Geschichten
Aus dem Märchenbuch
der Wahrheit
Fritz
Mauthner
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Die
hundertjährige Aloe
Es
war einmal eine Gegend, nicht zu heiß und nicht zu kalt, hübsch in
gemäßigter Lage. Im Sommer wurde das Getreide ziemlich reif, wenn’s
nicht gerade ein schlechter Sommer war, im Herbst flogen die Blätter
eilig von den Bäumen und die Vögel nach dem Süden, im Winter
hatte man gute Kachelöfen und im Frühling gar …
Im
Frühling hatte die Gegend Hochzeit. Überall fast alle Finger breit,
schoß ein grünes Grashälmchen aus dem Boden, und die Bäume, die das
gewohnt waren, bedeckten sich fast mit grünen Blättchen. Nur wenige
Nachtfröste störten das Vergnügen. Die Sonne erhob sich ein hübsches
Stückchen höher und blieb ein Stündchen länger sichtbar. Die Menschen
zündeten keine Kohlen mehr an, und die Jüngeren unter ihnen machten
sogar die Fenster ihrer Häuser auf und lachten, wenn ein Menschlein
anderen Geschlechts vorüber kam. Dann sagte das eine: Du, du!, und das
andere antwortete: Du, du!
Man
nannte das den Lenz oder das Verliebtsein. Das war aber noch gar nichts
gegen das Tütü der Vögel in den Zweigen. Sie waren alle in dieser
Gegend zu Hause, und wenn sie den Winter über anderswo ihrer Nahrung
nachgegangen waren, so kehrten sie jetzt zurück, machten Tütü, bauten
sich Nester nach dem Muster der Kachelöfen und legten zwei bis drei
Eierchen hinein. Einige selbst fünf bis sechs, aber die wurden schon
mißtrauisch betrachtet. Sie seien nicht von der ehrsamen einheimischen
Art.
Das
war das Frühlingsfest der Gegend.
Mitten
in der Gegend, nicht weit von einem alten Gemäuer, lebte eine Aloe.
Beinahe hundert Jahre steckte sie schon da im Sande. Unbewegt von Wind
und Stürmen starrten ihre starken Schwertblätter wie Eisenwaffen in die
Gegend. Unheimlich zeichnete sich ihr Schatten des Abends vom Gemäuer
ab. Kein Grashalm wuchs im Umkreis ihrer Blätter, kein Vögelchen
nistete auf ihrem Haupt, und der gefräßige Esel ging scheu an ihren
Stacheln vorüber.
Und
die Aloe dachte:
„Das
ist keine Sonne. Das ist nur ein Widerspiel des Glanzes, den ich meine.
Das ist eine Spielsonne für Kinder. Mich friert in dieser Kindersonne.
Das ist keine Wiese, das ist Hungergras. Das ist das Hungergras, das
bei uns zu Hause wuchs, vor Jahren, damals, als unsere Sonne zerbrochen
war und der Feind Salz auf die Erde gestreut hatte. Das ist kein
Vogelgesang, das ist kein Vogelgefieder. Entfärbt ist der Flaum, krank
ist der Gesang. Sie frieren wohl alle wie ich. Und das ist keine Liebe,
das Dudu der Menschen. Das ist verhungertes Liebesspiel. Darum sind sie
auch so ängstlich dabei und verstecken sich. Sie frieren alle!“
Die
kalte Nacht brach herein, und die Aloe verlor das Bewußtsein. Mit dem
Tage wachte sie wieder auf. Es war der wärmste Frühlingstag der Gegend,
ein Sommertag. Die Aloe zitterte und dachte:
„Mich
friert. Hundert Jahre in diesem schlechten Sand. Ich wollte, ich wäre
auf meiner Südseeinsel, in meinem warmen, fetten, tiefen, eigenen
Boden. Ich wollte, die Kindersonne ginge für immer unter und die echte
Sonne stiege auf über mir, lotrecht, und sie überschüttete mich mit
ihren schwersten Strahlen. Schwarzglühend, dicht und fest. Wie würd‘
ich baden in der Sonne, baden, auftauen, mich recken und strecken, ihr
entgegenwachsen, gebären. Ja, ich weiß, das könnte ich. Über Nacht
einen Blütenstengel so stark und so hoch, wie drüben der harte
Eichbaum. Einen Baum über Nacht und ihn einhüllen in hunderttausend
Blüten, und duften, duften zu deinem Preis, heilige Sonne, daß die
ganze Gegend sich daran berauschen müßte, An mir allein, an meiner
Blüte sollten sie alle sich berauschen, die armen, hungrigen
Grashälmchen und die grauen, kranken Vögelchen. Und für alle Vögel und
Schmetterlinge schüfe ich Raum auf meinem einen Blütenbaum.
Das
wäre mir ein Glänzen und Jubilieren. Und auch die armen, bleichen
Menschen würde ich zwingen zum Rausch, zum Ringeltanz und Opferschmaus,
und sie eine, eine Frühlingsnacht lang maßlos beglücken mit unserem
allerheiligsten Du, mit der echten Liebe, der heißen Sonnenliebe.“
Im
kommenden Sommer wären die hundert Jahre der Aloe vielleicht um
gewesen. Da kam aber ein Bauer und hob sie mit dem Pfluge aus dem Sand
und warf sie auf den Mist. Sie störte ja mit ihren kalten
Schwertblättern den Frühling der Gegend.
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