Geschichten Auguste
Groner
Der
Brief aus dem Jenseits
Der
seltsame Schatten
Der
seltsame Schatten
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„Freilich
bin ich fremd
hier und in ganz Wien fremd; aber ich will hierherziehen, und zwar
gefällt mir
eben diese stille Gasse sehr gut, und da möchte ich Sie beide gleich
fragen,
was das für eine Wohnung ist, die hier nebenan zu vermieten ist.“
„Ja,
in unserer Gasse sind
mehrere Wohnungen angeschlagen“, meinte freundlich der Kellner, der in
dem
wohlgenährten Herrn schon einen künftigen Gast und Trinkgeldspender
sah.
„Die
meine ich, in dem
Hause mit dem Uhrmacherladen.“
„Ach,
das ist unser Haus!“
rief der Mann mit der Schürze, der auch lebendig wurde. „Ja, das ist
eine
hübsche Wohnung, und billig ist die auch. Zwei Zimmer und Küche . . .“
„Und
wieviel Miete?“
unterbrach ihn Holzer.
„Das
weiß ich nicht genau.“
„Ah,
ich dachte, Sie seien
der Hausherr.“
Der
Alte spreizte sich; es
tat ihm sichtlich wohl, daß er einmal, wenn auch nur vorübergehend, für
einen
Hausbesitzer gehalten worden war.
„Nein“,
sagte er, „nein,
der Besitzer bin ich nicht, ich bin nur der Zimmerherr von der
Hausmeisterin.“
„Könnte
ich die Wohnung
sehen?“
„O
freilich. Ich werd’ mir
gleich selber die Ehr’ geb’n.“
Damit
erhob er sich voll
Eifer, aber Holzer meinte, daß er keine so gar große Eile habe, er
möchte
überhaupt ehe er in ein Haus ziehe, wissen, was für Leute die da schon
wohnenden Parteien seien.
„Na,
da werden Sie
zufrieden sein“, entgegnete der Alte. Es wohnt jetzt niemand da als der
Hausherr, der Uhrmacher und die Hausmeisterin mit ihrer Tochter. Sie
wären
außerm Herrn Staining die einzige Partei.“
„Und
wie ist dieser Herr
Staining?“
„Na,
ein zuwiderer Mensch
ist er schon, aber er läßt sich ja fast niemals außerhalb seiner
Wohnung und
seines Ladens blicken.“
„Nur
zu uns kommt er
täglich einmal. Zu Mittag oder abends, aber auch nur auf eine
Viertelstunde“,
fügte der Kellner hinzu.
„Staining
– Staining, der
Name kommt mir so bekannt vor“, warf jetzt Holzer, anscheinend
grübelnd, hin.
„Ist er nicht aus O. gebürtig?“
„Schon
möglich. Seine Frau
hat einmal so etwas dergleichen geredet.“
„Und
mir scheint, ich hab
ihn im Oktober erst in O. gesehen. Er ist ein großer, kränklich
aussehender
Mensch.“
„Das
ist er. Und es ist
schon möglich, daß er damals in O. war. Am neunten Oktober, an meinem
Namenstag, ist er zu Mittag weggereist. Er ist aber am nächsten Tag um
zehn Uhr
vormittags schon wieder zu Hause gewesen.“
„Wieso
wissen Sie denn das
so genau?“ fragte Holzer äußerlich lächelnd, innerlich aufs höchste
gespannt.
„Weil
ich ihm gleich ein
Heftpflaster habe holen müssen, und da ist eben die Kathi von der
Hausmeisterin
aus der Segenmesse gekommen.“
„Er
ist also am neunten
Oktober gegen Mittag wieder hier eingetroffen. – Hat er Gepäck bei sich
gehabt?“
„Eine
kleine Reisetasche.“
„Wo
war er denn verletzt?“
„An
der rechten Hand.“
„War
die Wunde groß?“
„O
nein, es hat ausgesehen,
als ob ihn einer gekratzt hätte.“
Die
harmlose Unterredung
der Männer war unmerklich zum Verhör geworden. Holzer leitete sie, ehe
das noch
auffällig wurde, wieder in ihre früheren Grenzen zurück.
„Der
Herr Staining ist also
gerade kein angenehmer Nachbar.“
„Nein,
Aber er tut auch
niemandem etwas.“
Josef
Holzer hatte darüber
andere Ansichten, aber er widersprach nicht.
„Leidet
er denn noch immer
an Krämpfen?“
„Sie
wissen das?“
„Ich
setze voraus, daß er
derselbe Staining ist, den ich flüchtig von O. her kenne.“
„Ja,
meinte nun der
ältliche Mann, „er ist durch und durch krank, das macht ihn wohl auch
so
menschenscheu.“
„Kann
er denn da allein
Leben? Braucht er denn keine Pflege?“
„Er
will niemanden um sich
haben, seit sich seine Frau von ihm getrennt hat.“
„Was
tut er denn den ganzen
Tag?“
Der
Alte fuhr sich durch
die Haare, er wußte offenbar nicht, was Staining den ganzen Tag tat.
„Er
studiert und erfindet
etwas“, sagte er endlich.
„Was
erfindet er denn?“
„Ich
glaube, er studiert
darüber, eine Uhr zu machen, die alles zeigt.“ Weiteres war aus dem
braven Mann
nicht herauszubringen; er war sich nicht ganz klar darüber, was
Stainings zu
erfindende Uhr alles zeigen sollte.
Josef
Holzer wußte nun auch
genug. Er bezahlte für sich und für den Alten und gab dem Kellner
überdies ein
reichliches Trinkgeld. Dann erhob er sich und fragte: „Ist Herr
Staining zu
Hause?“
Der
Alte bejahte, Holzer
ging. Er sprach noch einige Worte zu dem Alten. Eine Minute später
stand er in
dem Laden des Uhrmachers. Ein dünnstimmiges Glöcklein kündigte sein
Kommen an,
der Laden war leer, fast im buchstäblichen Sinne des Wortes leer; denn
in dem
kleinen Auslagekasten, welcher hinter dem Verkaufstisch stand, befanden
sich,
wie draußen, nur wenige Uhren.
Ein
kleiner Werktisch, mit
ungebrauchten Instrumenten und mit Staub bedeckt, ein Sessel, ein
verwetzter
Spiegel, das war alles, was man hier sehen konnte. Und jetzt, jetzt
ließ sich
ein schlurfender Tritt hören. Die Tür zur Wohnung des Uhrmachers
öffnete sich.
Ludwig Staining stand auf der Schwelle.
Er
war ein langer, magerer
Mensch von etwa dreißig Jahren. Er sah gelb und welk aus, und nichts
von Jugend
oder Jugendlichkeit zeigte sich in seinen müden Bewegungen, in seinem
fahlen,
fortwährend zuckenden Antlitz. Das Häßlichste, nervöse Leute hätten
gesagt:
„das Entsetzlichste“ in seinem trotz aller Unruhe starren Gesicht waren
die
Augen; diese Augen mit dem blaugrauen Schein, mit dem gläsernen Blick
eines
Toten.
„Seine
Frau hat es nicht
mehr ausgehalten neben ihm.“ So etwa hatte Herr Ackermann gesagt.
Holzer
begriff das nach dem ersten Blick, den er auf
Staining geworfen. Holzer hatte einmal von Vampiren gelesen; er meinte
jetzt,
solch einen vor sich zu haben.
„Was
wollen Sie?“ fragte
Staining kurz, fast grob. Er hatte eine kleine Feile in der Hand – er
war offenbar
in einer Arbeit gestört worden. Er trug die Feile in der rechten Hand,
deren
Rücken zufällig hell beleuchtet war.
Holzer
sah vier blaßrote
Linien auf diesem gelblichen, sehnigen Handrücken. Es konnten die
Spuren von
Fingernägeln sein, die in wilder Abwehr diese Hand gestreift hatten.
„Ich
habe gehört, daß Sie
sich sehr gut darauf verständen, Uhren zu reparieren“, begann Holzer.
Staining
sah verdrießlich
aus.
„Es
ist eine uralte
Spindeluhr, französische Arbeit, ein Erbstück, das ich instand gesetzt
haben
möchte“, beeilte sich Holzer hinzuzusetzen, und da wurde Staining
aufmerksam.
„Haben
Sie die Uhr hier?“
Wie
seine Augen zu glimmen
begannen! Wie lebhaft er nun plötzlich war!
„Nein.
Ich müßte sie Ihnen
erst bringen. Aber wer garantiert mir dafür, daß Sie das seltene Werk
auch
richtig behandeln werden. Haben Sie denn derlei schon unter den Händen
gehabt?“
Staining
lächelte
hochmütig.
„Kommen
Sie!“ sagte er kurz
und trat in das Zimmer zurück. Holzer folgte ihm. Er folgte ihm sogar
sehr
rasch und konnte eben noch sehen, daß Staining plötzlich zögerte, um
dann rasch
einige Schritte nach einer alten Kommode hin zu tun, auf welcher
allerlei
Gerümpel stand und lag.
Einen
Augenblick lang
blitzte es unter all dem, was darauf zu sehen war, vor Holzers Augen
auf: wie
Gold? Wie Messing? – Eines war sicher, ein längliches Ding mit
allerlei Türmchen und Spitzen war es, darauf
jetzt ein buntes Sacktusch lag, das Staining darübergeworfen.
Holzers
Herz klopfte
stürmisch. Dieses freundliche Hinterzimmer barg, er war jetzt schon
fest davon
überzeugt, die geheimnisvolle Ursache des Mordes zu O.
„Sehen
Sie nun, daß ich
wohl fähig bin, jedes Uhrwerk zu erkennen, also auch zu reparieren“,
sagte
Staining. Holzer nickte und besichtigte mit gutgespieltem Interesse den
Inhalt
der schmalen, flachen Lade, welche Staining ein wenig hastig aus einem
Schränkchen gezogen hatte. Es waren an zwanzig Taschenuhren von den
verschiedensten Größen und Formen, aber alle altertümlich, und jede von
ihnen
mußte eine Geschichte haben, denn unter jeder lag ein Zettel, darauf
mit enger,
winziger Schrift vieles verzeichnet war.
„Das
ist eine wertvolle
Sammlung“, beteuerte mit stolzem, ja glücklichem Lächeln ihr Besitzer,
„und ich
habe sie wahrlich nicht allein deshalb mit schweren Opfern erworben, um
sie zu
besitzen. Sie können mir Ihre Uhr ohne Sorge anvertrauen.“
„Das
werde ich auch“,
entgegnete Holzer, sich zu dem Tisch wendend, den Staining sicherlich
eben
vorher erst verlassen, denn er hatte auf ihm die Feile niedergelegt,
als sie
hereingekommen waren. „Sie sind ja schier ein Gelehrter!“ sagte Holzer
in
bewunderungsvollem Tone. „Sind das lauter Werke über die
Uhrmacherkunst?“
Er
zeigte bei diesen Worten
auf die Stöße Bücher, welche auf und neben dem Tisch lagen.
Staining
fühlte sich
geschmeichelt und fing über seine Kunst zu reden an, schwülstig,
erregt, unklar
– kurz, wie einer, der über einer Liebhaberei, die zur alles
verzehrenden
Leidenschaft geworden, ein wenig überschnappte.
Und
während er deklamierte
und von Erfindungen, die er zu machen gedachte, faselte – beugte sich
Holzer,
scheinbar ihm zuhörend, in Wahrheit keines seiner Worte beachtend, über
einen
alten Folianten, welcher aufgeschlagen auf dem Tisch lag und auf
welchem, um
die Seiten niederzuhalten, eine kleine, schwere Platte lag.
Die
eine der
aufgeschlagenen Seiten des Buches zeigte eine gewaltige große
Überschrift und
ein Porträt, das einen alten Mann in der Tracht einer vergangenen Zeit
vorstellte, und darunter stand in verschnörkelter Schrift: Peter Hele.
Mehr
las Holzer nicht,
seine Augen hingen wie gebannt auf der runden Messingplatte, welche als
Beschwerer auf dem Buch lag.
Es
war eine Art
Zifferblatt, und an ihrem Rande befanden sich die zwölf Gestalten des
Tierkreises; sie waren in Elfenbein ausgelegt.
Alles
Blut drang Holzer zu
Kopf. Er erhob sich und strich mit der Hand über sein glühendes
Gesicht.
„Sie
sehen, ich darf mich
gar nicht bücken“, sagte er ärgerlich lächelnd zu dem Uhrmacher.
Und
da lächelte auch
dieser.
„Ja,
bei solcher Fülle!“
sagte er.
Holzer
griff nach seinem
Hut.
„Sie
bringen mir doch die
Uhr? Sie kommen doch wieder?“ fragte Staining fast gierig.
„Gewiß
komme ich wieder“,
ward ihm erwidert, und dann ging Holzer.
Er
ging direkt zur Bahn.
Der Mittagszug mußte bald abgehen. Im Bahnhof angekommen, sah Holzer im
Verzeichnis der Züge nach. Es zeigte sich, daß Staining damals nur
einen der
zwei Nachtzüge benutzt haben konnte, die zwischen O. und Wien
verkehrten. Den
Kurierzug, welcher gegen zehn Uhr nachts O. passierte, oder den
Postzug,
welcher um zwei Uhr nachts von O. abging.
„Jetzt
handelt es sich nur
noch um die Stunde, in welcher der Mord begangen wurde“, sagte Holzer
zu sich.
Das
dritte Läuten erscholl.
Der ehemalige Sträfling stieg mit großer Ruhe ein. Zwei Stunden später
verließ
er den Zug in der letzten Station vor O., aß daselbst mit großem
Appetit und
schlenderte dann gemächlich seinem Ziel zu. Er betrat lange nicht mehr
so
vorsichtig wie bei seinem ersten Besuch des Wernerschen Hauses, sonst
hätte er
den Vertrauensmann des Gefangenhaus-Aufsehers gewahren müssen, der
schon seit
Eintritt der Dunkelheit sich in demselben Hausportal verborgen hielt,
hinter welchem
er am Abend zuvor Deckung gefunden.
Kaum
war Holzer in den
Wernerschen Garten eingelassen worden, und kaum war er mit Frau Therese
im
Hause verschwunden, so eilte der Lauscher beflügelten Schrittes der
Stadt zu.
Und
bald drauf, wir wissen
es ja schon, wurde Herr Schmid – als Josef Holzer – gefangengenommen.
Zwölf
Stunden später trat
Peter Klaus in die Zelle, darin schon mancher Untersuchungsgefangene
seiner
Vernehmung mit Angst entgegengesehen hatte.
Wie
gestern grüße er Holzer
voll Respekt.
„Nun?“
fragte dieser.
Er
lag, halb ausgekleidet,
sichtlich eben erst erwacht, auf der Pritsche.
„Ich
soll Sie zum Herrn
Oberkommissar führen.“
Holzer
erhob sich und
begann seine Toilette.
Peter
Klaus machte sich,
beinahe mit der Dienstwilligkeit eines Kammerdieners, um ihn zu
schaffen.
Er
war sehr verlegen und –
sehr neugierig.
„Wie
– wie sind Sie denn
auf die Idee gekommen?“ platzte er endlich heraus.
„Auf
welche Idee?“
„Geheimpolizistendienst
zu
tun.“
„Ich
wollte nicht an den
Galgen kommen.“
„Sie
sind ja unschuldig!“
„Ja.
Aber wer hätte es mir
geglaubt! Sie nicht und kein anderer.“
„Ihr
Alibi . . .“
„Ich
schlief in jener Nacht
friedlich im Mühlgraben; aber ich habe keinen Zeugen dafür.“
„Ja
freilich, und Ihr
Racheschwur . . .“
„Den
Sie ausplauderten . .
.“
„Es
ist schrecklich, wie
leicht einer in die Tinte . . .“
„
. .
. und an den Galgen
kommen kann.“
„Sind
Sie sehr böse auf
mich?“
„Gar
nicht. Sie haben Ihre
Pflicht getan. Aber weniger schlecht sollten Sie doch von den Menschen
denken.“
„Von
den Menschen – ja,
aber . . .“
„Auch
Sträflinge sind
Menschen, Menschen, die sich zuweilen mit aller Gewalt bessern wollen,
aber man
stößt sie mit aller Gewalt zum Verbrechen zurück.“
„Bei
Gott“ Es ist so. Und
ich – ich habe viel dazu beigetragen, so manchen von denen, die ich
unter mir
hatte, noch mehr zu verbittern, zu verhärten.“
„Tut’s
Ihnen leid?“
„Es
tut mir leid.“
„Dann
ist’s ja recht, denn
Sie sind kein Mann der Worte, Sie sind ein Mann der Tat.“
„Es
denken eben fast alle
so wie ich“, meinte zu seiner Entschuldigung Peter Klaus.
Holzer
lächelte bitter:
„Fast alle? – Oh, sagen Sie frischweg: alle. In drei Wochen habe ich
sieben
Herren gehabt. Jeder hat mich fortgeschickt. Nicht, weil ich schlechter
oder
weniger arbeitete als die anderen. O nein! Es hat mir keiner etwas
anderes
nachsagen können, als daß ich ein entlassener Sträfling sei. Und der
letzte,
der hat mich gar mit den Hunden aus dem Hause gehetzt. Das war in jener
Nacht.
Damals hat wohl nicht viel gefehlt, und ich hätte den Nächstbesten
getötet –
denn alle, alle waren ja meine Feinde. Denn keiner wollte es mir
möglich
machen, ein ehrlicher Mensch zu bleiben.“
„Jetzt
aber – ah -, das
will Ihnen der Herr Oberpolizeikommissar sagen.“ Der Alte schien
verlegen.
Holzer
sah Peter Klaus, den
er heute zum erstenmal als gemütlichen Menschen kennenlernte, nicht
sehr
verwundert an; er lächelte nur froh und atmete tief auf; er konnte
sich’s ja
beiläufig denken, was ihm der Oberpolizeikommissar zu sagen hatte.
„Kommen
Sie. Ich bin
fertig“, sagte er.
Sie
gingen. Ihm freundlich
zuwinkend, erwiderte der streng aussehende alte Herr Josef Holzers
tiefe
Verbeugung.
Klaus
zog sich zurück.
Die
beiden waren allein.
„Alle
Ihre Angaben haben
sich als wahr erwiesen, und daher tut es mir leid, daß Sie diese paar
Stunden
noch Gefangener waren.“
„Oh
–
bitte!“
„Setzen
Sie sich doch,
lieber Holzer“, fuhr der alte Herr fort. In diesem Augenblick färbte
sich des
einstigen Sträflings Gesicht dunkelrot.
Ein
unsägliches
Glückgsgefühl überkam ihn – es war ihm, als sei eine Bergelast von
seiner Seele
genommen, als seien erst jetzt die Ketten, die er dereinst getragen,
gesprengt
worden.
„Vor
allem anderen habe ich
Ihnen zu sagen, daß ich ermächtigt, ja aufgefordert bin, Sie als
Geheimpolizisten für unsere Residenzstadt aufzunehmen. Sind Sie damit
zufrieden?“
„Es
ist ja . . .“ Holzer
wollte sagen: Es ist ja der einzige Lebensweg, der mir bleibt, aber er
vollendete den begonnenen Satz anders: „s ist ja das größte Glück für
mich“,
sagte er freudig.
„Und
dann hätte ich eine private
Frage an Sie“, fuhr zögernd und angelegentlich in seinen Akten
blätternd der
alte Herr fort. „Was hat Sie zuerst auf die Vermutung gebracht, daß der
Mörder
durch das Fenster des Arbeitszimmers gekommen ist?“
„Der
Schatten, den die Frau
durchs Schlüsselloch gesehen, welcher Umstand ihr erst einfiel, als ich
sie
ausfragte. Ich wußte da sofort, daß die Lampe ihn geworfen haben mußte,
die der
Täter bewegte, als er bei seiner Flucht den Fensterladen unvorsichtig
zuzog.“
Der
Oberpolizeikommissar nickte
gedankenvoll, und nach einer Weile stellte er noch eine Frage.
„Wo
–
wo haben Sie sich
denn eigentlich vom zehnten Oktober bis gestern aufgehalten?“
Der
alte, gewiegte
Polizeibeamte errötete bei dieser Frage.
Und
Holzer? Nun, Holzer
konnte diesmal ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken.
„Ich
habe in dem
verlassenen Gärtnerhaus gewohnt, welches sich neben dem Wernerschen
Besitz in
einem Garten befindet“, sagte er achtungsvoll.
„Derselbe
Garten hat dazu
gedient, Sie zu beobachten“, meinte verlegen der alte Herr.
„Ich
weiß es, Klaus und
andere haben viele Stunden darin verbracht.“
„Und
wo verproviantierten
Sie sich?“
„Ich
. . . Herr
Polizeikommissar, Sie verzeihen schon, ich aß zu Mittag und Abend neben
Ihnen –
im >Goldenen Lamm<“.
Der
alte Herr war
aufgesprungen.
„Sie
– Sie waren der
fremde, große Herr, der sich für einen Pensionisten ausgab, welcher
sich hier
ankaufen wolle?“ rief er und wich vor Staunen einen Schritt zurück.
Auch
Holzer hatte sich
erhoben.
„Der
war ich. Ich mußte
doch womöglich jedes Wort auffangen, das mir zu einer Spur des Mörders
verhelfen konnte. Es handelte sich um mein Leben, um meine Freiheit.“
„Ihnen
also, den man in der
ganzen Stadt, in der ganzen Umgebung suchte, habe ich täglich die Hand
gedrückt!“
Der
Oberpolizeikommissar
war noch immer fassungslos.
„Ja,
mir haben Sie die Hand
gedrückt“, Holzer lächelte, „aber . . .“ Er stockte.
„Aber
von mir haben Sie
keine Spur erhalten“, sagte, sich selbst ironisierend, der wackere
Mann. Dann
setzte er hinzu: „Jetzt drücke ich Ihnen freiwillig und bewußt die
Hand.“
Ludwig
Staining gab zwei
Stunden vor Holzers definitiver Freilassung vor dem Richter bekannt,
daß er das
Uhrwerk gestohlen, um daran studieren zu können, daß der alte Werner
ihn dabei
ertappt habe und daß er deshalb aus dem Diebe aus Leidenschaft ein
Raubmörder
geworden war.
Das
seltsame, aufgeregte
Gebaren des Unglücklichen ließ schon bei seiner ersten Vernehmung die
Vermutung
auftauchen, daß man es möglicherweise mit einem
Geistesgestörten zu tun habe.
Ob
es
so war, konnte jedoch
niemals ergründet werden, denn noch am selben Tage fand man Ludwig
Staining an
der Klinge der Gefängnistür erhängt.
Rudolf
Werner hatte,
nachdem er seines Oheims Erbschaft angetreten, Holzer reichlich
beschenkt, und
Frau Therese, die eine unbegrenzte Achtung vor seinem Intellekt und
seinem
Gemüt hatte, blieb ihm innig zugetan.
Er
besucht sie des öfteren,
er weiß ja, daß er, der in der Welt Alleinstehende, an ihnen treue
Freunde
gewonnen hat, und er liebt das Haus, darin er sein Glück gemacht, sein
Glück,
das mit einem seltsamen Schatten begann. Aber er hat auch noch andere
Freunde,
zum wenigsten viele Bekannte, die ihn seiner ungewöhnlichen Tüchtigkeit
wegen
schätzen, und er selbst – nun, er selbst ist, wie paradox es auch
klingen mag,
der gefürchtetste Feind und der treueste Freund aller Verbrecher.
„Eine
Akquisition“ nennen
ihn seine Vorgesetzten, und er ist stolz darauf – aber noch weit
stolzer ist er
ob des Bewußtseins, daß er jetzt wieder ein ehrlicher Mensch ist.
Holzer ist
tatsächlich einer der fähigsten Detektive der Hauptstadt. Nur wissen
die
wenigsten Menschen, welches denn seine eigentliche Gestalt ist: ob er
blond
oder dunkelhaarig, ob er dick oder hager ist – ja selbst seine Größe
ist
niemandem genau bekannt.
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