Geschichten
Aus dem
Märchenbuch
der Wahrheit
Fritz Mauthner
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Auftakt
Die
dunkle Sehnsucht wollte zu ihrer Schwester, der hellen Wahrheit. Durch
alle Himmel war
die Sehnsucht g eflogen
auf weit
gespreizten Fittichen,
durch alle Meere war sie geschwommen
bei Sturm und
Wetter, durch alle
Spalten der Berge war sie
geschlüpft in Dunkel
und Not; den Tod nicht
scheute die dunkle Sehnsucht um die liebe helle Wahrheit.
Es
kam die heilige lachende Stunde des Glücks. Es leuchtete aus selig
ernsten Augen, es schimmerte
duftend rosig wie
Pfirsichblütenglanz, es
flüsterte wie Engelston von suchenden
Lippen. Die Sehnsucht hatte die
Wahrheit aufgefunden.
Alle
Sprachen der Menschenerde hatte die Sehnsucht geübt, ihre
Schwester zu
grüßen und
zu fragen. Aber
– ach! – die Wahrheit redete anders als
irgendeine Sprache der Erde.
Da
verstummte die dunkle Sehnsucht; s ie nickte traurig und
wollte der
Wahrheit ihr Teuerstes
schenken, ihr
liebstes Kind, den kleinen
Glauben, auf daß die Wahrheit ihn
lehrte und ihn dereinst reich
machte
mit den Rätselworten ihrer gar anderen Sprache.
Eine
Weile trug die Wahrheit den Glauben auf ihrem Arm, wie eine
gemalte
Madonna den
Knaben. Bald aber schüttelte sie
lächelnd das helle Haupt
und reichte das Kind zurück.
Bescheiden zuckte
sie leicht mit den
herrlichen Schultern, als wollte sie sagen:
„Die
arme Wahrheit hat
leere Hände!“
Dann
gab sie dem Knaben, was sie besaß: ihre Märchen von der
Welt; und weil
er sie nicht
verstanden hätte in den
Rätselworten ihrer Sprache, darum
war es ein Märchenbuch
in Bildern.
Ängstlich
nahm der Knabe das Buch; später erst, als er allein laufen
gelernt
hatte und auch schon allein lesen
konnte, da schritt er einsam durch
die Welt neben der dunklen Sehnsucht, und da
erblickte er wieder in der
stillen Natur und im geschäftigen Menschentreiben das Märchenbuch der
Wahrheit
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Die
Warte der Liebe
Die
Liebe wollte unten bleiben, trotzdem es eine wilde Liebe
war. Sie
wollte keinen hohen Standpunkt gewinnen.
Ob
sie aber wollte oder nicht, sie stieg immer höher. Nacheinander begrub
sie, was sie liebte, und einen Wartturm von Gräbern
schüttete sie also
langsam auf. Zu unterst lagen dicht die
kleinen Gräber ihrer
Jugendfreuden, dann kamen nacheinander
immer größer und fester die Gräber
alles dessen, was sie eigen zu
besitzen geglaubt hatte.
Als
der Hügel oder Wartturm so hoch gewachsen war,
daß es einen weiten
Ausblick gab, da stand die wilde Liebe oben, sah
um sich und trauerte.
Ihre Augen waren scharf geworden und grau ihr Haar.
Der
wilde Haß blickte mit kleinem Neid zu ihr empor:
„Das
kann ich auch! So hoch hinauf kann ich auch!“
Und
der wilde Haß bemühte sich, eine ebenso hohe W arte
zu gewinnen. Aber
ewig blieb er unten; denn er hatte nichts Liebes,
daß er es begrübe.
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