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Geschichten Auguste Groner
Der Brief aus dem Jenseits

Der seltsame Schatten


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Der seltsame Schatten
- Seite 5-

„Freilich bin ich fremd hier und in ganz Wien fremd; aber ich will hierherziehen, und zwar gefällt mir eben diese stille Gasse sehr gut, und da möchte ich Sie beide gleich fragen, was das für eine Wohnung ist, die hier nebenan zu vermieten ist.“
 
„Ja, in unserer Gasse sind mehrere Wohnungen angeschlagen“, meinte freundlich der Kellner, der in dem wohlgenährten Herrn schon einen künftigen Gast und Trinkgeldspender sah.
 
„Die meine ich, in dem Hause mit dem Uhrmacherladen.“
 
„Ach, das ist unser Haus!“ rief der Mann mit der Schürze, der auch lebendig wurde. „Ja, das ist eine hübsche Wohnung, und billig ist die auch. Zwei Zimmer und Küche . . .“
 
„Und wieviel Miete?“ unterbrach ihn Holzer.
 
„Das weiß ich nicht genau.“
„Ah, ich dachte, Sie seien der Hausherr.“
 
Der Alte spreizte sich; es tat ihm sichtlich wohl, daß er einmal, wenn auch nur vorübergehend, für einen Hausbesitzer gehalten worden war.
 
„Nein“, sagte er, „nein, der Besitzer bin ich nicht, ich bin nur der Zimmerherr von der Hausmeisterin.“
 
„Könnte ich die Wohnung sehen?“
 
„O freilich. Ich werd’ mir gleich selber die Ehr’ geb’n.“
 
Damit erhob er sich voll Eifer, aber Holzer meinte, daß er keine so gar große Eile habe, er möchte überhaupt ehe er in ein Haus ziehe, wissen, was für Leute die da schon wohnenden Parteien seien.
 
„Na, da werden Sie zufrieden sein“, entgegnete der Alte. Es wohnt jetzt niemand da als der Hausherr, der Uhrmacher und die Hausmeisterin mit ihrer Tochter. Sie wären außerm Herrn Staining die einzige Partei.“
 
„Und wie ist dieser Herr Staining?“
 
„Na, ein zuwiderer Mensch ist er schon, aber er läßt sich ja fast niemals außerhalb seiner Wohnung und seines Ladens blicken.“
 
„Nur zu uns kommt er täglich einmal. Zu Mittag oder abends, aber auch nur auf eine Viertelstunde“, fügte der Kellner hinzu.
 
„Staining – Staining, der Name kommt mir so bekannt vor“, warf jetzt Holzer, anscheinend grübelnd, hin. „Ist er nicht aus O. gebürtig?“
 
„Schon möglich. Seine Frau hat einmal so etwas dergleichen geredet.“
 
„Und mir scheint, ich hab ihn im Oktober erst in O. gesehen. Er ist ein großer, kränklich aussehender Mensch.“
 
„Das ist er. Und es ist schon möglich, daß er damals in O. war. Am neunten Oktober, an meinem Namenstag, ist er zu Mittag weggereist. Er ist aber am nächsten Tag um zehn Uhr vormittags schon wieder zu Hause gewesen.“
 
„Wieso wissen Sie denn das so genau?“ fragte Holzer äußerlich lächelnd, innerlich aufs höchste gespannt.
 
„Weil ich ihm gleich ein Heftpflaster habe holen müssen, und da ist eben die Kathi von der Hausmeisterin aus der Segenmesse gekommen.“
 
„Er ist also am neunten Oktober gegen Mittag wieder hier eingetroffen. – Hat er Gepäck bei sich gehabt?“
 
„Eine kleine Reisetasche.“
 
„Wo war er denn verletzt?“
 
„An der rechten Hand.“
 
„War die Wunde groß?“
 
„O nein, es hat ausgesehen, als ob ihn einer gekratzt hätte.“
 
Die harmlose Unterredung der Männer war unmerklich zum Verhör geworden. Holzer leitete sie, ehe das noch auffällig wurde, wieder in ihre früheren Grenzen zurück.
 
„Der Herr Staining ist also gerade kein angenehmer Nachbar.“
 
„Nein, Aber er tut auch niemandem etwas.“
 
Josef Holzer hatte darüber andere Ansichten, aber er widersprach nicht.
 
„Leidet er denn noch immer an Krämpfen?“
 
„Sie wissen das?“
 
„Ich setze voraus, daß er derselbe Staining ist, den ich flüchtig von O. her kenne.“
 
„Ja, meinte nun der ältliche Mann, „er ist durch und durch krank, das macht ihn wohl auch so menschenscheu.“
 
„Kann er denn da allein Leben? Braucht er denn keine Pflege?“
 
„Er will niemanden um sich haben, seit sich seine Frau von ihm getrennt hat.“
 
„Was tut er denn den ganzen Tag?“
 
Der Alte fuhr sich durch die Haare, er wußte offenbar nicht, was Staining den ganzen Tag tat.
 
„Er studiert und erfindet etwas“, sagte er endlich.
 
„Was erfindet er denn?“
 
„Ich glaube, er studiert darüber, eine Uhr zu machen, die alles zeigt.“ Weiteres war aus dem braven Mann nicht herauszubringen; er war sich nicht ganz klar darüber, was Stainings zu erfindende Uhr alles zeigen sollte.
 
Josef Holzer wußte nun auch genug. Er bezahlte für sich und für den Alten und gab dem Kellner überdies ein reichliches Trinkgeld. Dann erhob er sich und fragte: „Ist Herr Staining zu Hause?“
 
Der Alte bejahte, Holzer ging. Er sprach noch einige Worte zu dem Alten. Eine Minute später stand er in dem Laden des Uhrmachers. Ein dünnstimmiges Glöcklein kündigte sein Kommen an, der Laden war leer, fast im buchstäblichen Sinne des Wortes leer; denn in dem kleinen Auslagekasten, welcher hinter dem Verkaufstisch stand, befanden sich, wie draußen, nur wenige Uhren.
 
Ein kleiner Werktisch, mit ungebrauchten Instrumenten und mit Staub bedeckt, ein Sessel, ein verwetzter Spiegel, das war alles, was man hier sehen konnte. Und jetzt, jetzt ließ sich ein schlurfender Tritt hören. Die Tür zur Wohnung des Uhrmachers öffnete sich. Ludwig Staining stand auf der Schwelle.
 
Er war ein langer, magerer Mensch von etwa dreißig Jahren. Er sah gelb und welk aus, und nichts von Jugend oder Jugendlichkeit zeigte sich in seinen müden Bewegungen, in seinem fahlen, fortwährend zuckenden Antlitz. Das Häßlichste, nervöse Leute hätten gesagt: „das Entsetzlichste“ in seinem trotz aller Unruhe starren Gesicht waren die Augen; diese Augen mit dem blaugrauen Schein, mit dem gläsernen Blick eines Toten.
 
„Seine Frau hat es nicht mehr ausgehalten neben ihm.“ So etwa hatte Herr Ackermann gesagt. Holzer begriff das nach dem ersten Blick, den er auf  Staining geworfen. Holzer hatte einmal von Vampiren gelesen; er meinte jetzt, solch einen vor sich zu haben.
 
„Was wollen Sie?“ fragte Staining kurz, fast grob. Er hatte eine kleine Feile in der Hand – er war offenbar in einer Arbeit gestört worden. Er trug die Feile in der rechten Hand, deren Rücken zufällig hell beleuchtet war.
 
Holzer sah vier blaßrote Linien auf diesem gelblichen, sehnigen Handrücken. Es konnten die Spuren von Fingernägeln sein, die in wilder Abwehr diese Hand gestreift hatten.
 
„Ich habe gehört, daß Sie sich sehr gut darauf verständen, Uhren zu reparieren“, begann Holzer.
 
Staining sah verdrießlich aus.
 
„Es ist eine uralte Spindeluhr, französische Arbeit, ein Erbstück, das ich instand gesetzt haben möchte“, beeilte sich Holzer hinzuzusetzen, und da wurde Staining aufmerksam.
 
„Haben Sie die Uhr hier?“
 
Wie seine Augen zu glimmen begannen! Wie lebhaft er nun plötzlich war!
 
„Nein. Ich müßte sie Ihnen erst bringen. Aber wer garantiert mir dafür, daß Sie das seltene Werk auch richtig behandeln werden. Haben Sie denn derlei schon unter den Händen gehabt?“
 
Staining lächelte hochmütig.
 
„Kommen Sie!“ sagte er kurz und trat in das Zimmer zurück. Holzer folgte ihm. Er folgte ihm sogar sehr rasch und konnte eben noch sehen, daß Staining plötzlich zögerte, um dann rasch einige Schritte nach einer alten Kommode hin zu tun, auf welcher allerlei Gerümpel stand und lag.
 
Einen Augenblick lang blitzte es unter all dem, was darauf zu sehen war, vor Holzers Augen auf: wie Gold? Wie Messing? – Eines war sicher, ein längliches Ding mit  allerlei Türmchen und Spitzen war es, darauf jetzt ein buntes Sacktusch lag, das Staining darübergeworfen.
 
Holzers Herz klopfte stürmisch. Dieses freundliche Hinterzimmer barg, er war jetzt schon fest davon überzeugt, die geheimnisvolle Ursache des Mordes zu O.
 
„Sehen Sie nun, daß ich wohl fähig bin, jedes Uhrwerk zu erkennen, also auch zu reparieren“, sagte Staining. Holzer nickte und besichtigte mit gutgespieltem Interesse den Inhalt der schmalen, flachen Lade, welche Staining ein wenig hastig aus einem Schränkchen gezogen hatte. Es waren an zwanzig Taschenuhren von den verschiedensten Größen und Formen, aber alle altertümlich, und jede von ihnen mußte eine Geschichte haben, denn unter jeder lag ein Zettel, darauf mit enger, winziger Schrift vieles verzeichnet war.
„Das ist eine wertvolle Sammlung“, beteuerte mit stolzem, ja glücklichem Lächeln ihr Besitzer, „und ich habe sie wahrlich nicht allein deshalb mit schweren Opfern erworben, um sie zu besitzen. Sie können mir Ihre Uhr ohne Sorge anvertrauen.“
 
„Das werde ich auch“, entgegnete Holzer, sich zu dem Tisch wendend, den Staining sicherlich eben vorher erst verlassen, denn er hatte auf ihm die Feile niedergelegt, als sie hereingekommen waren. „Sie sind ja schier ein Gelehrter!“ sagte Holzer in bewunderungsvollem Tone. „Sind das lauter Werke über die Uhrmacherkunst?“
 
Er zeigte bei diesen Worten auf die Stöße Bücher, welche auf und neben dem Tisch lagen.
 
Staining fühlte sich geschmeichelt und fing über seine Kunst zu reden an, schwülstig, erregt, unklar – kurz, wie einer, der über einer Liebhaberei, die zur alles verzehrenden Leidenschaft geworden, ein wenig überschnappte.
 
Und während er deklamierte und von Erfindungen, die er zu machen gedachte, faselte – beugte sich Holzer, scheinbar ihm zuhörend, in Wahrheit keines seiner Worte beachtend, über einen alten Folianten, welcher aufgeschlagen auf dem Tisch lag und auf welchem, um die Seiten niederzuhalten, eine kleine, schwere Platte lag.
 

Die eine der aufgeschlagenen Seiten des Buches zeigte eine gewaltige große Überschrift und ein Porträt, das einen alten Mann in der Tracht einer vergangenen Zeit vorstellte, und darunter stand in verschnörkelter Schrift: Peter Hele.
 
Mehr las Holzer nicht, seine Augen hingen wie gebannt auf der runden Messingplatte, welche als Beschwerer auf dem Buch lag.
 
Es war eine Art Zifferblatt, und an ihrem Rande befanden sich die zwölf Gestalten des Tierkreises; sie waren in Elfenbein ausgelegt.
 
Alles Blut drang Holzer zu Kopf. Er erhob sich und strich mit der Hand über sein glühendes Gesicht.
 
„Sie sehen, ich darf mich gar nicht bücken“, sagte er ärgerlich lächelnd zu dem Uhrmacher.
 
Und da lächelte auch dieser.
 
„Ja, bei solcher Fülle!“ sagte er.
 
Holzer griff nach seinem Hut.
 
„Sie bringen mir doch die Uhr? Sie kommen doch wieder?“ fragte Staining fast gierig.
 
„Gewiß komme ich wieder“, ward ihm erwidert, und dann ging Holzer.
 
Er ging direkt zur Bahn. Der Mittagszug mußte bald abgehen. Im Bahnhof angekommen, sah Holzer im Verzeichnis der Züge nach. Es zeigte sich, daß Staining damals nur einen der zwei Nachtzüge benutzt haben konnte, die zwischen O. und Wien verkehrten. Den Kurierzug, welcher gegen zehn Uhr nachts O. passierte, oder den Postzug, welcher um zwei Uhr nachts von O. abging.
 
„Jetzt handelt es sich nur noch um die Stunde, in welcher der Mord begangen wurde“, sagte Holzer zu sich.
 
Das dritte Läuten erscholl. Der ehemalige Sträfling stieg mit großer Ruhe ein. Zwei Stunden später verließ er den Zug in der letzten Station vor O., aß daselbst mit großem Appetit und schlenderte dann gemächlich seinem Ziel zu. Er betrat lange nicht mehr so vorsichtig wie bei seinem ersten Besuch des Wernerschen Hauses, sonst hätte er den Vertrauensmann des Gefangenhaus-Aufsehers gewahren müssen, der schon seit Eintritt der Dunkelheit sich in demselben Hausportal verborgen hielt, hinter welchem er am Abend zuvor Deckung gefunden.
 
Kaum war Holzer in den Wernerschen Garten eingelassen worden, und kaum war er mit Frau Therese im Hause verschwunden, so eilte der Lauscher beflügelten Schrittes der Stadt zu.
 
Und bald drauf, wir wissen es ja schon, wurde Herr Schmid – als Josef Holzer – gefangengenommen.

******
 
Zwölf Stunden später trat Peter Klaus in die Zelle, darin schon mancher Untersuchungsgefangene seiner Vernehmung mit Angst entgegengesehen hatte.
 
Wie gestern grüße er Holzer voll Respekt.
 
„Nun?“ fragte dieser.
 
Er lag, halb ausgekleidet, sichtlich eben erst erwacht, auf der Pritsche.
 
„Ich soll Sie zum Herrn Oberkommissar führen.“
 
Holzer erhob sich und begann seine Toilette.
 
Peter Klaus machte sich, beinahe mit der Dienstwilligkeit eines Kammerdieners, um ihn zu schaffen.
 
Er war sehr verlegen und – sehr neugierig.
 
„Wie – wie sind Sie denn auf die Idee gekommen?“ platzte er endlich heraus.
 
„Auf welche Idee?“
 
„Geheimpolizistendienst zu tun.“
 
„Ich wollte nicht an den Galgen kommen.“
 
„Sie sind ja unschuldig!“
 
„Ja. Aber wer hätte es mir geglaubt! Sie nicht und kein anderer.“
 
„Ihr Alibi . . .“
 
„Ich schlief in jener Nacht friedlich im Mühlgraben; aber ich habe keinen Zeugen dafür.“
 
„Ja freilich, und Ihr Racheschwur . . .“
 
„Den Sie ausplauderten . . .“
 
„Es ist schrecklich, wie leicht einer in die Tinte . . .“
 
„ . . . und an den Galgen kommen kann.“
 
„Sind Sie sehr böse auf mich?“
 
„Gar nicht. Sie haben Ihre Pflicht getan. Aber weniger schlecht sollten Sie doch von den Menschen denken.“
 
„Von den Menschen – ja, aber . . .“
 
„Auch Sträflinge sind Menschen, Menschen, die sich zuweilen mit aller Gewalt bessern wollen, aber man stößt sie mit aller Gewalt zum Verbrechen zurück.“
 
„Bei Gott“ Es ist so. Und ich – ich habe viel dazu beigetragen, so manchen von denen, die ich unter mir hatte, noch mehr zu verbittern, zu verhärten.“
 
„Tut’s Ihnen leid?“
 
„Es tut mir leid.“
 
„Dann ist’s ja recht, denn Sie sind kein Mann der Worte, Sie sind ein Mann der Tat.“
 
„Es denken eben fast alle so wie ich“, meinte zu seiner Entschuldigung Peter Klaus.
 
Holzer lächelte bitter: „Fast alle? – Oh, sagen Sie frischweg: alle. In drei Wochen habe ich sieben Herren gehabt. Jeder hat mich fortgeschickt. Nicht, weil ich schlechter oder weniger arbeitete als die anderen. O nein! Es hat mir keiner etwas anderes nachsagen können, als daß ich ein entlassener Sträfling sei. Und der letzte, der hat mich gar mit den Hunden aus dem Hause gehetzt. Das war in jener Nacht. Damals hat wohl nicht viel gefehlt, und ich hätte den Nächstbesten getötet – denn alle, alle waren ja meine Feinde. Denn keiner wollte es mir möglich machen, ein ehrlicher Mensch zu bleiben.“
 
„Jetzt aber – ah -, das will Ihnen der Herr Oberpolizeikommissar sagen.“ Der Alte schien verlegen.
 
Holzer sah Peter Klaus, den er heute zum erstenmal als gemütlichen Menschen kennenlernte, nicht sehr verwundert an; er lächelte nur froh und atmete tief auf; er konnte sich’s ja beiläufig denken, was ihm der Oberpolizeikommissar zu sagen hatte.
 
„Kommen Sie. Ich bin fertig“, sagte er.
 
Sie gingen. Ihm freundlich zuwinkend, erwiderte der streng aussehende alte Herr Josef Holzers tiefe Verbeugung.
 
Klaus zog sich zurück.
 
Die beiden waren allein.
 
„Alle Ihre Angaben haben sich als wahr erwiesen, und daher tut es mir leid, daß Sie diese paar Stunden noch Gefangener waren.“
 
„Oh – bitte!“
 
„Setzen Sie sich doch, lieber Holzer“, fuhr der alte Herr fort. In diesem Augenblick färbte sich des einstigen Sträflings Gesicht dunkelrot.
 
Ein unsägliches Glückgsgefühl überkam ihn – es war ihm, als sei eine Bergelast von seiner Seele genommen, als seien erst jetzt die Ketten, die er dereinst getragen, gesprengt worden.
 
„Vor allem anderen habe ich Ihnen zu sagen, daß ich ermächtigt, ja aufgefordert bin, Sie als Geheimpolizisten für unsere Residenzstadt aufzunehmen. Sind Sie damit zufrieden?“
 
„Es ist ja . . .“ Holzer wollte sagen: Es ist ja der einzige Lebensweg, der mir bleibt, aber er vollendete den begonnenen Satz anders: „s ist ja das größte Glück für mich“, sagte er freudig.
 
„Und dann hätte ich eine private Frage an Sie“, fuhr zögernd und angelegentlich in seinen Akten blätternd der alte Herr fort. „Was hat Sie zuerst auf die Vermutung gebracht, daß der Mörder durch das Fenster des Arbeitszimmers gekommen ist?“
 
„Der Schatten, den die Frau durchs Schlüsselloch gesehen, welcher Umstand ihr erst einfiel, als ich sie ausfragte. Ich wußte da sofort, daß die Lampe ihn geworfen haben mußte, die der Täter bewegte, als er bei seiner Flucht den Fensterladen unvorsichtig zuzog.“


Der Oberpolizeikommissar nickte gedankenvoll, und nach einer Weile stellte er noch eine Frage.
 
„Wo – wo haben Sie sich denn eigentlich vom zehnten Oktober bis gestern aufgehalten?“
 
Der alte, gewiegte Polizeibeamte errötete bei dieser Frage.
 
Und Holzer? Nun, Holzer konnte diesmal ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken.
 
„Ich habe in dem verlassenen Gärtnerhaus gewohnt, welches sich neben dem Wernerschen Besitz in einem Garten befindet“, sagte er achtungsvoll.
 
„Derselbe Garten hat dazu gedient, Sie zu beobachten“, meinte verlegen der alte Herr.
 
„Ich weiß es, Klaus und andere haben viele Stunden darin verbracht.“
 
„Und wo verproviantierten Sie sich?“
 
„Ich . . . Herr Polizeikommissar, Sie verzeihen schon, ich aß zu Mittag und Abend neben Ihnen – im >Goldenen Lamm<“.
 
Der alte Herr war aufgesprungen.
 
„Sie – Sie waren der fremde, große Herr, der sich für einen Pensionisten ausgab, welcher sich hier ankaufen wolle?“ rief er und wich vor Staunen einen Schritt zurück.
 
Auch Holzer hatte sich erhoben.
 
„Der war ich. Ich mußte doch womöglich jedes Wort auffangen, das mir zu einer Spur des Mörders verhelfen konnte. Es handelte sich um mein Leben, um meine Freiheit.“
 
„Ihnen also, den man in der ganzen Stadt, in der ganzen Umgebung suchte, habe ich täglich die Hand gedrückt!“
 
Der Oberpolizeikommissar war noch immer fassungslos.
 
„Ja, mir haben Sie die Hand gedrückt“, Holzer lächelte, „aber . . .“ Er stockte.
 
„Aber von mir haben Sie keine Spur erhalten“, sagte, sich selbst ironisierend, der wackere Mann. Dann setzte er hinzu: „Jetzt drücke ich Ihnen freiwillig und bewußt die Hand.“
 
Ludwig Staining gab zwei Stunden vor Holzers definitiver Freilassung vor dem Richter bekannt, daß er das Uhrwerk gestohlen, um daran studieren zu können, daß der alte Werner ihn dabei ertappt habe und daß er deshalb aus dem Diebe aus Leidenschaft ein Raubmörder geworden war.
 
Das seltsame, aufgeregte Gebaren des Unglücklichen ließ schon bei seiner ersten Vernehmung die Vermutung auftauchen, daß man es möglicherweise mit einem  Geistesgestörten zu tun habe.
 
Ob es so war, konnte jedoch niemals ergründet werden, denn noch am selben Tage fand man Ludwig Staining an der Klinge der Gefängnistür erhängt.
 
Rudolf Werner hatte, nachdem er seines Oheims Erbschaft angetreten, Holzer reichlich beschenkt, und Frau Therese, die eine unbegrenzte Achtung vor seinem Intellekt und seinem Gemüt hatte, blieb ihm innig zugetan.
 
Er besucht sie des öfteren, er weiß ja, daß er, der in der Welt Alleinstehende, an ihnen treue Freunde gewonnen hat, und er liebt das Haus, darin er sein Glück gemacht, sein Glück, das mit einem seltsamen Schatten begann. Aber er hat auch noch andere Freunde, zum wenigsten viele Bekannte, die ihn seiner ungewöhnlichen Tüchtigkeit wegen schätzen, und er selbst – nun, er selbst ist, wie paradox es auch klingen mag, der gefürchtetste Feind und der treueste Freund aller Verbrecher.
 
„Eine Akquisition“ nennen ihn seine Vorgesetzten, und er ist stolz darauf – aber noch weit stolzer ist er ob des Bewußtseins, daß er jetzt wieder ein ehrlicher Mensch ist. Holzer ist tatsächlich einer der fähigsten Detektive der Hauptstadt. Nur wissen die wenigsten Menschen, welches denn seine eigentliche Gestalt ist: ob er blond oder dunkelhaarig, ob er dick oder hager ist – ja selbst seine Größe ist niemandem genau bekannt.




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