . . . doch gleichviel, es handelt sich doch um Beweise. Bitte, werte Frau, kommen Sie.“
 
Der Kranke sah ihnen ungeduldig nach. Es tat ihm bitter weh, daß er so tatenlos hier liegen mußte.
 
„Palm schläft?“ fragte Herr Schmid, als sie draußen standen.
 
„Er schläft.“
 
„Gibt es im Garten unten eine Leiter?“
 
„Ja.“
 
„Bitte, zeigen Sie sie mir.“
 
Sie gingen in den Garten.
 
Sie brauchten keine Laterne mitzunehmen, denn der Mond war bereits über die Baumwipfel gestiegen und beleuchtete die schmalen Wege.
 
„Hier ist sie“, sagte Therese, als man vor der Leiter stand.
 
Sie hing waagerecht auf zwei Haken, welche in den Zaun geschlagen waren, der den Wernerschen Garten von dem nachbarlichen Besitz trennte.
 
„Haben Sie nur diese eine Leiter?“ fragte Herr Schmid.
 
„Im Schuppen drüben ist noch eine, eine kürzere.“
 
„Helfen Sie mir, einstweilen diese zum Haus zu bringen“, sagte er, nachdem er sie mit den Blicken gemessen.
 
Sie staunte nicht mehr. Sie tat schweigend, was er begehrte.
 
„Ah“, machte er, als sie die Leiter abhoben, „die ist aber leicht!“
 
Ja, sie war leicht, viel leichter, als sie aussah, es konnte sie recht gut ein einzelner Mensch tragen.
 
Er trug sie auch allein, nachdem er seiner Führerin gedankt, bis an das Haus. Er hatte wohl früher, ehe er die Leiter von ihrem Aufbewahrungsort genommen, sie selber und alles, was sich in ihrer Nähe befand, genau betrachtet – aber er hatte nichts entdecken können. was darauf schließen ließ, daß sie in jener Mordnacht benutzt worden sei.
 
Das war nichts weniger als verwunderlich, war doch ein Monat seither verstrichen, und Regen und Stürme – wie solche seither stattgefunden -, die verwischen jede Spur.
 
Schmid machte sich darüber keine Gedanken, ihm schien es genug zu sein, daß die Leiter wie eigens dazu angepaßt bis über das erste Stockwerk reichte und daß sie fest und sicher anzulegen war, weil ihre unteren, spitzigen, eisenbeschlagenen Enden sich zwischen die Fugen des Trottoirs, welches das ganze Haus umgab, zwängten.
 
Dicht neben dem Fenster des Arbeitszimmers legte er die Leiter an. Sie endete ein wenig oberhalb des Windrades, welches in der obersten rechten Scheibe angebracht war.
 
„Stimmt“, sagte Herr Schmid ruhig und setzte hinzu: „Und nun die andere Leiter.“
 
Man holte die andere Leiter. Sie reichte nur knapp bis unter das Fenster. Auch sie fand mit ihren eisenbeschlagenen Spitzen sofort einen festen Standpunkt.
 
„Stimmt!“, sagte abermals Herr Schmid, und dann wendete er sich zu der nun doch ein wenig verwundert dreinschauenden Therese.
 
„Pflegte Ihr Herr die inneren Fenster offenzulassen?“ fragte er, und die Frau antwortete lebhaft: „Ja, denn nur im äußeren befindet sich das Windrad, und er bedurfte stets ein wenig frischer Luft sowie ein wenig Licht; deshalb wurden die inneren Fenster sowie der Holzladen stets nur zur Hälfte angelehnt.“
 
„Sie sind auch heute nur angelehnt?“ fragte Herr Schmid, nachdem er vergeblich hinter die im Mondlicht blitzenden Scheiben zu schauen versucht.
 
„Sie sind so, wie Sie, mein Herr, dieselben gelassen haben. Ich betrat das Zimmer seither nicht mehr.“
 
„Gut. Jetzt aber müssen Sie mir den Gefallen tun, es zu betreten, und zwar ohne Licht.“
 
Die Frau zögerte.
 

„Sie fürchten sich?“ fragte er mit leichtem Spott und setzte dann freundlich fort: „Es gilt, einen Nachweis zu liefern, der uns viel, sehr viel verraten kann.“
 
„Ich gehe“, entgegnete die Frau, und – sie ging.
 
Um in das Arbeitszimmer ihres Herrn gelangen zu können, mußte sie aus ihrem eigenen die Schlüssel zu jenem holen. Sie tat es, dann ging sie zögernd über den Gang. Er war voll bläulichen Lichts, das durch seine vielen Fenster fiel, und voll schwarzer Schatten, welche die Mauerpfeiler warfen, und dazu glitzerten die Schuppen an den Rüstungen und die Glasaugen in den Köpfen der ausgestopften Vögel.
 
Es wurde Frau Therese recht schauerlich zumute, aber im Grunde war sie doch eine mutige Frau – sie drängte also das unheimliche Gefühl, das sie beschlich, zurück, ging rasch um die Gangecke, trat auf die Tür zu und steckte den Schlüssel in das Schloß, und dann – dann stand sie zitternd und lauschend still. Im Zimmer drinnen ging einer.
 
„Nun, kommen Sie doch!“ sagte nach einer Weile Herrn Schmids Stimme, und da faßte sie sich. Natürlich! Der Detektiv war es, der mittels der Leitern in das Zimmer gestiegen. Aber, sie hatte keine Scheibe klirren hören. Wie war er durch das geschlossene Fenster gekommen?
 
Das fuhr ihr blitzschnell durch den Sinn; da sgte Schmid noch einmal: „Kommen Sie herein“, und nun kam sie.
 
Er stand jetzt mitten im Zimmer, und er sah zufrieden, recht zufrieden und sonderbar – er sah ganz anders aus als früher. Das mußten die Augen machen, die leuchtenden nachtschwarzen Augen, die so fremd in seinem hellen Gesicht standen und deren Feuer wohl zu seiner Lebhaftigkeit, nicht aber zu seinem Äußeren paßten. Die Brille trug er in der Hand; sie war zerbrochen.
 
„Wie sind Sie denn durch das unzerbrochene, geschlossene Fenster gekommen?“ fragte sie, ihn scheu betrachtend.
 
„Genau so – wie der Mörder“, sagte er, „mehr kann ich Ihnen jetzt nicht sagen.“
 
„Er ist also durch dieses Fenster gekommen?“
 
„Gekommen und gegangen.“
 
Die Frau sah schaudernd auf das Fenster; dann trat sie auf den Geheimpolizisten zu und ergriff seine Hand; es war eine hagere, blasse, feine Hand; auch sie paßte nicht zu dem ältlichen dicken Herrn.
 
„Sie sind ein anderer, als Sie scheinen wollen, aber Sie haben sich ja ausgewiesen, und wir vertrauen Ihnen – denn Sie werden Licht in dieses Dunkel bringen. Nun aber frage ich Sie, der Sie schon so vieles wissen – was sollte der Mord, dieser unbegreifliche Mord, an unserem guten alten Herrn?“
 
„Es war ein Raubmord!“ sagte Herr Schmid ernst und sehr ruhig.
 
„Ein Raubmord!“ schrie sie. „Ein Raubmord?“ setzte sie ungläubig hinzu. „Aber es fehlt ja nichts!“
 
„So glaubt man!“ entgegnete ebenso ruhig als vorher Herr Schmid.
 
Er schob der zitternden Frau einen Stuhl hin.
 
Sie boten ein seltsames Bild, die alte Frau und der Mann, wie sie hier, vom grellen Mondlicht beleuchtet, nebeneinander weilten.
 
„Darf ich Sie noch um eines bitten?“ fragte er, nachdem er wahrgenommen, daß sie sich gefaßt hatte.
 
„Um was Sie wollen“, entgegnete sie, sich vom Stuhl erhebend.
 
„Gehen Sie nun vor die Tür, und wenn Sie mich rufen hören, schauen Sie durch das Schlüsselloch . . .“
 
„Wie damals!“ meinte sie zögernd.
 
„Wie damals!“ Er lächelte und setzte hinzu: „Ich werde gleich bei ihnen sein.“
 
Sie ging hinaus; sie wartete auf seinen Ruf. „Jetzt, jetzt!“ rief er; da legte sie ihr Auge gehorsam an das Schlüsselloch und sah – von einer unheimlichen Empfindung beschlichen – denselben Schatten, den sie in jener Nacht gesehen, über das Bildnis ihres toten Herrn gleiten.
 
Wie damals schaute es blaß und wehevoll herunter, wenn der Schatten schwand, und war wie weggelöscht, wenn der seltsame, gleichmäßig kommende und gehende Schatten es verhüllte.
 
Die Frau zitterte, aber sie wagte nicht, ihren Lauscherposten zu verlassen, ehe ihr der Befehl dazu gegeben wurde.
 
Und immer, immer wieder tauchte der Schatten drinnen auf! Da legte sich eine Hand auf Thereses Schulter. Sie zuckte zusammen. Ein leiser Schrei entfuhr ihren Lippen.
 
„Woran denken Sie denn?“ fragte ruhig Herrn Schmids Stimme. Da strich sie sich, als ob sie erwachte, über das verwirrte Gesicht."
 
„Sie – Sie sind es!“ flüsterte sie mit einem schwachen Lächeln. Auch er lächelte. Wer sonst? will er fragen, aber er verschluckt den Spott und sagt nur: „Und nun treten wir ein.“
 
Sie treten ein. Das Fenster ist verschlossen, ist unbeschädigt, der halbe innere Fensterflügel ist zugelehnt, der zusammenlegbare Holzladen verhüllt zur Hälfte das Fenster. Die Lampe aber, welche dicht daneben von der Decke niederhängt, pendelt noch immer langsam hin und her, und das Gesicht des Gemordeten lächelt auf dem Bilde einmal verzerrt im blassen Mondlicht, um dann zu verschwinden und wieder zu erscheinen. Herr Schmid aber, der noch vorhin im Zimmer gewesen und es durch die Tür nicht verlassen hatte, trat eben durch die Tür ein.
 
„Ganz so haben wir das Fenster gefunden“, murmelte die alte Frau, „und der Schatten, der Schatten – er kam also von der Lampe?“
 
„So ist’s. Als der Mörder durch das Fenster floh, bewegte er den Holzladen ungeschickt und stieß an die Lampe; daher der regelmäßig kommende und verschwindende Schatten, von dem Sie mir erzählten. Damals schon wußte ich, daß dies der Weg war, den der Verbrecher gewählt, mit großem Geschick gewählt.“

„Aber wie – wie nur war es ihm möglich, das Fenster wieder zu schließen?“ verwunderte sich Therese.
 
„Das will ich Ihnen gelegentlich einmal zeigen“, entgegnete Herr Schmid, „einstweilen sollen Sie wissen, daß der Mord um halb elf Uhr geschehen ist.“
 
„Wer sagt Ihnen das?“
 
„Der Mond und die Richtung des Schattens, den die von ihm beleuchtete Lampe wirft. Vor einer Viertelstunde und nach einer Viertelstunde hätte ihr Schatten nicht das Bild getroffen, das ist . . .“




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