Geschichten
Aus dem Märchenbuch
der Wahrheit
Fritz
Mauthner
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Der
Hochzeitstag
Die
Frau Professor weinte leise vor sich hin. Ihr Mann ging mit kleinen
Schritten und schweren Tritten auf und nieder.
„Nun
ja, ich habe das Datum vergessen. Ich sehe aber wirklich keinen Grund
zum Weinen. Denn erstens ist unser Hochzeitstag doch nur für uns
persönlich von Interesse und ist dieserhalb eine Tatsache von ganz
eigenartiger, ich möchte sagen inkohärenter Beschaffenheit. Das Datum
dieses Tages reiht sich begrifflich in keine Wissenschaft ein. Ein Mann
wie ich aber kann sich nur Reihen merken, nicht zufällige Fakta. Ich
kenne das Datum des Erdbebens von Lissabon auch nur wegen der
pessimistischen Literaturbewegung, die ätiologisch daran geknüpft ist.
Und du wirst doch zugeben … Herr Gott, ich kann mir doch keinen Sklaven
halten, der mich täglich mit dem Rufe weckt: „Herr, gedenke deines
Hochzeitstages! Herr, gedenke des Geburtstages deiner Brüder, deiner
Basen, deiner Kollegen!“
Die
Frau weinte leise vor sich hin.
„Zweitens
ist es doch ein reiner Zufall, daß unser Hochzeitstag gerade auf den
heutigen Tag fällt. Es hatte keinen zureichenden Grund, daß es gerade
der 24. Februar war … Herr Gott, ich relativer Esel! Das alte Stück von
Werner wäre ein gutes mnemotechnisches Mittel gewesen! – Zacharias, -
Elias, der Wagen, der uns zur Kirche brachte … also, daß der Tag nach
unserem Kalender gerade der 24. Februar heißt, das ist eine inkohärente
Erscheinung, die man erst seit etwa vier Jahrhunderten beobachtet, und
noch nicht einmal in ganz Europa. In Hellas hätte der Monat ganz anders
geheißen und auch der Tag. In Rom wäre unser Hochzeitstag vor der
Julianischen Berechnung in den Herbst gefallen, nachher in den April.
Im Mittelalter hätte ich dir je nach dem Jahrhundert acht bis vierzehn
Tage später zu gratulieren gehabt, und in dem Gebiete der griechischen
Kirche heute noch im März. Also, was willst du eigentlich?“
Die
Frau weinte leise vor sich hin und sah wie im Traum einen guten Jungen,
der vor Jahren am 24. Februar gegenüber dem Hause ihres Vaters auf und
nieder ging, eine Rose in der Hand, einen stummen Segen auf den Lippen,
und der die Rose zu früh welken ließ in seiner warmen hohlen Hand. Ein
guter, dummer Junge, der im Examen durchgefallen war.
Der
Professor aber setzte sich an den Schreibtisch, um seine Briefe zu
erledigen.
„Du,
Schatz,“ rief er herüber, „was ist doch heute für ein Tag? Ach so,
richtig! Der Hochzeitswagen – Wagen – Elias – Zacharias – der 24.
Februar.“
* *
* *
Das
Genie
Ein
Fremder wollte das Genie besuchen. Er fragte die Arbeit, welche die
Portiersfrau des hohen Hauses war.
„Im
sechsten Stockwerk,“ lautete die Antwort.
Der
Fremde ging langsam hinauf und betrachtete sich dabei die Namen auf den
Türschildern. Eine Treppe hoch wohnte der Luxus, darüber die Eitelkeit,
im dritten Stock der Neid und im vierten die Sorge.
Auf
dem fünften Flur stand mit goldenen Buchstaben auf einem verrosteten
Blechschild zu lesen: „Dr. Wahnsinn.“
Der
Fremde beeilte sich, noch eine Treppe höher zu kommen, und klingelte
beim Genie.
Dr.
Wahnsinn aber öffnete die Tür und sagte lächelnd:
„Wir
wohnen schon lange beieinander, das liebe Genie und ich, und wir
vertragen uns recht gut. An den Werktagen ist es mein Dienstbote.
sonntags aber schmeißt es mich heraus und dient der Menschheit.
Sonntags
nämlich ist es verrückt.“
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