Der
Seufzer Welt bist du dumm
Wer
als Gast der Stadt G. in die Petersilienstraße einbog, musste denken,
dass man
in dem Eckhause mit der ionischen Säulenhalle wohl dem Traum einer
freien,
frohen, kühlen Kultur nachstrebte; aber noch ehe er diesen Gedanken
recht
gewahr wurde, lächelte er schon, denn auf dem Giebel über dem Hause
stand
geschrieben: Katholisches Hospital. Und zwischen den beiden
Eingangssäulen
saßen zwei verschrumpfte Weiberlein, klein wie Kinder, stumm wie
Puppen, vor
Alter zitternd. Das war die Schikkirsche und die Schichoretzken, beide
82 Jahre
alt. Die eine hielt einen sehr langen schwarzen Stab, an dessen Ende
ein
abgeschabtes Ledersäckchen nach Gaben aufgesperrt war: den Grund des
Beutels
zogen Uniformknöpfe straff, die geschehene Mildtätigkeit vorheucheln
und zu
neuer Barmherzigkeit anreizen sollten. Die beiden Frauen waren die
ärmsten im
Haus und sträubten sich nie, draußen auf Spenden zu lauern. Sie
lauerten sacht,
und die Sonne spiegelte sich schon viele viele Sommer hindurch im
gelben,
fleckigen Leder ihrer mageren Hände wie in Tompak. Manchmal sahen sie
müde nach
einem Auflauf hinüber, der sich um einen Trunkenen oder Tausendsassa
gebildet
hatte, wackelten mit ihren Kiefern und seufzten. Die Schichoretzken
stieß den
Seufzer Weltbistduscheel aus, die Schikirrsche den Seufzer
Weltbistdudumm. Alle
vier Wochen etwa wurde eine Münze in den Beutel gesteckt, und dies
wirkte auf
die Frauen wie auf einen Musikautomaten. Sie begannen nach dem langen
Schweigen
ihre Zunge zu rühren und erzählten: die Schichoretzken allerhand kleine
Anekdoten, wie mißgünstig doch das Leben sei, die andere kaum je etwas
anderes
als ihre Liebesgeschichte. Wenn sie zu Ende waren, hielten beide ihren
leeren
Mund noch eine Weile andächtig offen, und heraus fuhr schließlich bei
der
Schikirrsche der Seufzer Weltbistdudumm, bei der Schichoretzken der
Seufzer
Weltbistduscheel. Winters blieben sie in der Stube, und solange hielten
die
Erinnerungen den Winterschlaft.
Einmal,
als es lenzte und die beiden wieder aus dem Gehäus gekrochen waren,
nahm die
Schikirrsche wider aller Ordnung erregt das Wort. Der Kirchhof drüben
war ein
Hafen von Fliederblüten. Auf jedem Baume lag es wie ein lila Laken. Ein
Leichenzug, mit allem Pomp der katholischen Kirche ausgeschmückt, war
um die
Ecke gebogen, den Kriegerverein im Gefolge. Aus seinen Reihen hatte
sich ein
schlanker, weißbärtiger Mann mit eisernem Kreuz auf der Brust gelöst
und war an
das Spital getreten, um eine Münze in den Lederbeutel zu werfen. Die
Schikirrsche hatte ihn genau angesehen, gedankt, und als er kaum wieder
in
seine Reihe getreten war, rief sie:
„Schichoretzken,
das war er, der Hund!“
„Aber
Schikirrsche! – er trägt doch das Eiserne Kreuz!“
„Man
soll auf das Kreuz Christi sehen.“ Sie seufzte: Weltbistdudumm! „Sehen
Sie,
solch ein Begräbnis wird der nicht kriegen. Ich werd es kriegen! Für
mein
Begräbnis mit Messe, Fahnen, Weihrauch und Kerzen hab‘ ich von Kind auf
gesorgt; wer ehrlich strebt, erreicht auch was, und wenn er noch so
sehr
verachtet wird. Die Leute haben mich von klein an nicht leiden mögen.
Sehen Sie,
der Mausfleck.“ Ueber ihrem rechten Triefauge breitete sich ein
hühnergroßes,
behaartes, braunes Mal aus. „Sie sagten immer, das hab ich, weil ich so
dumm
bin, aber ich weiß es besser: als ich ganz klein war, ist mir der
Rattenkönig
begegnet, und davon hab ich’s. Ich dumm: - als noch keiner von meinen
Bekannten
daran dachte, hab ich überlegt, wie ich schön in den Himmel fahre.
Ich
fing an zu überlegen, als meine Mutter starb und so notdürftig und
häßlich
begraben werden musste, in meinem 13. Lebensjahr. Glauben Sie mir,
Schichoretzken, ich bin mit vielen Menschen zusammengekommen; sie haben
alle
nicht gewußt, was sie wollten. Erst die Bälge, mit denen ich spielte.
Arm waren
wir ja durchweg und mußten bei den reichen Bauern die Schweine hüten.
Sehen Sie,
da waren viele Abhänge und da blühte der Weißdorn. Die anderen Rangen
haben
gejohlt und getanzt, sie haben Weißbuschzweige gepflückt und sich
Kronen und
Kränze auf die Haare gesetzt wie die Pfingstochsen. Ich habe die Dornen
in die
Schürze gebrochen und rings bei den Bauern als Wurststückel angeboten.
Das kam
den Bäuerinnen bequem und sie gaben mir gern eine jede zwei Pfennige.
Das
langte zusammen schon für die Nägel zum Sarge. Zwar nahmen die
Schweine, die
ich zu hüten hatte, die Zägel in die Höh‘ und liefen quer über Stoppeln
und
Wicken, und ich wurde aus dem Dienst gejagt; - aber es langte schon für
die
Nägel.
Ich
habe es zurückgelegt, und die anderen Mädchen hatten noch garnichts.
Und was
ist jetzt aus ihnen geworden? Sie wohnen ja noch in der Nähe und wir
sehen sie
vorbeikommen zum Wochenmarkt mit gerupften Hühnern und Kohl, - und
womit noch?
– Mit Mann und Kind! Nun sitzen sie auf dem Eigenen in nichts als Sorg‘
und
Müh‘, und haben noch heute nicht übrig, was ich damals schon übrig
hatte, ja.
Ich
kam also in anderen Dienst und hab weitergespart und hatte bald
zum
Brett und bald auch zum Kissen, und wär
ich gestorben, hätte ich weich und fein und ohne Stuckern ausfahren
können. Dies
freute mich und spornte mich an. So gingen alle meine Gedanken recht
gierig auf
die goldgestickten Kirchenfahnen und die lieben glatten süßen Priester
aus.
Na,
aber da kam der mit dem Eisernen Kreuz. Er hatte es schon damals, anno
13 haben
sie es ihm angemacht. Die Stecknadel ist ihm noch in die Haut gegangen,
und er
hat nicht mit dem kleinen Finger gewackelt. Er war zehn Jahre jünger
als ich,
aber wie er frisch aus dem Kriege ritt, hat er mich gleich geküßt und
gefragt,
ob ich ihn wollte. Ich mochte ihn gut leiden und sagte bloß, daß ich
arm sei
und wozu ich durchaus sparen müßte. Er stellte sich breitbeinig hin und
gab
Antwort: „Was, Alwine? Dein ganzes junges Leben und dein Blut und deine
Kraft
gibst du weg, daß sie dir nach dem Tode einen Spuck vormachen?“ Ich
hatte vor
dem gottlosen Menschen eine heiße Angst, aber meine Augen waren wie
angeklebt
an sein Gesicht, und ich mußte laut loslachen. Das Lachen weiß ich
noch, als
wäre es heute. Und er legte die Arme über
kreuz und redete weiter: „Alwine,“ sagte
er, „wenn du jetzt tot wärst und begraben würdest, dann holte ich meine
Sporenstiefel aus dem Kasten, die im Krieg bis über den Absatz ins Blut
getreten haben. Die stampfen schon was herunter, glaub mir das, Alwine.
In
denen ging‘ ich auf dein Begräbnis und sagte: Halt, ihr Herren, ihr
habt mich
um sie betrogen, ihr habt sie verlockt und ausgesogen.“ Die Lichter
wollte er
mir auspusten, die Fahnen zerreißen, den Weihrauchkessel den Pfaffen
unter die
Nase schlagen, das Priesterkleid ihnen hochheben, sie selber
durchprügeln und
wegjagen. Der Hund, so hat er geredet, und er hat mich mit dem Eisernen
Kreuz
verblendet und das wahre Kreuz eine Weile vergessen lassen. Der Hund!
Dafür muß
ich ins Fegefeuer.“ Sie seufzte: Weltbistdudumm!
„Ich
mußte beinahe alle Nacht träumen, wie er mein Begräbnis störte, aber im
Traum
schändete er das heilige Amt nicht, sondern umarmte die süßrasierten
Priester
und küßte sie. Ich habe von der Bahre schief zugesehen und ihn
beneidet. War
ich wach, konnte ich nicht mehr daran denken, wie ich mein fürs Grab
Erspartes
in die Stadt wegbringen wollte, wühlte im Strumpfe, wo die Taler lagen,
und weinte
dazu. Ich wollte für uns Tisch und Bett und Spind kaufen, aber bloß,
wenn er da
war und zu mir davon sprach. Er lästerte ja nicht mehr, sondern legte
seinen
Arm um mich und erzählte. Das war, als nähme er mich mit in den Krieg
und
schützte mich vor Kugeln wie einer, der mit dem Seibeiuns im Bunde
steht.
Ich
wurde so, als gehst du bald nach Feierabend zu Bett und liegst mit dem
Kopf ein
Weilchen nach unten. Ich glaube, es war sehr schön sogar, - das hab ich
schon
vergessen. Wenn er dann den Pflug zurechtrückte und nach hinten aufs
Feld ging,
wurde mir noch wohler und auch noch mehr angst. Ich mochte, wenn ich
die Kälber
gefüttert hatte, nicht aus dem Stall hervor, weil ich dachte, nun kommt
der
jüngste Tag. Meinen Leichenzug konnte ich mir nicht mehr klar denken
und habe
damals auch keinen Taler zurückgelegt. Als ich wieder Lohn ausgezahlt
bekam,
ging ich hin zu ihm in häßlicher Lust und sagte: „Nimm, wir wollen uns
auf dem
Jahrmarkt treffen und lustig sein.“ Da haben wir viel Bier getrunken
und
Pfefferkuchen dazu gegessen, sind in Buden getreten, wo Riesenschlangen
zu
sehen waren und gestreifte Pferde, sind Karussel gefahren, und ich hab
auf
einem Esel gesessen und er hat auf einem Schwan geritten, und wie die
Musik
angegangen ist auf dem Karussel, hab ich wieder geweint, wurde sofort
schwindlig und habe mich übergeben müssen. – Sonst im Dorf haben wir
uns alle
Tage beim Fleischer heimlich Wurst gekauft, ich hab ihm Pantoffeln,
Hosenträger
und Mütze geschenkt, er mir Schürzen und bunte Tücher. Schließlich hab
ich aus
dem heiligen Sparstrumpf zwei Taler genommen und verlüdert und war die
ganze
Woche, als wenn Wölfe hinter mir bellten und immer in den Rock beißen
wollten.
Sobald ich das Geld zum Begräbnis angebrochen hatte, - und daran ist er
schuld,
der Hund! – da sah ich mein Begräbnis mit einmal wieder, in noch
größerer
Pracht und klarer als so lange, schrie vor Angst und Verzweiflung und
lag einen
Tag krank.
Am
nächsten Tage mußte ich trotz meines Unwohlseins aufstehen, weil auf
dem Gute,
wo ich diente, ein Fest gefeiert wurde. Es war in der Erntezeit und
kein Mensch
zu Hause außer mir. Ich hatte den Kasten mit dem Silberzeug in die
Küche
herausbekommen, sollte es für den Abend sauber abwischen und
bereitlegen. Wie
ich all das blanke Geschirr um mich liegen hatte und in den Reichtum
hineinsah,
wurde das Herz mir noch viel schwerer, Ich wußte nun keinen Schritt
weiter. Der
Kerl hatte schon wochenlang gesagt: „Ach, laß uns Schluß machen“ Ich
wollte
einen frohen Schatz und du wirst mir alle Tage weinerlicher. Ich will
fortziehen und eine andere Knechtschaft suchen.“ Ich hatte dann immer
nein
gesagt. Ich nahm mir jetzt vor, das nächst Mal zu anworten: „Ja, wir
wollen
Schluß machen!“ Während ich so hin und her schwankte und den Hauch von
den
Messern wischte, kamen zwei braune Zigeunerweiber in die Küche. Sie
erbettelten
sich Eier, Speck und Butter und wollten mir zum Dank die Zukunft
voraussagen.
Die eine meinte, ich sehe traurig; alle Traurigkeit wende sich, auch
die meine
werde aufhören, es frage sich bloß wann.
Aber sie wollte mir sagen wann. Dazu müßte sie wissen, wie es klingt,
wie es
von weither aus dem Dunkeln schallt, so sagte sie. Unten in einem
Küchenschrank
stand ein blitzgelber Messingkessel, tief genug, daß mein Arm beim
Reinigen den
Strohwisch bloß gerade noch am Boden hinscheuern konnte. Ich war bange
und
schwach. Sie konnten alles mit mir machen, was sie wollten, sie sollten
mich
meinetwegen schlachten und mir das Herz ausweiden. Die eine Zigeunerin
tat sehr
gerührt und streichelte meine Backen. Dann holte sie den Kessel,
stülpte ihn
mir über den Kopf und fragte, ob es auch ganz dunkel sei. „Ja“
antwortete ich.
Nun klopfte sie mit den Knöcheln rechts und links, vorn und hinten an
den
Kessel, sang, leierte, tröstete, warnte, drohte. Es war eine heidnische
Litanei
und eine schwere Versuchung Gottes. Ich fing an zu taumeln, dachte
hinzustürzen
und totzubleiben und fing an zu beten, was ich konnte: nun wollte ich
wieder
sparen und fromm sein. Endlich schlug die Zigeunerin grob oben auf den
Kessel,
daß ich fast einknickte und sagte, ich sollte still sein, bis die Uhr
schlüge, und achtgeben, was ich bis dahin hören würde.
Es blieb still. Ich wollte fragen, aber da die Zigeunerin auch so
beklommen
schwieg, hielt ich an mich. Dann kam die Madame, lachte mich aus und
schimpfte
sehr. Die Zigeunerinnen waren weg und hatten das ganze Silberzeug
gestohlen.
Was kann ich dafür? Das Gesinde hat mich abends ausgelacht und
ausgespottet,
obwohl ich schon so mein Teil hatte. Am meisten lachte der Kerl mit dem
Eisernen Kreuze. „Alwine, heut ist aber wirklich Schluß!“ brüllte er,
du bist
verrückt, du bist ganz verrückt!‘ Und er tat noch, als schämte er sich
meiner.
Schichoretzken, die haben von mir nicht soviel gewußt wie der Ketzer
Luther von
unserm Herrn. Seine Worte taten mir zuerst weh wie Zahnausziehen, aber
dann war
ich wieder so wie damals, als ich von ihm noch nicht die Nasenspitze
gesehen hatte.
Ich
habe ihn hassen gelernt und bin manches Jahr dabei geblieben. Einen
Teil des
Silberwertes muße ich ersetzen, nachher hab ich gespart und das
Prunkbegräbnis
zusammenbekommen. Jetzt liegt das Geld verwahrt in der Kirche und
wartet auf
mich. Mehr zu erwerben – das
Aufnahmegeld fürs Spital abgerechnet – ist mir ja nicht geglückt, weil
ich viel
krank gelegen habe. Immer hat es mich doch getröstet, daß jene Summe
vollgeblieben ist, und nun kann ich in Frieden hier meine Tage zu Ende
gehen
lassen, und wenn es ganz schlimm kommt, seh ich von fern die hohen
Lichter aufgehn
und die goldenen Fahnen samt aller Herrlichkeit des Herrn.“ Sie seufzte
den
Seufzer Weltbistdudumm und schwieg mit der Schichoretzken.
Der
Begräbniszug kam zurück und auch der hohe Mann mit dem Eisernen Kreuz
ging
vorbei. Er sah nicht auf, schien vom
schwülen Fliedergeruch müde und betrübt, daß er auch einmal aus dem
Leben
müsse.
Gemach
erblühten die Sterne und der bleiche Himmel erblaute. Alwine, die sich
so
glücklich und ehrlich ins Armenhaus gespart, sah bewegt empor und hob
noch
einmal an zu reden: Da können Sie anfangen, Schichoretzken, die Sterne
zu
zählen und drei Jahre zählen. Der Priester sagt, kein Mensch kann sie
zählen.
Man fängt an und weiß bald nicht, wo man angefangen hat. Aber die
Menschen
zählen ja doch.“ Sie seufzte: Weltbistdudumm!
Dann
standen die 82jährigen Zwerginnen auf, nahmen den Beutel am langen
schwarzen
Stiel, wo ein Nickel zwischen den Soldatenknöpfen lag, hüstelten den
Mond an
und verschwanden in der Doppeltür. –
Die
ionischen Säulen schienen nachts zu noch stolzerer Höhe aufzuwachsen,
frei,
froh und kühn.
oben
weiter
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